Eine weltliche Religion auf der Suche nach ihrem Gott
DIE Begeisterung für Fußball und andere populäre Sportarten greift zunehmend auf das sogenannte gehobene Publikum über: auf Studenten, Lehrer und Professoren, auf Manager, Künstler und Kulturschaffende. Woher rührt diese Begeisterung, wo doch in den Medien ununterbrochen die Herrschaft des Geldes und die verheerenden Folgen des Dopings im Profisport hervorgehoben werden? Liegt es daran, daß eine in die Krise geratene Zivilisation auf Mythen und positive Helden angewiesen ist, um sich Mut zu machen fr eine gefährdete Zukunft?
■ Von MANUEL VÁZQUEZ MONTALBÁN *
Ohne den AC Mailand und seine ins Mythische verklärten Spieler Gullit, Van Basten und Rijkaard wäre Silvio Berlusconi wohl nie Regierungschef geworden. Zwar besaß er den potentesten Medienkonzern Italiens und auch die nötige Telegenität, die ein Abenteurer unseres postmodernen Zeitalters aufweisen muß. Doch die jungen Berlusconi-Anhänger meinten bei ihrer Wahl in erster Linie den erfolgreichen Manager und Organisator glorreicher Fußballsiege.
Berlusconi repräsentiert auf höchstem Niveau jene Spezies von Neureichen, die das Präsidentenamt eines Fußballclubs als Startblock für eine politische Karriere nutzen. Ursprünglich kommt er – wie so viele Vereinspräsidenten – aus dem Baugewerbe, wo eine rasche, mit barbarischen Methoden erzielte Kapitalakkumulation die Regel ist. Ein reich gewordener Bauunternehmer, dessen Firmen – wenn sie einmal laufen – fast von selbst funktionieren, hat massenhaft Geld, viele Kontakte zur Macht und eine Menge freie Zeit.
Früher, als der Präsident eines Fußballclubs sich damit abfinden mußte, hinter Staats-, Wirtschafts- und Kirchenführern und sogar noch hinter Universitätsrektoren zu rangieren, war das Präsidentenamt von Vereinen wie AC Mailand, Real Madrid oder Olympique Marseille eine eher bescheidene Würde. Heute besitzt selbst der Präsident eines kleineren Clubs mehr Sozialprestige und Macht, die Massen zu mobilisieren, als ein gewöhnlicher Vertreter der etablierten Ordnung. Anthropologen würden sogar sagen, ein Staatschef habe heutzutage lediglich auszuführen, was andere (der Markt) ihm vorschreiben, während ein Fußballpräsident die geheime Ordnung des Chaos und den verborgenen Willen der Massen kenne. Kein Wunder, daß die politischen Institutionen die Vereine möglichst unangetastet lassen, weil sie jeden Konflikt mit diesem organisierten, aufgeputschten Wählerpulk vermeiden wollen. Der Horror der Arbeitslosigkeit dürfte heute gewiß nicht mehr einen Sturm auf die Bastille auslösen, eine politische Macht hingegen, die sich ernstlich mit einem in der Gesellschaft verwurzelten Fußballverein anlegt, könnte durchaus einen neuen Sturm auf das Winterpalais provozieren. Man bedenke nur, daß ein fußballerisch-ethnischer Konflikt sogar beim Ausbruch des Jugoslawienkrieges eine Rolle spielte.1
Nachdem man den Ausfall der traditionellen Integrationsinstanzen diagnostiert hat, wird dem Fußball heute die Fähigkeit zugeschrieben, jenen symbolischen Raum zu erobern, der früher durch Politik und Religion ausgefüllt wurde. In dieser Diagnose schwingt häufig die Hoffnung mit, daß Politik oder Religion durch ein vorbildliches Auftreten ihre alte symbolische Hegemonie zurückerobern könnten.
Die Dynamik des Unternehmens Fußball drängt heute auf eine Entwicklung, die Baudrillard als „Metastasierung“ bezeichnen würde; wobei keiner der Beteiligten in der Lage ist, einen Schritt zurückzutreten, um die gigantischen Ausmaße des Phänomens zu ermessen. Vereinspräsidenten, Unternehmer oder Amateurmanager können gar nicht abschätzen, welche dramatischen Konsequenzen die Förderung der TV-Publicity für die (pathologische) Verhornung der menschlichen Kreatur haben wird. Auch die Politiker und die Medienleute können es nicht, und die Soziologen schenken diesem Aspekt ebensowenig Beachtung wie dem religiösen Charakter des Fußballs; alarmiert zeigen sie sich nur durch die Gewalttätigkeit der militantesten Fans, die als Stroßtrupps der versammelten Gemeinschaft der Fußballgläubigen agieren. Auch wenn die Clubs alle Schichten in sich vereinen, gibt es innerhalb der Gemeinde eine strenge Aufgabenverteilung: Das Präsidium plant, die Masse – gewöhnlich kleinbürgerlicher Herkunft – sekundiert, und eine aus den Unterschichten und sozialen Randzonen rekrutierte Avantgarde stellt die gewalttätigen Schwadrone, die der Abschreckung oder der direkten Aggression dienen. Einige Vereinspräsidenten finanzieren sogar militante Gruppen, deren Aktionen stimulierend wirken und den Spielern einen Adrenalinstoß verpassen sollen.
