12.09.1997

Zu Gast im Intellektuellen-Varieté

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Zu Gast im Intellektuellen-Varieté

Von LOUIS PINTO *

FAST scheut man sich, über die Intellektuellen zu sprechen, eine Gruppe, die genug über sich selber redet, ja allem Anschein nach kaum eine andere Beschäftigung kennt. Es sind vor allem jene Paladine, die durch Fernsehsendungen und Podiumsdiskussionen zur Zielscheibe der Kritik werden, sei es wegen ihrer politischen Gleichgültigkeit oder weil sie Veränderungen, die sie nicht begreifen, nicht zur Kenntnis nehmen.

Die Öffentlichkeit schwankt angesichts dieser Debatten zwischen kultureller Apathie und jener Intelligenzfeindlichkeit, die in den Augen der Intellektuellen lediglich die natürliche Neigung der Massen zum Populismus offenbart. Die Auseinandersetzung über die Intelligenz unterliegt also einer Art Zensur, die nur Beiträge zu den inszenierten Diskussionen zuläßt, aber nicht erlaubt, die Bedeutung der diskutierten Themen und die Kriterien der Debattierenden in Frage zu stellen oder ganz allgemein über die Vergabe des Etiketts „Intellektueller“ nachzudenken. Zu einem Zeitpunkt, da andere Gruppen zum Gegenstand von Untersuchungen werden, die ihre Rekrutierungsmechanismen, aber auch ihre Verflechtung mit Politik und Wirtschaft aufdecken sollen, verfügt diese Fraktion über ein Monopol der Selbstbeschreibung.

Das öffentliche Bild der Intellektuellen zeigt einen Bruch zwischen der Außenwahrnehmung und den Modellen, die sie von sich selbst in Umlauf gesetzt haben. Jean-Paul Sartre dürfte eine der letzten Verkörperungen des Ideals vom universalen Sachverständigen gewesen sein: bevollmächtigt, sich zu allen Themen zu äußern, legitimiert durch das in seinen Werken präsentierte geistige Kapital. Ein Intellektueller dieses Typs ist besonders angreifbar, vor allem, wenn sich Differenzen zeigen zwischen Aussagen, die durch das Werk gedeckt sind, und wechselnden, eher vom Zeitgeist beeinflußten Standpunkten.

Um die Schwächen dieses Modells zu beheben, propagierte in den siebziger Jahren vor allem Michel Foucault einen bescheideneren Typus: den „spezifischen Intellektuellen“. In einem vom Aufschwung der Humanwissenschaften geprägten Klima war es nötig geworden, die Grenzen professioneller Kompetenz anzuerkennen und die geistigen Errungenschaften nach Ressorts zu gliedern. Solche Bescheidenheit war kein Notbehelf, auch keine Anpassung an den Stil des modernen Experten, sondern eine Methode, den Intellektuellen auf die Nutzung seines speziellen Wissens zu verpflichten, eine neue Art, die Rechte der intellektuellen und politischen Kritik geltend zu machen. Im Gegensatz zum Bild von der einsamen geistigen Heldengestalt war dieser Intellektuelle eher ein durch Akkumulation von Erfahrung und Wissen erzeugtes Gruppenwesen, er stand in der Spannung zwischen Kompetenz und aktueller Situation und war gehalten, sich selbst zu kritisieren.

Das ältere Modell besteht jedoch weiter, und zwar nur, weil es einer Generation von Erben ins Konzept paßte, die zweifellos nicht nach dem Geschmack Sartres gewesen wären. Als nach dem Mai 68 die Gegenbewegung einsetzte und die militante Parteinahme der jungen Intellektuellen Zweifeln und Revisionen ausgesetzt war, wurde ein Diskurs „im alten Stil“ eröffnet, der den „illusionären Charakter“ der Fortschrittsideale hervorhob (der Gulag als eigentliche Wahrheit des Marxismus), sich selbst jedoch erlaubte, weiter über den Lauf der Welt zu dozieren. Es war ein Gewaltstreich, der unter dem Banner einer „Generation“ geführt wurde, die allerdings ausschließlich aus einigen Individuen bestand, ehemaligen Militanten, die weniger durch ihr intellektuelles Gewicht als durch ihre ständige Präsenz auffielen. Ihnen gelang es, die Frage, ob sie gute Gründe gehabt hatten, das Lager zu wechseln, zu einem Problem globaler Tragweite hochzuspielen; sie verdeckten dadurch andere, weniger auffällige Strategien (Verbände, Forschung, Lehre), die alten Werte zu bewahren. Die „neuen Philosophen“ von 1975 waren im Grunde nichts anderes als die erste Version des Talmi-Intellektuellen.

