12.09.1997

Der egalitäre Liberalismus der Jakobiner

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Der egalitäre Liberalismus der Jakobiner

ALS Verfechter der Gleichheit konnten die Jakobiner nichts anderes sein als die Totengräber der Freiheit und die Vorläufer der Bolschewiken. Diese Sichtweise wird in der Geschichtsschreibung seit den Arbeiten von François Furet kaum bestritten. Ihr zufolge ist die Freiheit notwendig inegalitär. Eine genauere Untersuchung der Französischen Revolution zeigt jedoch, daß sowohl für die Girondisten wie für die Montagnards Armut gleichbedeutend war mit Mangel an Freiheit. Und dies erforderte, unter anderem, die Steuerprogression. Wohingegen selbst die unnachgiebigsten Jakobiner darauf hofften, daß die Selbstbescheidung der Reichen und die moralische Gleichheit aller die sozialen Ungleichheiten beseitigen würden.

Von JEAN-PIERRE GROSS *

Daß die Jakobiner ein egalitäres Ideal hatten, versteht sich von selbst. Als Schüler Rousseaus waren sie bestrebt, jede Art von Ungleichheit, die den Niedergang des Ancien régime überlebt hatte, zu beseitigen, und nachdem 1789 die Gleichheit vor dem Gesetz verwirklicht worden war, sollte 1793 das Zeitalter echter Gleichheit anbrechen. Doch zu behaupten, daß die Jakobiner als Schüler Montesquieus zugleich dem Liberalismus anhingen, hört sich zunächst paradox an. Sind Freiheit und Gleichheit nicht a priori unvereinbar? Je mehr Freiheit es gibt, desto mehr Ungleichheit bringt der Wettbewerb hervor, und wer sich umgekehrt für mehr Gleichheit einsetzt, kommt nicht umhin, die Freiheit zu beschneiden, indem er Reichtümer und Vorteile umverteilt. Deshalb war Montesquieu in seinem Gesellschaftsprojekt so sehr bemüht, die richtige Dosierung beider Bestandteile zu finden, wobei er die Freiheit für wünschenswerter hielt als die Gleichheit und die Ungleichheit für ein geringeres Übel als den Despotismus.

Zu diesem philosophischen Dilemma kommt die historische Problematik der Schreckensherrschaft hinzu. Schließlich haben uns moderne Autoren darüber belehrt, daß diese keineswegs bloß ein von den „Umständen“ erzeugtes repressives Regime war, das notgedrungen die Freiheit einschränken mußte, sondern vielmehr eine egalitäre Ideologie, die eine moralische Erneuerung und Gleichschaltung der Gesellschaft zum Ziel hatte. So verurteilen Luc Ferry und Alain Renaut den Jakobinismus wegen seiner ethisch- voluntaristischen Auffassung der Menschenrechte, denn ebendiese Sicht berge die „historisch nachweisbare“ Gefahr der Schreckensherrschaft in sich.1 François Furet und Mona Ozouf ihrerseits meinen, daß die Zustimmung zu Zwangsmaßnahmen die wahre Scheidelinie im Konvent bildete: Indem Robespierre und seine Anhänger die Reichen um jeden Preis zur Gleichheit bekehren und sie „zwingen“ wollten, „ehrenhaft zu sein“, leiteten sie das totalitäre Zeitalter ein, und der Kult der Gewalt mußte nur auf den „bolschewistischen Ableger“ warten, um im 20. Jahrhundert zur revolutionären Notwendigkeit zu avancieren.2

Sicher hat der wohlwollende Blick linker Historiker das Seine getan, damit sich dieser Gedanke einer klaren historischen Kontinuität in den Köpfen festsetzte. Sah Albert Mathiez in Robespierre etwa nicht den Geistesverwandten von Babeuf, zu einem Zeitpunkt, als letzterer bereits zu einem Vorfahren der proletarischen Revolution erhoben worden war? Im Jahr 1928, zur Zeit der „Entkulakisierung“ in der UdSSR, hat derselbe Mathiez sich nicht gescheut, die Agrarpolitik der französischen Jakobiner des Jahres II als einen Großversuch darzustellen, eine Klasse zugunsten einer anderen zu enteignen. Obwohl diese Interpretation von seinen Nachfolgern merklich modifiziert worden ist, bleibt es doch dabei, daß die Marxisten in dem jakobinischen Experiment eine Vorwegnahme der ideologischen Kämpfe der Moderne gesehen haben.

