12.09.1997

Das große Heimweh der Flüchtlinge in Kasachstan

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Das große Heimweh der Flüchtlinge in Kasachstan

Von CLAUDE LISCIA *

ICH bin hier geboren, doch mein Herz ist drüben. Wir Uiguren träumen von der Unabhängigkeit. Die Kasachen und die Kirgisen haben sie erlangt. Wir sind eines der ältesten Turkvölker, aber wir leben noch immer unter dem Joch.“ So sagt es Saud bei unserer Begegnung in einem uigurischen Viertel von Almaty, der Hauptstadt Kasachstans.

„Drüben“, sagen sie, wenn sie von ihrer Heimat sprechen. Sie nennen sie niemals Sinkiang – ein geächtetes Wort, das an die chinesische Besetzung erinnert –, sondern Ost-Turkestan oder Uigurstan. Dieses Gebiet östlich von Kasachstan, dessen Größe ungefähr der des Iran entspricht, ist reich an Gold und Erdöl und war, mitten zwischen den großen Reichen gelegen, im Laufe der Jahrhunderte sehr begehrt.1 Bevor es von China annektiert wurde, bildete es vorübergehend (von 1945 bis 1949) die Republik Ost-Turkestan.

Im Rhythmus der Repressionswellen in Sinkiang sind Ströme von uigurischen Flüchtlingen ins sowjetische Zentralasien gekommen. Die zahlenmäßig größte Diaspora lebt in Kasachstan: 185000 sind es laut der Volkszählung von 1989 – eine Zahl, die die Betroffenen für viel zu niedrig angesetzt halten. Turksprachig und muslimisch wie die Kasachen, unterscheiden sich die Uiguren von diesen durch ihre Physiognomie, die weniger asiatisch als türkisch ist, und durch ihre Tracht: Käppi, Stiefel und ärmellose Weste. Weder die doch verwandte Sprache noch die Religion haben die beiden Völker einander näherzubringen vermocht.

Seßhaft seit dem 7. Jahrhundert, konnten die Uiguren eine Kultur, eine Sprache und eine Schrift entwickeln: „Man nennt uns die Juden Zentralasiens“, erklärt stolz Mahmud, unser Dolmetscher. Er ist ein Uigure, der aus einer prominenten Intellektuellen-Familie stammt, die die Deportation in den sowjetischen Gulag und den Widerstand in China erlebt hat. Die Kasachen, die bis ins 20. Jahrhundert Nomaden waren, unterlagen stärker den Einflüssen von außen. Mehr als die anderen Völker Zentralasiens wurden sie russifiziert und ihrer Sprache beraubt. Sie sind auch gleichgültiger gegenüber der Religion. So war früher der Imam der großen Moschee in Alma-Ata (der ehemalige Name von Almaty) häufig ein Uigure oder ein Tschetschene – Minoritäten, durch die der Islam neuen Aufschwung erhält.

Almaty wird nicht mehr lange die Hauptstadt von Kasachstan sein. Diese Rolle soll bald Akmola (zu deutsch: Weißes Grab) übernehmen, das ganz im Norden liegt. Die uigurischen Viertel liegen am Stadtrand. Es sind ehemalige Dörfer, die durch die Ausweitung des städtischen Ballungsraums eingemeindet wurden. Die Uiguren sind eigentlich Bauern. In ihren Gärten und auf ihren Feldern bauen sie Paprika, Tomaten, Trauben und Blumen an, aber keine Kartoffeln. Im Viertel Druschba (russisch: Freundschaft), in der Nähe einer ehemaligen Kolchose, leben vierzehn Nationalitäten zusammen, darunter eine große Minderheit von Russen. Es ist ein hübsches Dorf mit blauen Häuschen und Hof und Garten drumherum, aus denen Hühnergegacker und Blöken und Meckern zu hören ist. In der Ferne zeichnet sich die verschneite Bergkette des Zailiskij Alatau ab.

Viele uigurische Einwohner von Druschba kamen Anfang der sechziger Jahre hierher, gleichzeitig mit vielen russischen Flüchtlingen aus Sinkiang, die durch den russisch-chinesischen Konflikt aus ihren Dörfern vertrieben worden waren. Für alle bedeutete der Weggang, Haus, Geld und Vieh aufzugeben. Bei ihrer Ankunft in Kasachstan gab man ihnen 3000 Rubel und Arbeit.