Dieser Typus verdankt den Medien nicht nur seine Präsenz, sondern auch Inhalt und Form seines Denkens. Er ist entweder damit beschäftigt, unermüdlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Demokratie anzuprangern, oder den kultivierten Ästheten zu spielen. Er kann aber auch einfach durch intelligentes Geplauder faszinieren.

Prahlerische Herausforderungen an die Adresse der „Mächte“ gehen einher mit dem Kotau vor den Institutionen. Von nun an ist es nicht mehr lächerlich, wenn ein kühner Geist um einen Platz in der Académie française buhlt, in die Ehrenlegion aufgenommen wird oder gar, wie seit 1981 vorgekommen, die Rolle des staatstragenden Intellektuellen übernimmt (danach kann man dann Bücher schreiben und die Liaison „mit einem großen Knall beenden“). Lächerlich wäre es vielmehr, sich darüber aufzuregen: Die Versöhnung mit den Mächten dieser Welt soll schließlich das Ende der Ära des linken, utopischen Manichäismus besiegeln. Die Machtübernahme der Linken hatte für viele befreiend gewirkt: Von nun an war von ihr keine Kritik mehr zu fürchten; vor allem aber war nun so mancher Position ein fortschrittliches Etikett verliehen, die auf anderem Wege als dem der ehrlichen intellektuellen Arbeit erobert und befestigt worden war.

Vollzeitpräsenz ist nicht nötig

DIE Medien ermöglichen Prestigegewinne, aber auch Gewinne im materiellen Sinn, die unsere Vorstellung von den Intellektuellen verändert haben. Ihre wachsende Bedeutung für die kulturelle Produktion kann sogar zum Anlaß steriler Polemiken werden. Luc Ferry zum Beispiel kann ruhig öffentlich seine geistige Unabhängigkeit beteuern und den Kontrast zwischen den fünfzehn Stunden jährlich (besser als nichts), in denen er im Fernsehen präsent ist, und seinen fünfzehn Stunden täglicher Arbeitszeit hervorheben. Vollzeitpräsenz ist gar nicht notwendig für diese Autoren, denn die Medien fügen sich ein in einen größeren Kreislauf kultureller Produktion, zu dem vor allem der Buchmarkt und die Veranstaltungen zählen, bei denen Intellektuelle, Spitzenfunktionäre und Staatsmänner zusammentreffen. So ist besagter Luc Ferry zu dem Zeitpunkt, als er den „Prix Médicis“ erhält, zugleich Universitätsdozent für Politologie, Mitarbeiter von Esprit und Débat, Kolumnist in Wochenzeitungen und Mitglied der Stiftung „Saint-Simon“, wo er vor einflußreichem Publikum seine Ideen zu Themen erproben kann, die gerade in der öffentlichen Diskussion sind, wie etwa das „ethische“ Denken der Ökologie.

Die Talmi-Intellektuellen tragen ihr Teil zum Zeitgeist bei, sogar in Bereichen, die den Medien scheinbar fernstehen. Auffälligstes Merkmal ist etwas, das man als die Ersetzung der Kritik durch „Intelligenz“ bezeichnen könnte. Jene Geister, die sich für originell, einzigartig, „anders“ halten, definieren sich in Abgrenzung zu dem Bild, das sie vom Intellektuellen alten Stils zeichnen, der, wie sie sagen, doppelt geknechtet ist: auf theoretischer Ebene durch verknöcherte Methodik und „geschlossene“ Klassifikationen, die die Wahrnehmung des Neuen verhindern, auf politischer Ebene durch „Mythologeme“ wie „Das Volk“ und „Der Fortschritt“, die aus der naiven Vorzeit der Prä-Postmoderne stammten.