Derartige Gleichsetzungen und die damit verbundenen Vorbehalte geben zu denken. Sie machen deutlich, daß man das Wesen des jakobinischen Egalitarismus, der sich auf den Individualismus von 1789 und die Logik der Menschenrechte gründet, völlig verkannt hat. Die zweite Menschenrechtserklärung von 1793, die von Girondisten und Montagnards gemeinsam ausgearbeitet wurde (in der Hauptsache von Condorcet und Robespierre), proklamiert als natürliche Rechte „Gleichheit, Freiheit, Sicherheit und Eigentum“.

Diese Rechte gehen letztlich auf John Locke zurück, den Vater des modernen Liberalismus, für den das Recht auf Eigentum „Leben, Freiheit und Güter“ umfaßte wie auch die Möglichkeit, Reichtum anzuhäufen und dessen Früchte zu genießen; der daneben aber auch die natürliche Gleichheit betonte und „das gleiche Recht auf Freiheit“, welches nach dem Reziprozitätsprinzip die Pflicht einschließt, das Recht des anderen auf Freiheit zu respektieren. Wie Amartya Sen, der Theoretiker des angloamerikanischen Utilitarismus, richtig bemerkt, ist die Gleichheit nicht allein ein grundlegendes Merkmal der liberalen Vorstellung von gesellschaftlicher Organisation (gleiche Freiheit und gleiche Achtung für alle), sondern der postulierte Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit ist künstlich und unzutreffend, da die Freiheit ein mögliches Anwendungsgebiet der Gleichheit ist und die Gleichheit ein mögliches Verteilungsschema der Freiheit.

Moderater Interventionismus

WENN die Menschenrechtserklärung von 1793 im Unterschied zu der von 1789 die Gleichheit der Freiheit voranstellt, so deshalb, weil ein wirtschaftliches Hindernis der Verwirklichung gegenseitiger Rechte im Wege steht: die Armut. Das wiederum heißt, daß Gleichheit hier in erster Linie die Sicherung des Existenzminimums meint. Wenn arm zu sein nicht nur bedeutet, kein Brot zu haben, sondern vor allem, wie Amartya Sen sagt, „der Freiheit beraubt zu sein“, ist ein gewisser Wohlstand unerläßlich, damit sie genossen werden kann. Die Erklärung von 1793 aber, die in ihrem ersten Artikel „das gemeinsame Glück“ zum Ziel der Gesellschaft erhebt, hält ausdrücklich fest, daß es Aufgabe der Regierung ist, „dem Menschen den Genuß seiner Rechte zu garantieren“. Nur wenn diese soziale Vorbedingung erfüllt ist, können auch die unteren Schichten etwas mit den Menschenrechten anfangen, nur dann können sie, mit den Worten Robespierres, in „ehrenwerter Armut“ leben.

Die jakobinische Menschenrechtserklärung, die während der gesamten Dauer der Schreckensherrschaft überall öffentlich aushing, zielt ganz offensichtlich weder auf absolute Gleichmacherei noch auf Gütergemeinschaft. Sie verbleibt im Kontext einer präkapitalistischen Marktwirtschaft, die auf dem Privateigentum basiert, und möchte Freiheit und Gleichheit durch das einigende Band der Brüderlichkeit versöhnen: Immerhin verlangt Robespierre bereits 1790 als erster, daß diese drei Worte gemeinsam auf den Fahnen der Nationalgarden stehen. Was hier vorliegt, ist das Projekt einer Gesellschaft, die sich als „Familie von Brüdern“ versteht, in der jeder seinen Platz findet, nicht um Nahrung, Kleidung oder Wohnung bangen muß, ja sogar ein kleines Stück Ackerland erhält, und in der jeder nach seinen Kräften und Möglichkeiten einen naturgemäß ungleichen Beitrag zum Gemeinwohl leisten soll. Oder anders gesagt: das Projekt einer Verteilungsgerechtigkeit, bei dem es mehr um Gleichberechtigung als um Gleichheit im strengen Sinn geht. Die Gleichberechtigung nämlich verlangt einen gewissen Ausgleich zwischen Überfluß und Entbehrung, wobei die verbleibende Ungleichheit aber niemandem schadet, sondern – entsprechend den Ausführungen des amerikanischen Philosophen John Rawls – über kurz oder lang zum „gemeinsamen Glück“ beiträgt.3

