15.08.1997

Autopsie eines mörderischen Sommers in Chicago

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Autopsie eines mörderischen Sommers in Chicago

Jeden Winter fallen Menschen der Kälte zum Opfer, etwa weil sie keine Wohnung haben. Vor zwei Jahren jedoch starben in Chicago Hunderte während einer Hitzewelle: ohne Strom und Wasser, verbarrikadiert in den eigenen Wohnungen, weil sie sich in den gefährlichen Vierteln nicht auf die Straße trauten. Ein „natürlicher“ Tod? So beteuerten die Medien nach zwei Mitleidssätzen über die unglücklichen Umstände. Doch die Opfer von gestern und von morgen brauchen nicht so sehr gnädigere Temperaturen oder bessee Wetrvorhersagen. Was sie umbringt, sind Armut und ethnische Segregation. Wichtiger als die metereologischen sind die soziologischen Erkenntnisse. Die Auswirkungen des Wetters geben Auskunft über den Zustand der Welt, die wir errichtet haben.

 ■ Von ERIC KLINENBERG *

Es ist heiß. Es ist sehr heiß. Wir haben alle irgendwelche Problemchen, aber wir sollten es nicht übertreiben. In Chicago wird alles übertrieben. Darum lieben die Leute ihr Chicago. In Chicago wird alles übertrieben. (Richard M. Daley, Bürgermeister von Chicago)

AM 30. Juni 1995 veröffentlicht das medizinische Journal des Zentrums für Gesundheitsfürsorge im US-amerikanischen Gesundheitsministerium einen Bericht über die Todesfälle bei den großen sommerlichen Hitzewellen. Zwischen 1979 und 1992 hat die Hitze in den Vereinigten Staaten den Tod von 379 Menschen verursacht. „Solche Todesfälle“, schließt der Bericht, „sind leicht vermeidbar.“

Kaum zwei Wochen später wird Chicago von einer der furchtbarsten Hitzewellen seiner Geschichte heimgesucht. Die Temperatur steigt stellenweise auf über 467 Celsius. Kaum Wolken und überhaupt kein Wind – eine Woche lang wird die Stadt zum Glutofen.

Am 13. Juli fordert die Hitze ihre ersten Opfer. Als tags darauf zwei Säuglinge von ihrer Krippenleiterin in einem Lieferwagen vergessen werden und bei 737 Celsius ersticken, beginnt in den Medien das Trommelfeuer. Am Ende der Woche schätzt man, daß an der Gluthitze zwischen 500 und 700 Menschen gestorben sind. Tausende wurden ins Krankenhaus eingeliefert.

Mit dem Wetter allein lassen sich diese Todesfälle nicht erklären. Der Tod muß im Zusammenhang mit der (sozialen, räumlichen, ethnischen und politischen) Segregation gesehen werden, in der bestimmte Einwohnergruppen in der Stadt leben. Die mörderische Hitze von 1995 hat die neue Marginalisierung und soziale Entsorgung sichtbar gemacht, die in amerikanischen Großstädten und besonders ausgeprägt in Chicago herrscht.1 Dieses eher struktur- als naturbedingte Unglück verdeutlicht nicht nur den Zusammenhang zwischen Armut und Leiden, es deckt auch die gesellschaftlichen und institutionellen Mechanismen auf, die dem Mangel an Sicherheit zugrunde liegen.

Am Dienstag, dem 12. Juli, hechelt Chicago unter einer bleiernen Sonne. Die Straßen glühen. Die Meteorologen haben die Hitzewelle seit Tagen angekündigt, zeitig genug für eine Vorwarnung durch die Behörden. Manche Einwohner reagieren prompt und kaufen an einem Nachmittag alle Klimaanlagen und Ventilatoren auf. Die Bevölkerung belagert das Seeufer. An einem einzigen Strand werden bis zu 90000 Menschen gezählt. Wer es zum Strand zu weit hat, macht sich auf die Suche nach Brunnen, Schwimmbädern oder Hydranten.

Da sich die ganze Stadt mit Klimaanlagen eindeckt, übersteigt der Energieverbrauch in kürzester Zeit die Kapazitäten der Elektrizitätsgesellschaft, so daß die Anlagen gerade in dem Moment zusammenbrechen, da sie am dringendsten benötigt werden. Die ersten Ausfälle gibt es am Mittwoch, dem 13. Juli, weitere folgen; am Freitag fallen innerhalb einer Stunde zwei große Transformatoren aus. Ganze Stadtteile sind ohne Strom, in manchen Fällen über zwei Tage. Also ohne Klimaanlage oder Ventilator, und ohne Fernsehen, das Tips für Schutzmaßnahmen bieten könnte.