Die Soziologen haben nur diese Avantgarde im Visier, die sich durch ihr Verhalten und ihre Aufmachung aus der Masse hervorhebt; dabei übersehen sie, daß die Massen in den Stadien von Mailand, Marseille und Madrid ingesamt eine Gemeinschaft der Gläubigen darstellen, deren übrige Gemeindemitglieder die Gewalt mittragen, selbst wenn sie diese nicht selbst ausüben, weil sie durch gewisse kulturelle Filter oder ihren gesellschaftlichen Status davon abgehalten werden.
Der Vandalismus im Fußball der Jahrtausendwende hat eine vorzügliche und dabei völlig nutzlose Befundliteratur hervorgebracht. Obligatorisch ist mittlerweile der Verweis auf Bill Buford, den nordamerikanischen Autor und Herausgeber der Literaturzeitschrift Granta, der in seinem Buch „Among the Thugs“2 erzählt, wie er sich als Hooligan getarnt in eine Gruppe einschlich und am Ende, fasziniert von der Gewalttätigkeit seiner Kameraden, selber tätlich wurde. Buford zeigt alle Symptome des nordamerikanischen Schriftstellers auf der Suche nach fremden, faszinierenden Barbareien mit Symbolcharakter. Wobei er natürlich weiß und verdrossen registriert, daß es im eigenen Lande nach der Ausrottung der Indianer als einzige symbolhafte Barbarei nur noch das Rodeo gibt. Es ist derselbe Geist, der einst Hemingway zum Stierkampf, zum Bürgerkrieg, zur Revolution und zur Großwildjagd getrieben hat.
Über den Vandalismus im Fußball haben sich jedoch auch Theoretiker der Subkultur wie Taylor und Clarke3 ausgelassen. Taylor vertrat bereits 1971 die Ansicht, Gewalt im Fußball gehe von den untersten gesellschaftlichen Schichten aus und sei als Antwort auf die wachsende Verbürgerlichung und Vermarktung des ehemaligen Volkssports zu verstehen. Sie waren die ersten Soziologen, die die Gewalt in den Stadien nicht als irrational abtaten. Andere Analysen, die aus einer ethnogen orientierten Sozialpsychologie herkommen, sprechen von einem „ritualisierten Aggressionsverhalten“. So meint Peter Marsh4 , die Gewalttätigkeit der Hooligans sei in erster Linie „symbolisch“ und verhindere schlimmere Ausbrüche, zu denen die sozialen Mißstände leicht führen könnten. Selbst die Verhaltensforschung eines Konrad Lorenz soll die These untermauern, der Aggressionstrieb der Tiere sei mittlerweile auf den Menschen übergegangen; der zeitgenössische extreme Fußballfan vereinige in sich die Wildheit und die Zärtlichkeit des Wolfes: Wildheit gegenüber den anderen und eine außergewöhnliche Zärtlichkeit gegenüber den eigenen Artgenossen.
In Zeiten, da sich ein uniformes Denken durchgesetzt hat, pflegen die Sozialwissenschaftler jede illegitime Gewalt, die das Gewaltmonopol des Staates durchbricht, als unzumutbare Lärmbelästigung im Kommunikationssystem wahrzunehmen. Doch manche registrieren dieses Phänomen neugierig bis begeistert, weil sie endlich einen wunden Punkt im Sicherheitsdogma entdeckt haben. Vielleicht bietet der spontane Akt der Partizipation und Kommunion den Massen ein Ritual, das jenen der Politik und der Religion nacheifern mag und ihnen dennoch mehr bietet als diese Bereiche der Wirklichkeit, die inzwischen ganz dem Alltag zugehören und die Hoffnung endgültig enthistorisiert haben. Vielleicht suchen die Massen angesichts einer „inquisitorischen Diktatur der Gegenwart“, von der Leonardo Sciascia spricht, ihren Trost in den Stadien-Kathedralen und Fußballclub-Parteien.