Dieses Ideal, von dem man am Ende des 20. Jahrhunderts nur träumen kann, nimmt im Zeitalter der Aufklärung allmählich deutliche Gestalt an, doch seine Wurzeln liegen teilweise noch im dunkeln. Zum einen entsteht in Frankreich in der Tradition der „Heldenleben“ Plutarchs und des „Telemach“ von Fénelon ein Egalitarismus nach antikem Vorbild, der den Luxus geißelt, woran später Montesquieu, Rousseau und Mably anknüpfen. Gleichzeitig aber entwickeln die präklassischen französischen Ökonomen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Nachfolge Lockes ein liberal-humanistisches Projekt gesellschaftlicher Solidarität, das sich auf die natürliche Gleichheit stützt. Der Ausarbeitung dieses egalitären Liberalismus französischer Prägung, der zum Merkantilismus ebenso im Gegensatz steht wie zu der klassischen liberalen Tendenz, die in den Kapitalismus mündet, widmen sich so eminente Köpfe wie Boisguilbert, John Law, Melon, Vincent de Gournay und Véron de Forbonnais.

Seine hervorstechenden Merkmale sind dabei die Betonung des gleichen Rechts auf Freiheit und auf Eigentum; die zentrale Rolle, die der solidarischen Verbindung zwischen dem Warenverkehr und der Bedürfnisbefriedigung zugewiesen wird; die Aufwertung der Klasse der Kleinproduzenten (Bauern und Handwerker) und ihres Beitrags zum allgemeinen Wohlstand; die entscheidende Rolle, die der Staat als „Beschützer der großen Familie“ spielen soll, indem er auf eine ausgewogene Verteilung achtet und die soziale Harmonie befördert. Die „gut verwaltete Gesellschaft“, die diesen Liberalen vorschwebte, ist gleich weit entfernt vom zügellosem Laisser-faire und vom Dirigismus: Ihr moderater Interventionismus erinnert eher an eine gesteuerte Wirtschaft nach keynesianischem Muster.

Doch diesem Ideal setzt sich ab 1758 die mit Macht aufstrebende Physiokratenbewegung entgegen, die eine auf den Agrarkapitalismus gestützte Bereicherung propagiert, den freien Wettbewerb, die Zerschlagung des Korporatismus und eine vereinfachte Steuergesetzgebung. Die Begeisterung für die Thesen der Physiokraten, die von Turgot übernommen und teilweise in die Praxis umgesetzt wurden, führte dazu, daß die Ideen der egalitären Liberalen in der Wirtschaftsgeschichte in Vergessenheit gerieten. Dennoch ist ihnen die Einsicht zu verdanken, daß Ökonomie und Moral keine Gegensätze sind, wenn man den Reichtum nicht allein als quantitative Maximierungsgröße ansieht, sondern als das Ergebnis eines ökonomisch-sozialen Gleichgewichts. Genau das tun der Chevalier de Jaucourt und der Generalsteuereinnehmer Graslin, als sie sich für eine Steuerprogression als Instrument fiskaler Gerechtigkeit einsetzen, und das tut auch der Bankier und Wirtschaftstheoretiker Necker, als er 1775 Turgot im Streit um die Freiheit des Getreidehandels entgegentritt: Necker als Interventionist, Verteidiger der Kleinverbraucher und Apostel der „allgemeinen Harmonie“, auf seine Weise ein Vorläufer der Jakobiner!