Der Donnerstag ist der heißeste Tag. Das Thermometer steigt auf 417, in einigen nicht klimatisierten Häusern bis auf 447. Die Feuerwehr setzt Spritzen ein, um die erschöpften Insassen eines im Stau steckenden Schulbusses zu besprengen. Die Technik wird von der Bevölkerung weithin aufgegriffen – vor allem von den Jugendlichen in den besonders benachteiligten Vierteln. Sie drehen die Hydranten voll auf und schaffen sich damit öffentliche Fontänen und Wasserparks – improvisierte Oasen für alle, an 3200 Stellen. Diese Überlebensstrategie hat eine verheerende Konsequenz: Die städtischen Wasserreserven werden erschöpft, ganze Stadtteilen haben längere Zeit kein fließendes Wasser.

Der „Wasserkrieg“ bricht aus. Wach- und Polizeimannschaften rasen durch die Straßen, um die Hydranten zu verplomben. Wer sie öffnet, riskiert eine Strafe von fünfhundert Dollar. Doch die Bevölkerung will nicht ihre beste Waffe gegen die Hitze einbüßen. Man arbeitet mit allen Mitteln – mit Azetylenlampen, Bohrern, Sägen, Vorschlaghämmern. Jugendliche greifen neun Wassertankwagen an und verletzen vier Arbeiter, die versuchen, Hydranten zu verschließen.

Rasch bricht die Gluthitze die Widerstandskraft der Schwächsten. Nach 48 Stunden sind die Kräfte des Organismus erschöpft. Rettungsstationen und Leichenschauhäuser sind überfüllt. Die durchschnittliche Sterberate liegt in Chicago ziemlich konstant bei 72 Todesfällen pro Tag. Am Freitag, dem 15. Juli, werden 188 registriert. Das Leichenschauhaus muß improvisieren. Besonders tödlich ist das Wochenende: Am Samstag werden 365 Todesfälle verzeichnet, am Sonntag 241. Am Montag sinkt die Kurve auf 193, am Dienstag auf 106 und an den folgenden beiden Tagen auf 90 Tote.

Zu normalen Zeiten führen die Gerichtsmediziner täglich 17 Autopsien durch. Das Leichenschauhaus ist auf die neuen Dimensionen nicht vorbereitet. Es liegt im Stadtzentrum gegenüber Chicagos größtem öffentlichen Krankenhaus und wird rasch zum Symbol für das Versagen der Behörden.

Der leitende Arzt des Bezirks, Dr. Edmund Donoghue, tut alles, um die vielen Leichen aufzunehmen. Es beginnt ein „Autopsiemarathon“. Von einem lokalen Transportunternehmen werden Kühllastwagen (Chicago ist die Welthauptstadt der Fleischverarbeitung ...) bereitgestellt und in „Notkühlräume“ umgewandelt. Auf dem Höhepunkt der Gluthitze stehen zehn dieser Lastwagen rund um das Leichenschauhaus. Ambulanzen, Polizeiwagen und Feuerwehrfahrzeuge liefern ständig neue Leichen ab. Der Trauerkorso bietet einen so irrealen Anblick, daß man kaum glauben kann, sich in der drittgrößten Stadt der Supermacht Amerika zu befinden.

Die Stadtverwaltung muß schnell eine Erklärung liefern. Doch Bürgermeister Richard Daley will die Wirklichkeit verschleiern; er sorgt sich vor allem um das Image der Stadt, da hier im folgenden Sommer der Parteikonvent der Demokraten stattfinden soll. Dabei hatte er vor seiner Wahl 1989 erklärt: „Man darf vor den Problemen dieser Stadt nicht länger die Augen verschließen. Die Stadt muß sich ihrer Verantwortung stellen (...). Ich werde nicht erst eine Katastrophe abwarten, um zu handeln.“

Daleys erste Reaktion auf den steilen Anstieg der Sterbeziffern zeugt von seinem sagenhaften Phlegma. „Tagtäglich sterben Leute eines natürlichen Todes“, erklärt er gegenüber der Presse, „Sie können nicht alles auf die Hitze schieben. Oder glauben Sie, alle Todesfälle im Sommer gehen auf das Konto der Hitze?“2

Als die erste Erklärung nicht ganz ankommt, schlägt Daley eine andere Taktik ein. Die Todesfälle hätten zwar mit der Hitze zu tun, aber der Stadtrat sei nicht für die hohe Zahl der Opfer verantwortlich. Daley sieht zwei Schuldige: Erstens habe sich der Energiekonzern Commonwealth Edison, dem schon des längeren seine Quasi-Monopolstellung vorgehalten wird, als unfähig erwiesen, die Stadt im Moment dringendsten Bedarfs mit Elektrizität zu versorgen. Der Bürgermeister will deshalb die Konzession des Unternehmens überprüfen lassen und droht mit einer Klage wegen Vertragsbruchs.