Da uns die deterministische Kulturbotschaft der letzten 20 Jahre eingetrichtert hat, es sei nun mal alles, wie es ist, und selbst an den perversesten Verhältnissen sei niemand schuld, hat man uns jede Möglichkeit geraubt, etwas gegen die Zeiterscheinung der entfremdenden weltlichen Religionen zu unternehmen. Wir sehen ruhig zu, wie sie durch Geldspritzen aufgeblasen werden, injiziert von den multinationalen Sportartikelherstellern und TV-Inserenten, von den Multimedia- Unternehmen und den großen Fernsehanstalten. Der Gläubige, der sich zu einem Sport bekennt, ist als Konsument doppelt gefangen – zum einen durch sein sozial bedingtes Konsumverhalten, zum anderen durch die Lockungen, die seinem religiösen Verlangen entspringen. Die mächtigsten Fußballclubs der Welt haben ein Jahresbudget von bis zu 150 Millionen Mark; doch diese Budgets werden sich noch drastisch erhöhen, je schärfer der Kampf um die emblematische Marktführerschaft und je hektischer die Suche nach Sponsoren und Medienpartnern wird. Diese Marktführerschaft verlangt, daß die Akteure des neuen Big Business Weltfußball eine außersportliche Dimension aufweisen, die epische und lyrische Dimension des Helden – in einem Zeitalter ohne Helden, ohne Epen, ohne Lyrik.
Doch auch die Literatur hat den Fußball entdeckt. Bedeutende zeitgenössische Dichter entbrennen in Leidenschaft für diesen Sport, angezogen von der Schönheit des Spiels und dem Geschick der magischen Athlethen. Jorge Valdano, Trainer und ehemaliger argentinischer Nationalspieler, gab 1995 in Spanien einen Band mit Erzählungen über den Fußball heraus, der belegt, welch bedeutenden Beitrag der Fußball zur education sentimentale insbesondere lateinamerikanischer Autoren geleistet hat.5 Und der Schriftsteller Eduardo Galeano verfaßte sogar ein Buch mit dem Titel „Fußball, Licht und Schatten“6 .
Es handelt sich dabei um mehr als eine aktuelle lateinamerikanische Marotte: Henry de Montherlant widmete sein Gedicht „Les emotions du solitaire“ dem „garde-but“, dem Torwart; Rafael Alberti verfaßte schon in den zwanziger Jahren seine berühmte Ode auf Platko, den Torhüter des FC Barcelona, und der berühmte brasilianische Musiker Vinicio de Morais textete einen Samba auf Garrincha.
Politische Militanz und ethnische Identifikation
DOCH in Europa wurde der Fußball von den meisten Intellektuellen verachtet oder als modernes Opium fürs Volk verteufelt, während sich das Phänomen zugleich immer weiter verbreitete. Eine apokalyptische Stimmung kommt auf, wenn von der Omnipräsenz des Fußballs die Rede ist, die man in Europa als alarmierendes Symptom für die Banalisierung des „Aufstands der Massen“ sieht. In Lateinamerika hingegen kann sich ein Gespräch über Fußball zwischen Cesar Luis Menotti, Jorge Valdano, Angel Cappa7 und Mario Benedetti oder Eduardo Galeano in wahrhaft philosophische Dimensionen aufschwingen.
Menotti war der Begründer der Philosophie des Fußballs; ein sokratischer Ideenlieferer für Valdano-Platon ebenso wie für Angel Cappa, welcher den Bogen von Feuerbach zu Habermas geschlagen hat. Aber meist geht es um weitaus harmlosere Dichter, die im Fußball mitunter sogar Sex und Ideologie suchen. Jorge Valdano hat mir sogar einmal den Unterschied zwischen linkem und rechtem Fußball erläutert: Der Fußball der Linken sei kreativ, der der Rechten beschränke sich auf puren Krafteinsatz, Gerissenheit und Treten.8 Derlei Positionen tragen eher zur Konfusion denn zur Definition von rechts und links bei, doch sollte man die fußballbegeisterte Philosophie mit der ihr innewohnenden Heilserwartung nicht übergehen. Denn auch die Sozialpsychologen müssen sich am Ende dieses Jahrtausends mit der massiven Verbreitung dieses Massensports als einer säkularen Religion befassen – einer Religion, deren Gemeinde den Statuten politischer Militanz und ethnischer Identifikation folgt. Wie aber könnte es eine Religion, und sei es eine weltliche, ohne Gott geben?