Diese machen sich die ökonomischen Überzeugungen der Aufklärer zu eigen. Der Graben zwischen Girondisten und Montagnards ist dabei übrigens weniger tief, als man gewöhnlich meint: Beide sprechen sich etwa für eine Einkommensteuerprogression aus. Doch während der großen Debatte im Herbst 1792 über den freien Getreidehandel kommt es zum Konflikt. Gegenüber Vergniaud und Creuzé-Latouche, die als Lobredner der „uneingeschränkten Freiheit“ auftreten, verteidigt Robespierre das „Recht auf die Existenz“. Im Rückgriff auf Rousseau, der behauptet hat, daß im Naturzustand „die Früchte allen gehören und der Boden niemandem“, betont Robespierre, daß die Eigentumsrechte dort enden, wo sie den Menschen die Existenzgrundlage entziehen, die „ebenso heilig ist wie das Leben selbst“. Damit stellt er der Marktwirtschaft die Idee einer „moralischen Ökonomie“ gegenüber. Ein Standpunkt, der auch von dem jungen Saint-Just verfochten wird, dem es schwerfällt, die Theorie Adam Smith', wonach das freie Spiel der Interessen das Hauptkriterium wirtschaftlichen Handelns sein soll, mit der traurigen Tatsache zu vereinbaren, daß „die Hartherzigen, die nur an ihr eigenes Fortkommen denken“, der „sozialen Harmonie“ schweren Schaden zufügen. Für Liberale, die es ablehnen, persönliches Interesse mit Egoismus gleichzusetzen, eine bemerkenswerte Einstellung.

Doch obwohl die Jakobiner sich einer maßlosen Anhäufung materieller Güter widersetzen, fordern sie kein „Ackergesetz“, also keine Aufteilung des Grundbesitzes. Während seiner gesamten politischen Laufbahn hat Robespierre, der Vorkämpfer der Sansculotten, das Recht auf Eigentum verteidigt, vor allem im Blick auf die einfachen Leute, die von ihrer Hände Arbeit leben müssen und deren „bescheidene Einkünfte“ und „kleinen Ersparnisse“ ein „um so heiligeres“ Eigentum sind, als „derjenige, der wenig hat, um so mehr an der Erhaltung dieses wenigen interessiert ist“. Seine Warnungen vor dem Anwachsen der Privatvermögen und dem Aufstieg des Großkapitals hindern ihn nicht daran, einen Eigentumsbegriff zu vertreten, der mit dem von Locke und Smith identisch ist. Mit einer Ausnahme allerdings: Die Freiheit, sich zu bereichern, darf nicht auf Kosten derer gehen, denen die Mittel dazu fehlen. Und ist es nicht geradezu ein Zeichen von Liberalismus und Humanismus, wenn Robespierre behauptet, daß wir „kein anderes Gesetz als die völlig grenzenlose Freiheit“ bräuchten, falls sich nur die Reichen als „Vermögensverwalter der Gesellschaft“ und „Brüder der Armen“ begreifen würden?

Wie dieser jakobinische Umverteilungsliberalismus im Jahre II in der Praxis aussah, werden wir genauer wissen, wenn das unter der Leitung von Michel Biard an der Universität Paris-I durchgeführte große Forschungsprojekt abgeschlossen sein wird, das sich mit den Maßnahmen der in die französischen Provinzen entsandten Volksvertreter beschäftigt. Doch schon jetzt ist deutlich, daß sich diese Deputierten größtenteils nicht durch Intoleranz hervorgetan haben, sondern durch ihr Bemühen um Gleichbehandlung. Ob zentristische Montagnards oder Abgeordnete der Ebene, die zuweilen mit den geächteten Girondisten sympathisierten, fast alle setzen sie den Terror behutsam ein (so in der Marche, im Auxerrois, im Limousin, Périgord, Angoumois und Agenais) und sind zur Versöhnung bereit: Ehemalige Adlige und Föderalisten werden ermuntert, wieder in den Schoß der republikanischen Familie zurückzukehren, die pluralistische Züge annimmt.

Die Verteilungsgerechtigkeit steht zwar auf der Tagesordnung, aber in gemäßigter Form: Lebensmittel werden rationiert, eine Agrarreform ohne Enteignungen wird in Angriff genommen, Revolutionssteuern, die einer Progression unterliegen, werden erhoben, Grundschulen für Jungen und Mädchen eingerichtet, man kümmert sich um die Ausbildung der Arbeiter und Bauern und macht erste Schritte in Richtung Wohlfahrtsstaat. Dieses Programm, das vor Ort praktisch erprobt wurde, wollte eine Demokratie der Kleineigentümer und der unabhängigen Arbeiter hervorbringen, in der (unter Einschluß der Frauen) die Gleichheit der Rechte und Chancen herrschen sollte. Natürlich wurde es nur kurzzeitig und unterschiedlich weitgehend angewandt; doch im kollektiven Gedächtnis jener Landstriche, in denen es ansatzweise umgesetzt wurde, vor allem im Südwesten, hinterließ es einen tiefen Eindruck, der das ganze 19. Jahrhundert über fortwirkte.