Und zweitens seien die Opfer schuld. Nach der beliebten Übung amerikanischer Politiker, auf die Verantwortung des einzelnen zu verweisen, beschuldigen Daley und seine Beamten die Toten und ihre Familien, sie hätten nicht selbst auf sich aufgepaßt. In Krisenzeiten hätte nicht der Staat, sondern jeder einzelne die Aufgabe, sein Überleben zu sichern. Und Daniel Alvarez, Stadtrat für Soziales, fügt hinzu: „Wir haben zahlreiche Vorsorgeempfehlungen verbreitet. Aber diese Leute lesen keine Zeitung und sehen nicht fern. Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand. Alles.“ Im übrigen handle es sich um eine „Naturkatastrophe“ und die Stadt könne schließlich nicht für die Gluttemperaturen verantwortlich gemacht werden.

Sozialfälle haben bessere Todeschancen

MIT Hilfe dieser sehr amerikanischen Auffassung über die Verantwortung des Individuums3 kann der Magistrat einen Wutausbruch der Bevölkerung verhindern und den Konflikt entpolitisieren. Nur einige wenige Gruppen von Bürgern beharren auf einer Verantwortung der Behörden: zum einen in struktureller Hinsicht, da sie nichts gegen die Verarmung in den am meisten benachteiligten Vierteln unternommen hätten, zum andern hinsichtlich der konkreten Situation, da sie nicht mit der medizinischen Notlage fertiggeworden sei.

Die Medien bestätigen die amtliche Version und erklären die Stadträte zu „Analytikern“ der Situation, ähnlich wie seinerzeit die amerikanischen Militärs zu „Experten“ des Golfkriegs wurden. Wertet man die Berichterstattung des lokalen Fernsehens aus, so sind die „Armen“ und die „Communities“ offenkundig außerstande, die Katastrophe zu erklären. Nur selten tauchen Wörter wie „Armut“ und „Rasse“ als Erklärungsfaktor auf. In einer Nachrichtensendung kam zwar eine schwarze Community zu Wort, die sich über die fehlende Strom- und Wasserversorgung in ihrem Viertel und die Gleichgültigkeit der staatlichen Stellen beklagte. Aber die Journalisten plapperten unverdrossen die beschwichtigende, apolitische Version der Behörden nach und merkten offenbar nicht, daß dieser die Aussagen der Betroffenen kraß entgegenstanden.

Wenn die Stadtverwaltung das Wetter, die Commonwealth Edison und die unverantwortlichen Familien anklagte, entsprach ihre Ursachenforschung weitgehend dem gesunden Menschenverstand: Die Wirkungen und Gefahren der Hitze hatte schließlich jeder am eigenen Leibe gespürt (selbst wer sich während der Hundstage in einer klimatisierten Wohnung verbarrikadiert hatte); mit dem Quasi-Monopol der Elektrizitätsgesellschaft war man in Chicago seit langem unzufrieden; und große Teile der Stadtbevölkerung – auch der gänzlich Unterprivilegierten – sind ebenfalls der Meinung, daß der einzelne für seine Lage selbst verantwortlich ist. So gelang es also, die durch die Hitzewelle verursachten Todesfälle mit „soziologischen“ Erklärungen zu „naturalisieren“ und gleichzeitig die Soziologen zum Schweigen zu bringen. Was um so paradoxer ist, als Chicago die wichtigste Fakultät der USA für Stadtsoziologie beherbergt.4

Und dennoch: Eine Untersuchung des New England Journal of Medicine hat durchaus eine Korrelation zwischen Todesfällen und sozialen Lebensbedingungen ermittelt.5 Wer über eine Klimaanlage verfügte oder sich an klimatisierten Orten aufhalten konnte, blieb von der Hitze relativ verschont. Stark betroffen dagegen waren vor allem Alleinstehende, die in Vierteln mit schlechten Verkehrsverbindungen, in Einzimmerwohnungen oder im obersten Stockwerk eines Gebäudes lebten. Allerdings stellt die Studie keinen Zusammenhang zwischen dieser Selektivität des Todes und den sozialen, ethnischen, wohnungsmäßigen und politischen Unterschieden her.