Jeder in seiner Domäne, ob politische Philosophie oder Wissenschaftsgeschichte, führt den großen Kampf der „Differenz“ gegen die „Identität“, der „Pluralität“ und „Alterität“ gegen „Einheit“ und „Totalität“. Die Wiederholung dieser Themen ergibt schließlich eine universell anwendbare und handliche Gebrauchsanweisung zur Ermittlung der Kluft zwischen den wahrhaft schöpferischen Geistern auf der Höhe der Zeit und den unglücklichen Zurückgebliebenen, die, wie es inzwischen heißt, in den Käfigen des „Selben“ schmachten.

Das neue soziale Weltbild beruht auf einer Abwertung der unteren Bevölkerungsschichten: Wie vom Marxismus heißt es auch von ihnen, ihre Zeit sei abgelaufen, sie seien Zentrifugalkräften ausgesetzt, die sie auseinandertreiben. Die gegenwärtige Phase sei gekennzeichnet durch das „Ende des Sozialen“. Keine Theorie könne mehr einer Wirklichkeit gerecht werden, die sich jedem „System“ entzieht: In einem gleichsam heraklitischen Strom bilden sich Individuen mit multiplen Identitäten, hier Arbeitslose, da Mitglieder eines Gesangsvereins, dort Schachspieler und Heimwerker, und allesamt tolerant gegenüber der „Differenz“.

Einige Autoren sind rasch bei der Hand, die Wissenschaftsroutine in der Soziologie ihrer Kollegen aufzudecken. Jean Baudrillard, einer der Denker, die bei Libération in Ehren stehen, schreibt zum Beispiel: „Die Soziologie (...) basiert allein auf der positiven und bestimmten Voraussetzung des Sozialen. Die Trockenlegung, die Implosion des Sozialen kann sie nicht erfassen. Die Hypothese vom Tod des Sozialen ist zugleich die ihres eigenen Todes.“1 Anstatt sich zu fragen, inwieweit sich die Todes-Prophezeihung der Sichtweise des Propheten verdankt, stürzt der postsoziologische Denker das Soziale (oder sein Idee?) in den Taumel des Werdens. Die Theoretiker der sozialen Bewegungen, die den Denkansätzen der organisierten Linken etwas näher stehen, greifen diese Art der Prophezeihung auf; allerdings in einer deutlich gemilderten Version, die der Hoffnung Raum läßt. Andere Helden treten die Nachfolge des Proletariats als Träger der Erneuerung und der schöpferischen Kraft an: die zweite Linke, die innovativen Schichten, die „Minderheiten“.

Jeder kann sich nach seinen Quellen eine Methode zurechtbasteln, um sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen. Unter dem Slogan „Nichts wird bleiben, wie es war“ kann man versuchen, ein metarationales Weltbild zu entwerfen, das durch die „Errungenschaften der harten Wissenschaften“ (Genetik, Urknall-, Katastrophen- und Chaostheorie) ausgewiesen ist. Ist sie erst einmal auf einen Satz naiver Wissenschaftsrezepte reduziert, schreit die ordinäre Rationalität geradezu danach, durch die großen, auf erhabene Weise „hybriden“ Synthesen übertroffen zu werden, die den Puls der postmodernen Propheten beschleunigen.2 Diese überschwengliche Begriffsbildung scheint nicht allzuweit entfernt von einem anderen Weg zum Heil, der intelligenten Religiosität großen Stils (ohne Katechismus), zu der wir jetzt so manche „Umkehr“ erleben.

dt. Martin v. Koppenfels

* Philosoph und Soziologe, Mitglied der Gruppe „Raison d‘agir“ (“Grund zum Handeln“).

Fußnoten: 1 Jean Baudrillard, „A l'ombre des majorités silencieuses ou la fin du social“, Paris (Denoäl-Gonthier) 1982, S. 8. 2 Die Arbeit des Prophetenlehrlings scheint etwa die folgende: Nach einigen Minuten der Konzentration fragt er sich, „gegen all unsere philosophischen Gewohnheiten“, ob das Subjekt wirklich das Subjekt, das Objekt das Objekt, das Phänomen das Phänomen sei, und ob man nicht versuchen könne (wenigstens probeweise), alles anders zu sehen, was man zu wissen glaubte.

Le Monde diplomatique vom 12.09.1997, von LOUIS PINTO