Gehätschelte Minderheit

FRÜHER arbeiteten 60 Prozent der Einwohner von Druschba in der Kolchose und 40 Prozent in der Fabrik. Die Kolchose wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgelöst, viele Fabriken stillgelegt.2 Deshalb versuchen Uiguren wie Kasachen ihr Glück im Handel auf den Märkten. Murat, den wir in einem Haus trafen, wo gerade eine Beschneidung gefeiert wurde, kauft auf dem Gemüsemarkt sackweise Zwiebeln und Karotten von Grossisten, die aus verschiedenen Regionen dorthin gelangen, und verkauft sie dann weiter im Basar. Damit verdient er 200 bis 400 Tengis pro Tag.3 Als Rentner bezahlt er für seinen Stand nur eine Tagesgebühr von 80 statt 400 Tengis. Auf diese Weise bessert er seine Rente von 3000 Tengis so weit auf, daß er gerade davon leben kann.

In einem kleinen Zimmer des Hauses liegen auf dem Fußboden die beiden Jungen, die gerade beschnitten worden sind. Die Gesichter der umstehenden Männer sind ernst. Zögernd erzählen einige, daß sie mangels fester Arbeit regelmäßig nach China fahren oder in die Türkei, um sich Kleidung zu beschaffen, die sie hier weiterverkaufen, Damit verdienen sie 200 bis 500 Tengis pro Tag.

Wie zur Zeit der Sowjetunion schicken sie ihre Kinder in die uigurische Schule des Viertels, die zur Erinnerung an einen Revolutionär vom Anfang des Jahrhunderts den Namen Abdulah Rosebakajew trägt. Der Unterricht findet auf uigurisch statt. Es werden aber auch Kurse in kasachisch, russisch, arabisch und englisch erteilt. Die Schülerzahl ist in zehn Jahren von 400 auf 1200 gestiegen – Symptom eines wiedererstarkenden Nationalgefühls, aber auch Zeichen eines Orientierungsverlusts, denn Russisch scheint nicht mehr unumgänglich, und die kasachische Schule wird selbst von den Kasachen für minderwertig gehalten.

Die beiden Direktoren der Rosebakajew-Schule, der alte und der neue, stehen mit ihren sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten für zwei verschiedene historische Zeitpunkte. Pulat, der Rentner, ein gebildeter Mann, ist hier geboren, wie auch schon sein Vater und Großvater – nicht ohne Grund wird der Bezirk Almaty „uigurische Region“ genannt. Als Atheist ist er weniger repräsentativ für sein Volk als für einen kommunistischen Beamten, der von den sowjetischen Machthabern eingesetzt wurde. Nur wenige Uiguren traten in die Kommunistische Partei ein, insbesondere weil nicht viele die russische Sprache beherrschten.

Wie viele andere seiner Generation ist Pulat den kommunistischen Idealen treu geblieben, auch wenn er durchaus „Fehler in der Praxis“ einräumt. Aber „seit es die Kolchose nicht mehr gibt, sind die Leute verloren. Früher wurden die Renten bezahlt, der Stadtteilrat half den Alten, den Waisen, den Invaliden, baute Straßen und sorgte für die Lieferung von Gas und Elektrizität. Jetzt wird alles sich selbst überlassen.“ Die einzige noch bestehende soziale Struktur ist die Stadtteilvereinigung der Uiguren. Aber sie hat kein wirkliches Budget, und die Mitgliedschaft ist Pflicht.

Der neue Direktor, Schawkat, ein Dreißigjähriger mit verwegenem Schnurrbart, sagt, er sei vom Lehrerkollektiv, das schnell die Machtbefugnisse übernommen hat, „wegen seiner Intelligenz“ gewählt worden. Er wurde 1961 „drüben“ geboren. Ein Jahr später kamen seine Eltern hierher, wo seine beiden Großmütter geboren waren. Sie waren in ihrer Kindheit nach „drüben“ ausgewandert. Schawkat leitet die Schule mit der Vorstellung, daß sein Land jenseits der Grenze eines Tages frei sein wird. Er will die Schüler auf das Leben dort vorbereiten. Er ist also ein Verteidiger der uigurischen Sache, aber eher verdeckt, um in seinem Amt nicht zu viel Ärger zu bekommen.