Die Verteilung der Todesfälle während der Hitzewelle auf das Stadtgebiet deckt sich in der Tat mit der Häufigkeit von Gewalttaten und bestimmten ethnischen und sozialen Merkmalen. Die am stärksten betroffenen Bereiche bilden einen Ring, der sich um die vier reichsten Viertel der Stadt herumzieht, diese jedoch nicht berührt.6 In elf der fünfzehn Stadtteile, die am meisten unter der Hitze gelitten haben, verfügt ein ausgesprochen hoher Anteil der Einwohner über Einkommen, die noch unter der Hälfte des Satzes liegen, der offiziell als Armutsgrenze gilt. In zehn dieser fünfzehn Stadtteile machen die Schwarzen zwischen 94 und 99 Prozent der Bevölkerung aus. Zugleich haben die am stärksten betroffenen Bereiche einen besonders hohen Anteil alleinstehender älterer Menschen und eine hohe Kriminalitätsrate. Zu diesem „tödlichen Ring“ gehören auch drei Stadtviertel im Südwesten7 . Diese weisen zwar keine außergewöhnlichen Kriminalitäts- und Armutsziffern auf, und 84 bis 97 Prozent ihrer Bewohner sind Weiße, doch da es sich um Viertel mit einem sehr niedrigen Bildungsniveau handelt, scheinen sie die Hypothese der Forscher zu bestätigen, wonach eine Korrelation besteht zwischen dem Bildungsgrad und der Disposition, in der Hitze umzukommen.

Beschränkt man sich auf eine Auswertung nach Stadtteilen, drohen die sozialen und ethnischen Unterschiede innerhalb der Viertel verborgen zu bleiben, das heißt jene ihrer Enklaven von Armut und von Kriminalität, die während der Hitzewelle eine extrem hohe Sterbeziffer aufwiesen. So war der am stärksten betroffene Ort der Stadt ein Häuserblock, der sich durch seine winzigen und heruntergekommenen Wohnungen auszeichnet, während das Viertel, in dem er liegt, gar nicht außergewöhnlich betroffen war.

Die demographische Untersuchung der Sterbeziffern (nach Alter, Geschlecht und ethnischer Gruppe der Einwohner) bringt einige vorhersehbare Ergebnisse zutage: 73 Prozent der 525 Einwohner, die unmittelbar an den Auswirkungen der Hitze starben, waren über 65 Jahre alt. Andere Ergebnisse waren weniger vorhersehbar: Schwarze starben doppelt so häufig wie Weiße, während der hispanischen Bevölkerung, die 19 Prozent der Einwohner Chicagos ausmacht, nur 2 Prozent der Todesfälle zuzurechnen sind. Wir werden noch sehen, warum.

Die Ärmsten waren zugleich am stärksten betroffen, weil sie mit zwei politisch verursachten Krisenerscheinungen konfrontiert waren: mit der allgemeinen Armut, die durch spürbare Kürzungen im Sozialbudget noch verschlimmert wurde, und mit dem Defizit an kollektiven Strukturen zur Organisierung der verbliebenen bescheidenen Hilfsprogramme. Diese doppelte Krise läßt sich durch die Verteilung der Todesfälle vom Sommer 1995 verblüffend genau grafisch abbilden.

1995 gab es in der Stadt keinerlei Struktur zur Koordinierung von Notaufnahmen, um den Krankenwagen mitzuteilen, in welchen Krankenhäusern noch Betten frei waren. Zwischen dem 13. und dem 16. Juli erklärten sich 23 der 45 Krankenhäuser für überfüllt und verweigerten die Aufnahme selbst von Notfallpatienten. Die Einwohner der am stärksten betroffenen Viertel hatten auch am meisten unter dieser Unzulänglichkeit der medizinischen Einrichtungen zu leiden. Nach einem offiziellen Bericht des Bundesstaates (Illinois) gab es für den Süden und Südwesten der Stadt, wo hauptsächlich einkommensschwache Schichten und schwarze Communities leben, „nur sehr wenige Krankenhäuser – zuweilen auch keines –, die von den Krankenwagen gebrachte Patienten aufnehmen konnten“.