Jean Jaurès, der aus dieser Gegend Frankreichs stammte, warf den Jakobinern dennoch vor, ihnen hätte für das französische Volk ein Leben „auf Sparflamme“ vorgeschwebt. In seinen Augen schloß das spartanische Ideal Robespierres sowohl den Kommunismus wie auch den Reichtum aus, welch letzterer nur als „ärgerliche Notwendigkeit“ toleriert worden sei. Diese pessimistische Sicht der wirtschaftlichen Verhältnisse, wonach die Arbeit immer sicher sei, wenn man nur enthaltsam lebe, war Jaurès zuwider. Er lehnte die Vorstellung einer „Armut in Ehren“ ebenso ab wie die der moralischen Gleichheit, die ihr zugrunde liegt, denn beide schrieben nur die soziale Ungleichheit fest, indem sie den Stolz des Armen ebenso nähren wie die Gönnerhaftigkeit des Reichen – eine eher „sonderbare Art“, das soziale Problem zu „entschärfen“. Scharfsichtiger als Mathiez, verdächtigte Jaurès die Jakobiner eines ernsthaften Mangels an sozialistischem Geist!

Doch worum ging es Jean Jaurès eigentlich? 1896 hatte er angesichts des immer erfolgreicheren Kapitalismus die Absicht gehegt, „Wesen und Form des Eigentums radikal zu verändern“. Robespierre und seine Freunde hingegen hatten sich ohne Wenn und Aber gegen die Gütergemeinschaft erklärt, die in ihren Augen eine der individuellen Freiheit schädliche „Schimäre“ war: „Als ob es auch nur einen einzigen halbwegs fleißigen Menschen gäbe, dem solch ein närrisches Projekt nicht gegen den Strich ginge.“ Auch forderten sie „eine sanfte und friedliche Revolution der Armen, die das Eigentum nicht beunruhigt und die Gerechtigkeit nicht verletzt“.

Das von seinen Schlacken gereinigte jakobinische Ideal ist sich selbst demnach treu geblieben: Nachdrücklich vertritt man den von Marx kritisierten, von Tocqueville aber gepriesenen bürgerlichen Individualismus und beharrt gleichzeitig auf dem von Tocqueville kritisierten, von Jaurès aber befürworteten Vorrang des Sozialen: Nur die enge Verschmelzung dieser beiden Positionen garantiert das Glück der Gesellschaft. Seit der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution gibt es beiderseits des Atlantik immer mehr Historiker, die eine Lesart des Jakobinismus für fragwürdig halten, die in ihm bloß eine utopistische Vision zu erkennen vermag, eine Flucht nach vorn oder ein Abgleiten in Totalitarismus, seine demokratischen und egalitären Errungenschaften aber völlig übersieht.

Sie entdecken darin ein Gesellschaftsprojekt, das sich auf Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit gründet, das Projekt einer „großen Familie“, in der das Recht auf die Existenz ebenso gesichert ist wie das auf die Entfaltung der Persönlichkeit und in der der Geist des Teilens über die Klassengegensätze siegt: ein unerwartetes und, kein Zweifel, von Grund auf modernes Projekt.

dt. Andreas Knop

* Historiker, Autor von „Saint-Just, sa politique et ses missions“ Paris (Bibliothèque nationale) 1976, und von „Fair Shares for All: Jacobin Egalitarianism in Practice“, Cambridge (Cambridge University Press) 1997.

Fußnoten: 1 Luc Ferry und Alain Renaut, „Philosophie politique 3: des droits de l'homme à l'idée républicaine“, Paris (Presses universitaires de France) 1985, S. 37. 2 François Furet und Mona Ozouf, Artikel „Schreckensherrschaft“ und „Gleichheit“, in „Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution“, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1996. 3 John Rawls, „Justice as Fairness“, The Philosophical Review, Nr. 67, S. 164-194, dt. in „Gerechtigkeit als Fairneß“, München (Alber) 1977, S. 34-83. Vgl. auch ders., „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1975, und „Die Idee des politischen Liberalismus“, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1992.

Le Monde diplomatique vom 12.09.1997, von JEAN-PIERRE GROSS