Am Tag unseres Besuchs fand in der Schule eine Versammlung von Männern – alles Uiguren – statt, die gerade von einem Kongreß in der Türkei zurückgekommen waren. Zweifellos hatte Schawkat die Polizei darüber informiert, wie er sie auch über die unverhoffte Begegnung mit einer französischen Journalistin in Kenntnis würde setzen müssen. „Das ist normal. Es ist für ihn ausgeschlossen, nicht zu kollaborieren“, erklärt uns Mahmud. Unangenehm berührt, als wir ihn über sein Verhältnis zur Macht befragen, kürzt Schawkat das Interview ab und stellt klar: „Hier ist unsere zweite Heimat. Wir bekämpfen China, nicht Kasachstan.“

Pulat, der ehemalige Schulleiter, ist direkter: „Kasachstans Unabhängigkeit ist eine gute Sache für die Kasachen, aber nicht für die Uiguren, die sich mit den Russen immer gut verstanden haben und sich notfalls an Moskau wenden konnten.“ Drei Schulen in uigurischer Sprache in Alma-Ata, das war, proportional gesehen, in der Tat weit mehr, als die Kasachen unter dem sowjetischen System besaßen. Die Uiguren hatten eigene Zeitungen, eigene Radio- und Fernsehsendungen, eigene Verlage und ein Theater in Alma-Ata. Die Sowjetmacht hätschelte diese Minorität und benutzte sie auch in dem Konflikt mit China. Propagandazeitungen wurden von hier über die Grenze gebracht. Manche uigurischen Intellektuellen gingen so weit, die Autonomie für ein Teilgebiet im Osten Kasachstans zu fordern. Daraus ergab sich ein eindeutiger Interessenwiderspruch mit den Kasachen.

Als 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, hofften viele Uiguren, hüben wie drüben, daß die Erschütterung sich auch auf das chinesische Imperium auswirken würde. Als Kasachstan unabhängig wurde, entstanden zwei uigurische Bewegungen, die von den Behörden nicht anerkannt, aber geduldet wurden. In der uigurischen Gemeinde traten widersprüchliche Bestrebungen zutage. Die einen hätten gern die Umstände genutzt, um die Autonomie zu fordern. Andere dagegen hielten eine solche Forderung für unrealistisch in einem traditionell multiethnischen Land, wo noch dazu die Russen im Norden – mit Unterstützung seitens der Moskauer Extremisten (der nationalistische Führer Wladimir Schirinowski stammt aus Alma- Ata) – von dem Wunsch nach Sezession verlockt werden. Heute ist man von solchen Spekulationen weit entfernt. Jedenfalls, sagt Mahmud, „wäre die Autonomie eine schlechte Lösung gewesen. Unser Vaterland kann nur drüben sein.“

„Wenn ich Deutscher wäre, wäre ich nach Deutschland gegangen. Auch die Uiguren und die Koreaner aus Kasachstan würden fortgehen, wenn sie wüßten, wohin“, hatte uns 1994 Bulat Atabajef, ein kasachischer Regisseur, gestanden und war fortgefahren: „Gestern die Russen, heute die Kasachen, aber es ist immer noch die gleiche sowjetische Mentalität. Die Deutschen, die hier leben, haben heutzutage keine Möglichkeit, ihre Sprache und ihre Kultur zu entfalten. Sie können also keine Intellektuellen hervorbringen. Aber ohne Intellektuelle lebt ein Volk nur auf Sparflamme.“

Dies trifft auch auf die Uiguren zu. In der gleichen Zeit wurden wir von einem Dutzend Wissenschaftler am uigurischen Institut empfangen. Dieser lebendige Mittelpunkt von Kultur und Hoffnung für die Uiguren in Kasachstan wurde im Januar 1996 aufgelöst und ging im Zentrum für orientalistische Studien auf. Das uigurische Theater ist mangels eines Hauses seit einigen Jahren nicht mehr in Betrieb – allerdings hat die Regierung einen Kredit für den Theaterbau bewilligt. Im Fernsehen wurde die Sendung in uigurischer Sprache gestrichen, und die beiden Tageszeitungen für diese Bevölkerungsgruppe wurden gezwungen, zu einer einzigen Wochenzeitung zu fusionieren.

Das Mißtrauen gegenüber Intellektuellen greift in Kasachstan um sich. Die Akademie der Wissenschaften leidet unter einer weitreichenden Stagnation, seit sie im Juli 1996 dem Wissenschaftsministerium unterstellt wurde. Das Nationaltheater Auezow mit seinem schweren russischen Mobiliar macht einen trostlosen Eindruck. Die Maler, ob Kasachen oder Uiguren, stoßen auf große Schwierigkeiten. Doch im Rahmen dieser allgemeinen kulturellen Verarmung bleiben die wenigen von den Regierenden verteilten Brosamen den Kasachen vorbehalten. Die anderen Nationalitäten wurden aus der Verwaltung eliminiert.