Die Stadt verfügte zudem über keine Möglichkeit, die von den Krankenhäusern getroffenene Entscheidung eines Aufnahmestopps zu überprüfen. In diesem Chaos fuhren die überfüllten Krankenwagen von einem Ende der Stadt zum andern, auf der Suche nach einer Abteilung, die ihnen die Kranken abnehmen konnte. Die medizinischen Strukturen waren seit den gesundheitspolitischen Sparmaßnahmen der achtziger Jahre ohnehin geschwächt und reichten kaum für die normale medizinische Versorgung der Bevölkerung aus. Unter der Last der Hitzeopfer brachen sie einfach zusammen.

Die ungesunden Verhältnisse, in denen viele Einwohner ohnehin leben, werden bei der Hitze noch gefährlicher. So trifft ein Stromausfall zwar die vielen Einwohner, denen die Klimaanlage ausfällt. Doch über ein Drittel der Chicagoer Bevölkerung besitzt gar keine Klimaanlage.8 Und viele von ihnen sind zu isoliert oder zu ängstlich, ihre Wohnung zu verlassen, als daß sie öffentliche klimatisierte Räume aufsuchen könnten, die oft auch noch weit von ihrem heruntergekommenen Viertel entfernt liegen. Die Stadtverwaltung stellt zwar „kühle Räume“ bereit, vergißt aber, die Einwohner zu informieren, die sie am dringendsten benötigen, und stellt keine Verkehrsmittel bereit, um alleinstehende Menschen hinzubringen. Eine Frau, die schrecklich unter der Hitze gelitten hat, erfuhr erst im nachhinein, daß es ganz in ihrer Nähe einen „klimatisierten Raum“ gegeben hat. „Ich glaube nicht“, meinte sie, „daß irgend jemand im Viertel davon gewußt hat. Von außen sieht das Haus aus wie jedes andere. Man hat uns nicht mitgeteilt, daß man sich dort abkühlen kann. Hätte man groß drangeschrieben: ,Klimatisierter Raum – Eintritt frei!', dann wären die Leute auch hingegangen.“ Die Feuerwehr hatte zwar gefordert, Stadtbusse in die unterprivilegierten Viertel zu schicken und dort vorübergehend als „klimatisierte Räume“ abzustellen, aber der Plan scheiterte an Geldmangel.

Während in Chicago Tausende Arme ohne jede finanzielle Hilfe unter der Hitze litten, beschloß der Senat in Washington, die Etatmittel zur Subventionierung von Klimaanlagen für einkommensschwache Familien (Low Income Home Energy Assistance Program – LIHEAP) um 319 Millionen Dollar zu kürzen. Am 21. Juli, die Hitzewelle hat bereits Hunderte Todesopfer gefordert, lehnt der Senat mit 57 gegen 40 Stimmen einen Antrag für die ungekürzte Fortführung des Programms ab. Noch am selben Tag kündigt Präsident Clinton an, Washington werde 19 Staaten eine Nothilfe in Höhe von 100 Millionen Dollar auszahlen, um den Hitzeopfern bei der Ausstattung mit Ventilatoren und Klimaanlagen und der Bezahlung ihrer Stromrechnungen zu helfen. Doch diese Maßnahme – die den Toten nichts mehr nützt – soll aus dem gerade beschnittenen Budget des LIHEAP finanziert werden. Den Haushalten, die im Winter mit diesen Zuschüssen gerechnet hatten, um ihre Heizkosten zu bezahlen, wurden also die Mittel noch weiter gekürzt.

Den Allerärmsten fehlte in den Hitzetagen noch ein anderes Standardgerät – das Telefon. Während 97 Prozent der „nicht Armen“ ein Telefon besitzen, sind es 77 Prozent bei den Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben, und bei den Familien, die Sozialhilfe empfangen, sogar nur 68 Prozent. Ohne Telefon und Klimaanlage müssen vor allem die alten Menschen auskommen. Mit Hilfe der Karteien der – privaten – Organisationen zur Unterstützung älterer Menschen haben die Behörden zwar versucht, sie zu warnen. Aber die von der Stadt mobilisierten Kräfte reichten bei weitem nicht aus.