Für einige Menschen heißt der Gott Ronaldo. Wie allmächtig er ist, konnte man im Mai 1997 beim Spiel der spanischen Liga zwischen dem FC Barcelona und Deportivo La Coruña beobachten. Barcelona kann durch einen Heimsieg noch zum Tabellenführer Real Madrid aufschließen. Wenige Minuten vor Spielende steht es unentschieden. Immer wieder ist das exzellente Team um Ronaldo an der vorzüglichen Abwehrmauer von La Coruña gescheitert. Ronaldo versucht es noch einmal... und stürzt. Wie ein besiegter Held liegt er am Boden, sein verlorener Blick sucht nach einem Zeichen, das er allein erkennen kann. Plötzlich prallt das Leder von einem gegnerischen Spieler ab und rollt Ronaldo vor die Füße, als wolle es ihn zum Samba auffordern. Der Stürmer kommt hoch, nimmt sich den Ball auf die Stiefelspitze und richtet den Blick auf das gegnerische Tor. Dies ist der Ronaldo- Augenblick. Diese technische, magische Sekunde, die nur ein Walter Benjamin beschreiben könnte. Wie kein anderer erfaßt Ronaldo die winzige Gasse, die sich in Richtung Tor auftut. Er sprintet los, umdribbelt alle Gegenspieler, und als ihm der Torwart entgegenkommt, ist der Ball im Netz. Eine Szene, die ins goldene Legendenbuch der Fußballstars des 21. Jahrhunderts eingehen wird; Johannes Paul II. hat etliche seiner Heilig- oder Seligsprechungen mit weit weniger überzeugenden Wundern begründet.
Die spanischen Sportjournalisten haben Ronaldos Weg zum Ruhm mit Attributen wie „Orgasmus des Fußballs“ oder „Poetry in motion“ verherrlicht. Doch Roanaldo ist keineswegs eine Erfindung der Medien. Kraftvoll wie ein Athlet der Antike, schnell wie ein Sprinter, schwer zu stoppen und zu Fall zu bringen, behende wie ein Sambatänzer, ist Ronaldo ein absolut herausragender Spieler. Um dem Titel des besten Fußballers der Welt zu genügen, muß er allerdings noch die strategische Vollkommenheit eines Di Stefano, eines Pelé oder Cruyff erlangen und sich nicht nur zwischen Mittellinie und gegnerischem Strafraum bewegen, sondern seine Fäden über das gesamte Spielfeld ziehen.
Der FC Barcelona hat Ronaldo aus der Sackgasse des holländischen Fußballmarktes herausgeholt und ihn in einer Operation, die das Vorstellungsvermögen des Präsidiums weit überstieg, auf den Weltmarkt geworfen. Bereits zwei Monate nach Antritt in Barcelona war Ronaldo zum Objekt der Begierde der mächtigsten Großvereine geworden, im Juli dieses Jahres wechselte er für eine Ablösesumme von 60 Millionen Mark zu Inter Mailand. Ob es an mangelndem Verhandlungsgeschick lag, ob die Operation Ronaldo schon von langer Hand und weit über den Köpfen des Barcelona-Präsidiums eingefädelt war, das Drama der Vertragsaufhebung schwebte wie ein Damoklesschwert über der spanischen Liga und führte fast zu einem Volksbegehren. Für den Verbleib des jungen Spielers engagierten sich nicht nur die Barcelona-Fans, sondern auch die Anhänger von Real Madrid, dem erbitterten Rivalen des katalanischen Vereins: ein Ausdruck nicht etwa von Masochismus als vielmehr von Mythomanie, des unbedingten Willens, dem spanischen Fußball diesen Spieler zu erhalten.
Ronaldo wird immer mehr als nur ein Fußballer sein. Er ist dazu verdammt, den postmodernen Fußball zu verkörpern: den janusköpfigen Sport, der zum einen eine säkulare Massenreligion geworden ist, zum anderen ein multinationales Geschäft, das immer mehr seiner Einnahmen jenseits der sportlichen Sphäre erzielt.
Joao Havelange, der Präsident der Fifa, hat den zwanzigjährigen Fußballspieler bereits auf die höchsten Altäre der internationalen Gemeinschaft gehoben: „Ronaldo gehört zum Weltkulturerbe, das wir alle schützen müssen.“ Ähnliche Formulierungen haben bislang nur die Unesco und andere UN-Organisationen für gefährdete Kulturdenkmäler, Naturreservate oder bedrohe Arten benutzt. Aber die Fußballindustrie braucht zu ihrem Wachsen und Gedeihen weltliche Götter. Di Stefano, Pelé, Cruyff und Maradona hielten diesen Platz über vier Jahrzehnte besetzt und sind mittlerweile Legenden. Aber wie jede Industrie braucht auch der Fußball eine ständige Erneuerung der eigenen Mythen. Die Fifa hat Ronaldo als weltlichen Gott zum Nachfolger von Maradona erkoren; man setzt auf ihn, hofft, daß er sein Amt innerhalb der Religion des Fußballs wahrnehmen wird, ohne dem Kokain zu verfallen. Auf den Schultern dieses kraftvollen und beweglichen Mittelstürmers, dessen Körper den Labors der modernen Gentechnologie entstiegen scheint, lastet ein schweres Gewicht. Die Möglichkeit zum Absoluten ist uns nur in wenigen Bereichen geblieben; und wenn sich Ronaldo nicht die Beine oder den Hals bricht, haben wir wieder einen Gott für das kommende Jahrzehnt.
