15.08.1997

Baskenland

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Baskenland

Von IGNACIO RAMONET

FÜNF Millionen. Fünf Millionen Demonstranten waren es, die am 14. Juli durch die Straßen der spanischen Städte zogen, um ihre Wut über den Mord an einem Sohn aus dem Volk, dem 29jährigen Miguel Ángel Blanco, kundzutun.

Nie zuvor waren in der tragischen Geschichte dieses Landes fünf Millionen Bürger aus politischen Gründen auf die Straße gegangen. Weder 1931, als die Zweite Republik ausgerufen wurde, noch 1978, als die demokratische Verfassung angenommen wurde, und auch nicht 1981, als der Putsch von Oberst Tejero gescheitert war.

Warum nun dieses Mal? Weil dies der achthundertste Mord war, den die Separatistenorganisation ETA („Baskenland und Freiheit“) begangen hat. Und weil dieser Mord den Höhepunkt eines über drei Sätze anschwellenden Crescendos bedeutete und live im Fernsehen übertragen wurde.

Erster Satz. Am 1. Juli wird Cosme Delclaux, der seit 232 Tagen von der ETA als Geisel festgehalten wird, gegen ein Lösegeld von 20 Millionen Mark freigelassen.

Zweiter Satz. Am selben Tag entdeckt die Polizei in einem zwei mal drei Meter großen „Loch“ unter einer Fabrik den Gefängniswärter José Antonio Ortega Lara. Ihn hatte die ETA 532 Tage zuvor entführt, um Druck auf die Regierung auszuüben und die Verlegung der rund 600 gefangenen Mitglieder der Organisation ins Baskenland durchzusetzen. Gegen diese Geiselnahme haben viele Menschen seit eineinhalb Jahren demonstriert. Als das Fernsehen mit allen greulichen Einzelheiten das „Loch“ zeigt, in dem Ortega Lara achtzehn Monate lang eingesperrt war, reagiert die öffentliche Meinung mit nacktem Entsetzen.

Dritter Satz. Am 10. Juli entführt die ETA Miguel Ángel Blanco, Stadtrat in Ermua, und droht mit seiner Hinrichtung, wenn nicht innerhalb von 48 Stunden die Gefangenen der baskischen Unabhängigkeitsbewegung zusammengelegt würden. Den Menschen stehen erneut die Bilder des „Grabes“ von Ortega Lara vor Augen. Die Verzweiflung der Mutter der Geisel, die die Entführer vor laufenden Kameras um Erbarmen anfleht, treibt ganz Spanien auf die Straße. Über 500000 ziehen durch Bilbao, (eine Stadt mit 650000 Einwohnern) und flehen die ETA an, ihre Geisel nicht hinzurichten. Vergebens. Am 12. Juli findet man Miguel Ángel Blanco mit gefesselten Händen und zwei Kugeln im Kopf.

Hätte sich die ETA nicht zu diesem Mord bekannt, hätte man ihn für das Werk ihrer schlimmsten Feinde halten können. Er ist noch weit mehr als ein Verbrechen, nämlich ein enormer politischer Fehler. Und ein Akt von symbolischer Qualität. Denn in der christlichen Vorstellungswelt Spaniens, und zumal im katholischen Baskenland, mußten die Entführung eines unschuldigen Dreißigjährigen – dessen drei Namensteile: Miguel (Michael), Ángel (Engel) und Blanco (weiß) allesamt mit der Vorstellung von Reinheit (Unbeflecktheit) zusammenhängen –, seine ungerechte Verurteilung, seine Qualen, seine Tötung und der Leidensweg seiner Mutter (Mater dolorosa) einfach an Szenen aus der Passionsgeschichte erinnern. Unterstützt durch die vom Fernsehen präsentierte Ikonographie haben die Bürger die Leiden, die Miguel Ángel Blanco zugefügt wurden, in die christliche Symbolik übertragen. Und sie haben kollektiv ihren Abscheu herausgeschrien.

Ein derartiges Verbrechen und ein derartiger Mißgriff zeigen, wie weit die ETA ihre Fähigkeit zur politischen Analyse eingebüßt hat. Und wie sehr sie durch ihre ultranationalistischen und ultralinken Verirrungen in die Nähe von sektenartigen Bewegungen wie Sendero Luminoso oder den Roten Khmer getrieben werden, die im Namen des „Volkes“, des „Marxismus-Leninismus“ und eines mystischen Dogmatismus die Unmenschlichkeit zum Prinzip ihres Handelns erhoben haben.