Auf jeden Fall tat sich zwischen den Regierungsstellen und den älteren Menschen in den heruntergekommensten Stadtteilen eine riesige Verständigungslücke auf. Die städtischen Angestellten mußten feststellen, daß die alten Leute sich zum großen Teil weigerten, ihre Wohnungen zu verlassen, um sich in klimatisierte Räume zu begeben, oder Fenster und Türen zu öffnen, um die Wohnung zu lüften. Das kostete einige von ihnen das Leben. Die Behörden schlossen daraus, daß „die gefährdetsten Personen offenbar am wenigsten bereit sind, die staatliche Hilfe anzunehmen. (...) Der Staat kann nicht alle Probleme ganz allein lösen.“

Eine genaue Analyse des Alltagslebens in diesen prekären Vierteln zeigt jedoch, daß diese Menschen nicht freiwillig zu Hause blieben – etwa weil sie die staatliche Hilfe ablehnten –, sondern weil ihre räumliche und soziale Umgebung es ihnen nicht erlaubte, ohne Gefahr das Haus zu verlassen. Diese Viertel, die nach dem Verlust ihres industriellen und kommerziellen Kerns verödet und durch ein System faktischer Apartheid von den dynamischen Wirtschaftssektoren der Stadt abgeschnitten sind9 , haben zudem unter der Kürzung einer ohnehin schon erbärmlichen Sozialhilfe zu leiden. Die Folgen sind „eine – nicht nur physische – endemische Unsicherheit, permanente wirtschaftliche Not, symbolische Degradierung und territoriale Stigmatisierung“10 . Der Zusammenbruch einer angemessenen ökonomisch-sozialen Infrastruktur läßt die Lebensbedingungen der älteren Menschen noch prekärer werden. Sie verschanzen sich in ihren kleinen Wohnungen gegen eine allzu bedrohliche Umwelt. Die Korrelation zwischen jenen Stadtgebieten, die am stärksten von der Hitze betroffen waren, und denen mit der höchsten Kriminalitätsrate zeigt an, wie groß diese Angst geworden ist. Die hohen Mordziffern in bestimmten Stadtteilen haben so große Ängste erzeugt, daß die Leute sich weigern, ihre Wohnung zu verlassen oder auch nur die Fenster aufzumachen – selbst bei mörderischer Hitze.

Diese mittellosen Alten repräsentieren die eigentliche Gruppe der sozial Ausgeschlossenen: die „eingeschlossenen Ausgeschlossenen“. Sie haben kaum Kontakte zu Verwandten und erhalten aufgrund der Kürzung von Gesundheitsprogrammen und Transporthilfen nicht einmal mehr die elementarste Fürsorge. In Chicago leben 48 Prozent der alten Menschen allein. Für sie war die Hitzewelle besonders mörderisch. Manche Straßen, die früher ein reges Geschäfts- und Vereinsleben kannten, sind – von Staat und Unternehmen vergessen – so verödet, daß sie von ihren Bewohnern ähnlich gefürchtet werden wie von Fremden. „Früher“, erklärt Reverend Joseph Ledwell, „waren auch in den ärmsten Gegenden alle draußen, wenn es heiß war. Sie schliefen in den Parks und gingen am See spazieren. Heutzutage haben sie Angst.“ Die alten Menschen aus den Sozialwohnungen dieser Stadtteile wagen sich häufig nicht einmal mehr in die Höfe und auf die Flure ihrer Wohnblocks.

Vor einigen Jahren wurden mit einem Programm des sozialen Wohnungsbaus (der Chicago Housing Authority – CHA) in relativ ruhigen Stadtvierteln Sozialwohnungen für ältere Menschen und Behinderte geschaffen. Als die Sozialversicherung sich der Drogenabhängigen annahm, hat die CHA ihnen diese Häuser geöffnet. Eine verhängnisvolle Entscheidung: Das Zusammenwohnen von straffälligen Drogenabhängigen und alten Menschen, die gewöhnlich alle Ersparnisse zu Hause aufbewahren, erzeugte ein Klima großer Unsicherheit. Aus Angst, Opfer von Überfällen oder Einbrüchen zu werden, gehen die alten Menschen nicht einmal in die Gemeinschaftsräume im Erdgeschoß. Um Eindringlinge abzuwehren, haben sich manche dieser verängstigten Mieter sogar behelfsmäßige Sicherheitsvorrichtungen ausgedacht: Einer hat seinen Türgriff unter Strom gesetzt, um jeden eventuellen Eindringling durch einen elektrischen Schlag zu töten. 1996 hat die CHA ihren Fehler eingesehen und beschlossen, die Drogenabhängigen und die Alten wieder zu trennen. Bis dies gelungen ist, werden einige Jahre vergehen.