Es gibt allerdings einige Faktoren, die eine dauerhafte und stabile Beziehung dieses Spielers zu einem einzelnen Verein fast unmöglich machen. Ronaldo ist von seinen Managern abhängig; von hartgesottenen Profis, die seit seiner Kindheit in ihn investiert haben und ihre Investition nun rentiert sehen wollen. Zudem ist er von seinem Sponsor abhängig, und von der brasilianischen Nationalauswahl. Die meisten Clubpräsidenten sind weder finanziell noch strategisch in der Lage, sich auf die qualitative Veränderung einzustellen, die es mit sich bringt, wenn man Gott als Mittelstürmer verpflichtet.
Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Diskrepanz zwischen Ronaldos spieltechnischer und psychologischer Reife. Sein Club hat dafür gesorgt, daß die Familie Ronaldos, vor allem seine Mutter, nach Barcelona eingeflogen wurde und daß seine blonde Freundin Susanna stets um ihn ist, auf die für die emotionale Stabilität des Jungen derzeit unter keinen Umständen verzichtet werden kann. Ronaldo bedarf ständiger Beobachtung, so als lebe er in einem Brutkasten. Neulich argwöhnte man einen Moment lang, er wolle sich die Haare wachsen lassen. Keiner der versammelten Auguren wußte das Zeichen zu deuten. Handelte es sich um einen bewußten Imagewechsel? Hatte sein Sponsor ihn aufgrund einer Marktanalyse dazu bewogen? Welch erdrückende Überwachung!
Mir ist durchaus bewußt, daß sich sehr viel schwerwiegendere Probleme auf der globalen Tagesordnung befinden und daß Themen wie die Zukunft des Euro und die Zukunft der Arbeit uns sehr grundsätzlich umtreiben sollten. Daß vor dem babylonischen Hintergrund der Jahrtausendwende die Frage, ob Ronaldo sich die Haare wachsen läßt oder nicht, ins Zentrum der Debatten rücken kann, zeigt uns, daß der zu Zeiten der Diktatur als „Opium fürs Volk“ benutzte Fußball inzwischen längst zur harten Droge der Demokratien geworden ist. Er kanalisisiert die Perspektivlosigkeit der globalen Gesellschaften, die paradoxe Einsamkeit der Massen.
Sollte sich herausstellen, daß der Glatzkopf Ronaldo ab und zu tatsächlich mit der Haarpracht seiner frühen Jugend liebäugelt, läßt sich die Hypothese wagen, daß seine Imageberater ihm mit Blick auf künftige Medienverpflichtungen einen Emblemwechsel empfehlen – vielleicht weil ein Haarwuchsmittelproduzent als Sponsor vorstellig wurde, der mit Ronaldo die Wirksamkeit seines Produkts augenfällig machen will. Von dem Augenblick an wären schlagartig alle bisherigen Ikonen des Ronaldinho-Kultes entwertet.
Ich fürchte, Ronaldo wird durch das Leben und durch die Geschichte gehen, ohne etwas von dem verstanden zu haben, was mit uns geschehen ist und was mit uns geschieht. Wir können ihn nicht einmal als Luxusimmigranten bezeichnen. Er ist kein Vereinsspieler, und er wird nie einer werden. Er gehört den Multis, und er lebt in den Flugzeugen, die ihn zum Samba transportieren und wieder zurück. Er ist ein Mythos, den die Fifa geschaffen hat, damit wir unseren Fußballglauben nicht verlieren. Denn der Glauben braucht einen Gott, und nachdem Maradonna begonnen hatte, sich selber zu zerstören, brauchte die Fifa nichts so dringend wie einen Nachfolger.
dt. Willi Zurbrüggen
* Spanischer Schriftsteller, Autor der Kriminalromane um den Detektiv Pepe Carvalho, u. a. „Manche gehen baden“ (1988), “Das Spiel der Macht“ (1992), „Carvalho und der tote Manager“ (1993), alle Rowohlt Verlag Hamburg.