Dieselbe ETA, die heute von politischer Nekrose befallen ist, war vor dem Ende des Franquismus eine der wenigen Organisationen, die den Schritt zum bewaffneten Kampf gegen die Gewalt der Diktatur riskierten. Das Attentat gegen Admiral Carrero Blanco 1973 hat den Weg in die Demokratie geebnet. Als diese dann wiederhergestellt war – durch die Verfassung von 1978, die unter den „historischen Nationalitäten“ auch die baskische anerkannte und den Staat der autonomen Regionen schuf –, entschloß sich die ETA paradoxerweise, ihren Gewalteinsatz zu verdoppeln. Die Organisation wurde zum Ausdruck für die Verzweiflung einer Region (das „spanische Ruhrgebiet“), in der die Stahlkrise mit voller Wucht durchschlägt und die Jugendarbeitslosigkeit an manchen Orten über 46 Prozent liegt.1 Auch wurde die ETA ihrerseits zum Ziel des schmutzigen Krieges, den die Regierung in Madrid mit Hilfe der Grupos Antiterroristas de Liberación (GAL) gegen sie führte und der 55 ihrer Unabhängigkeitskämpfer das Leben kostete.

DIE ETA ist 1959 aus einer Abspaltung von der baskischen nationalistischen Bewegung hervorgegangen, die 1898 von Sabino Arana gegründet worden war.2 Das Erbe dieser Bewegung vertritt heute die christdemokratische Nationalistische Baskische Partei (PNV), die in der Hauptstadt Vitoria an der Macht ist und den Autonomiestatus mit der Zentralregierung ausgehandelt hat, der zu den weitestgehenden Europas gehört.

Das Baskenland hat heute ein eigenes Parlament, eine eigene Regierung und einen eigenen Präsidenten. Baskisch ist offizielle Landessprache. Die autonome Regierung bestimmt frei über ihre Politik in Sachen Erziehung, Kultur, Wirtschaft, Industrie und so weiter. Sie setzt die Steuern fest und führt nur einen Teil davon nach Madrid ab. Sie verfügt über zwei Fernsehsender und eine eigene Polizei, die Ertzainza, die seit einigen Jahren zur Zielscheibe der ETA geworden ist.

Die ETA wiederum hat ein offizielles Aushängeschild: die Organisation Herri Batasuna („Einheit des Volkes“). Sie kommt derzeit auf etwa 12 Prozent der Wählerstimmen – zehn Jahre zuvor waren es noch 22 Prozent –, verfügt über eigenen Medien (die Tageszeitung Egin und Radiostationen), eine Gewerkschaft (LAB), Jugendorganisationen wie Jarrai, die die Straßen kontrollieren, Plünderungen durchführen und der Mehrheit der Bürger ein Klima der Einschüchterung aufzwingen.

In einem Kontext realer demokratischer Verhältnisse lassen sich die Attentate und Entführungen, das Erpressen von Geldern, lassen sich all diese Verbrechen der ETA in keiner Weise begründen. Ihre aktuellen Führer scheinen sich vom internationalen politischen Kontext abgenabelt zu haben; und zweifellos würde es ihnen gut bekommen, den in dieser Zeitung veröffentlichten Text von Subcomandante Marcos zu studieren, insbesondere seine Überlegungen zu Separatismus und Nationalstaat im Zeitalter der Globalisierung. Die radikalsten Forderungen der ETA – bedingungslose Amnestie, Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung, territoriale Einheit des Baskenlandes – sind im wesentlichen berechtigt; auch von der PNV werden sie auf ihre, also legale Weise formuliert. Doch diese Forderungen rechtfertigen noch lange nicht die sinnlose Gewalt.

dt. Miriam Lang

Fußnoten: 1 Financial Times, London, 8. Februar 1997. 2 Siehe Barbara Loyer: „Géopolitique du Pays basque“, Paris (L'Harmattan) 1997.

Le Monde diplomatique vom 15.08.1997, von IGNACIO RAMONET