Die neuen Strukturen der Ghettobildung haben die Grundlagen des sozialen Lebens weiter erschüttert. Wo die Schattenwirtschaft die Lohnarbeit ersetzt und die Kriminalitätsraten besonders hoch liegen, entsteht ein allgemeines Mißtrauen, das die Bewohner entsolidarisiert. Doch der soziale Verfall hat noch weitere Ursachen: Der verwahrloste Zustand der Viertel, also auch der Straßen, Parks und Geschäfte, verhindert jegliches Gemeinschaftsleben. Die örtliche Regierung hat das öffentliche Transportsystem in diesen ohnehin schlecht bedienten Gebieten noch weiter reduziert. Das macht es den Menschen noch schwerer, Verwandte zu besuchen oder zu empfangen. Besonders hart betroffen sind wiederum die Alten und Kranken, die nicht mobil sind und keine angemessene medizinische Betreuung haben.

Ohne anständige Wohnungen, medizinische Dienste und Arbeitsplätze, isoliert vom restlichen politischen Gemeinwesen der Stadt, durch das Gerede von der individuellen Verantwortung auch noch schuldig gesprochen, sind diese verwahrlosesten Viertel zum Ort der Versager und Degradierten abgestempelt. Viele Bewohner reagieren darauf mit einer Distanzierung gegenüber ihrer unmittelbaren Umgebung. Das erlaubt ihnen, ihre Würde und Selbstachtung zu wahren, gefährdet aber die kollektive Organisation und die Solidarität eines Viertels, aus dem sie niemals wieder wegziehen können. Welche Gefahren eine derartige Entfremdung mit sich bringt, erwies dann die große Hitzewelle, als Hunderte Tote in verbarrikadierten Wohnungen aufgefunden wurden.

Die sozialen Netze in der Stadt (Familie und Leben im Stadtteil) schufen früher Bindungen, die in Krisenzeiten das Wohlergehen oder Überleben der Mitglieder der Community sicherten. Mit Hilfe dieser Netze überstand die hispanische Bevölkerung trotz ihrer sozial niedrigen Position die Hitzewelle besser als jede andere ethnische Gruppe. Oft leben die Angehörigen einer hispanischen Familie und ihre Verwandten nahe beieinander. Dank dieses Zusammenhalts kümmerten sie sich auch während der Hitzewelle mehr umeinander. Durch die Beziehungen zwischen den Generationen, vor allem durch die Integration der Alten in die Haushalte, konnten die Jungen die Alten mitversorgen. Und dank der Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt in Chicago und der Größe der Familienclans sind einige Familienmitglieder in der Lage, für die finanziellen Bedürfnisse der Ärmsten aufzukommen.

Zudem ist die hispanische Bevölkerung zwar arm, wohnt aber nicht in den heruntergekommensten Gegenden der Stadt (siehe Kasten). Ihre Viertel haben ein reges Geschäfts- und Vereinsleben, woran es in den afroamerikanischen Ghettos häufig fehlt. 12 der 13 ärmsten Viertel von Chicago sind zu 90 Prozent von Schwarzen bewohnt (das 13. zu über 70 Prozent). Während die schwarzen Viertel unter einer ausgeprägten ökonomischen und ethnischen Segregation leiden, sind die hispanischen Viertel viel besser integriert. Diese Integration fördert politische Koalitionen, die für eine Verbesserung der Lebensbedingungen kämpfen und sich von den Behörden eine gewisse Unterstützung sichern können. Die Hitzewelle hat die Unterschiede zwischen schwarzen und hispanischen Vierteln sichtbar gemacht und demonstriert, daß die hispanische Bevölkerung, dank ihrer besonderen sozialen Morphologie der Armut, selbst im Fall einer größeren Krise von der gegenseitigen Hilfe im Familien- und Freundeskreis profitieren kann.

Aus der Geschichte lernen?

DIE Hitzewelle hat die Stadt gezwungen, für künftige Katastrophen Vorsorge zu treffen. Doch die Daley-Verwaltung hat in dieser Metropole, die dafür bekannt ist, ihre Stadtväter fortzujagen, wenn sie mit den Unbilden der Witterung nicht fertigwerden11 , die große Hitze mit erstaunlicher Leichtigkeit „überlebt“. Allerdings hat sie dafür gesorgt, daß sie nicht noch einmal überrascht werden kann.