Leben in der Sackgasse

DAS Gesetz vom November 1996 über die Sprachen in Kasachstan hat diese „Kasachisierung“ noch verstärkt. Es sieht den obligatorischen Gebrauch des Kasachischen in öffentlichen Einrichtungen vor, und zwar ab 2001 für die Kasachen und ab 2006 für die Angehörigen der anderen Nationalitäten. Mit der Absetzung des Premierministers Sergej Tereschtschenko, eines Ukrainers, im Oktober 1994 und der Pleite der mächtigen Krams-Gruppe, unter deren Verantwortlichen kein einziger Kasache war, hat sich das gleiche Phänomen auch auf die großen Privatunternehmen ausgedehnt. Zwar haben einige uigurische Händler einen gewissen Wohlstand erlangt, doch ohne gesellschaftliche Spitzenpositionen zu erreichen. Sie haben keine Beziehungen zu der russischsprachigen Lobby, wie einige Koreaner, oder zur kasachischen, wie einige Juden aus Zentralasien.

Das ist der politische und ökonomische Kontext, in dem sich gegenwärtig die uigurische Frage in Kasachstan stellt. Eingezwängt zwischen zwei große Blöcke – 6000 Kilometer gemeinsame Grenze mit Rußland und Hunderte Kilometer mit China, wobei der genaue Grenzverlauf noch umstritten ist –, ist der diplomatische Spielraum des Landes eingeschränkt. Einerseits hat es am 29. März 1996 ein Abkommen mit Rußland, Kirgisistan und Weißrußland geschlossen; andererseits hat es am 26. April 1996 auf dem Gipfeltreffen in Schanghai einen Vertrag mit China unterzeichnet. Diese diplomatischen Gesten haben die Spannungen verschärft und den Wunsch nach Auswanderung zugespitzt. Aber wohin?

Der Gipfel von Schanghai, bei dem sich die Präsidenten Rußlands, Kasachstans, Tadschikistans, Kirgisistans und Chinas getroffen haben, hat eine Sicherheitszone an der Grenze zwischen China und den vier Mitgliedstaaten der GUS festgelegt. Vorgesehen sind auch der Rückzug der Militäreinheiten auf eine Entfernung von 100 Kilometer von der Grenze und gegenseitige Benachrichtigung über die Truppenbewegungen.

Die Uiguren laufen dabei Gefahr, daß diese diplomatische Entwicklung auf ihre Kosten geht. Der Kooperationsvertrag von 1995 zwischen Kasachstan und China schloß die Bekämpfung des Separatismus ein. Daraufhin wurden die beiden uigurischen Organisationen in Kasachstan verboten. Im November 1995 wurde sogar ein kulturelles Welttreffen der uigurischen Jugend, das langfristig in Almaty geplant und genehmigt war, abgebrochen, als Teilnehmer Fahnen und Karten ihres Landes hervorholten. Kurze Zeit nach dieser Veranstaltung wurde Aschir Vahidi, eines der führenden Mitglieder dieser Organisationen, angegriffen und schwer verletzt.

All dies macht verständlich, wieso die Uiguren in Kasachstan in einer Furcht leben, die vor drei Jahren noch nicht wahrnehmbar war und bei den anderen Minoritäten nicht zu spüren ist. „Wenn China auf Kasachstan Druck ausüben würde, die Uiguren zu verfolgen, könnte Kasachstan dem durchaus Folge leisten“, stellt Pulat fest. „Doch Peking könnte eine solche Forderung nur erheben, wenn die hier lebenden uigurischen Organisationen Unruhe stiften würden. Davor hüten sie sich wohlweislich, denn sie sind entschlossen, ihren Gegner nicht offen zu bekämpfen.“

dt. Sigrid Vagt

* Forscher am CNRS (Centre d‘étude des mouvements sociaux).

Fußnoten: 1 Vgl. René Cagnat und Michel Jan, „Le milieu des empires. Entre URSS, Chine et islam, le destin de l'Asie centrale“, Paris (Robert Laffont) 1990. 2 Im Januar 1996 waren Schätzungen der französischen Botschaft in Alma Ata zufolge 70 Prozent der Industriebetriebe in Kasachstan stillgelegt, und die Getreideproduktion war von 32 Millionen Tonnen in den achtziger Jahren auf 22 Millionen Tonnen 1994, und im Jahre 1995 sogar unter 10 Millionen Tonnen gesunken. 3 Bei Kosten von schätzungsweise 102 Tengis pro Tag für den Haushaltskorb reicht ein Einkommen von 3000 Tengis kaum aus, um für den täglichen Bedarf einer Familie aufzukommen.

Le Monde diplomatique vom 12.09.1997, von CLAUDE LISCIA