Als zwei Wochen später ein neuer Temperaturanstieg – nicht so lange und nicht so stark wie beim ersten Mal – den Mittleren Westen heimsuchte, setzten die Behörden einen Notstandsplan in Kraft. Die Stadtverwaltung, die einige Tage vorher behauptet hatte, sie könne die Sicherheit der Bürger nicht allein gewährleisten, wandte Millionen von Dollar pro Tag für Notdienste auf. 70 „klimatisierte Räume“ wurden der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt, und auch die städtischen Schwimmbäder hatten länger geöffnet. Die Betreuungsteams für alte Leute wurden personell um das Fünffache verstärkt. Telefonzentralen nahmen die Notrufe entgegen. Die Stadt richtete eine Koordinationsstelle für die medizinischen Dienste ein, 200 Helfer gaben telefonisch Rat an gefährdete Bürger. Über die lokalen Medien wurden die Familien und ihre Nachbarn aufgerufen, sich umeinander zu kümmern, man gab Informationsbroschüren und eine Liste vielfältiger Notmaßnahmen heraus.

Die zweite Hitzewelle forderte nur zwei Todesopfer – ein Beweis, daß der Staat sehr wohl effizient sein kann, sobald er sich um die Sicherheit und Gesundheit seiner Bürger kümmert. Die geringe Zahl an Todesfällen bestätigt allerdings, daß die Toten der ersten Hitzewelle „politische“ Opfer waren. Die 1995 konzipierten Programme wurden 1996 noch verbessert. Die Verwaltung richtete sogar – verteufelt modern – eine Internet-Site ein, die über hitzebedingte Probleme aufklärt. Die große Hitze von 1995 ist damit zum Teil der Chicagoer Legende geworden – aber man hat sie unter Leugnung ihrer sozialen, rassischen und politischen Hintergründe „naturalisiert“.

Die Geschichte wäre unvollständig ohne einen Hinweis auf die große Begräbnisfeier. Die Stadt mußte nämlich das Begräbnis für 41 Opfer ausrichten, deren Leichen nicht von Verwandten abgeholt worden waren. In einfachen numerierten und etikettierten Kisten wurden sie am 25. August beerdigt. Die von Pater Michael Naklen abgehaltene Feier war so kurz, daß zwei eingeladene Priester sie verpaßten, weil sie einige Minuten zu spät kamen. In seiner Ansprache empörte sich Pater Naklen über diese seltsame Veranstaltung einer Stadt, die mit dem demokratischen Parteikonvent im Jahre darauf ihr internationales Renommee aufpolieren wollte: „Überall in der Welt hört man von Massenbegräbnissen, bei kriegerischen Auseinandersetzungen oder Naturkatastrophen. Diesmal war es hier bei uns, in Chicago.“ Einige Reporter und Schaulustige fragten sich, was die Stadt wohl mit den Leichen gemacht habe. Das Massengrab ist über fünfzig Meter lang und hat weder eine Grabplatte noch einen Gedenkstein.

dt. Sigrid Vagt

* Forscher an der University of California, Berkeley.

Fußnoten: 1 Vgl. Serge Halimi, „L'université de Chicago, un petit coin de paradis bien protégé“; Douglas Massey, „Comment se perpétue l'apartheid“; Sudhir Venkatesh, „Gangs ou jeunes citadins à la dérive“; Robert Lopez, „Villes de riches, barrières comprises“, alle in „Le nouveau modèle américain“, Manière de voir, Nr. 31, August 1996. 2 Zitiert nach Chicago Sun Times, 25. Juli 1995. 3 Siehe Loic Wacquant, „Clinton reformiert Armut zu Elend“, Le Monde diplomatique, September 1996. 4 Vgl. die Texte von Simmel, Park, Burgess, MacKenzie in „L'École de Chicago; Naissance de l'écologie urbaine“, Paris (Aubier) 1990. 5 New England Journal of Medecine, 11. Juli 1996. 6 Loop (touristisches Stadtzentrum), Near Northside, Lincoln Park und Lake View. 7 Archer Heights, Brighton Park und McKinley Park. 8 72 Prozent der „nicht armen“ amerikanischen Haushalte sind mit Klimaanlagen ausgestattet, hingegen nur 50 Prozent der armen Familien und 41 Prozent der Familien, die von Sozialhilfe leben. 9 Vgl. Douglas Massey und Nancy Denton, „American apartheid“, Paris (Descartes et Cie.) 1995. 10 Loic Wacquant und William Julius Wilson, „Poverty, Joblessness and the Social Transformation of the Inner City“, in David Elwood u. a., „Welfare Reform for the 1990s“, Cambridge (Harvard University Press) 1989. 11 Michael Blandic verlor 1979 seinen Bürgermeisterposten, weil er sich als unfähig erwies, die Stadt sofort freizuschaufeln, als sie durch einen Schneesturm mitten im Wahlkampf lahmgelegt war.

Le Monde diplomatique vom 15.08.1997, von ERIC KLINENBERG