12.09.1997

Die Tiefe der Kluft

zurück

Die Tiefe der Kluft

Von ALAIN GRESH

NACH fünfzehn Tagen des Streiks haben die 185000 Fahrer des United Parcel Service (UPS) im August einen wichtigen Sieg errungen. Vielleicht markiert dieser Erfolg ebenso einen Wendepunkt in der Sozialgeschichte der Vereinigten Staaten wie die Niederlage der Fluglotsen, die 1981 Ronald Reagans siegreichen Feldzug gegen die Gewerkschaften einleiten sollte. Die Streikenden von UPS haben nicht nur Lohnerhöhungen durchgesetzt, sondern auch die Umwandlung mehrerer tausend Teilzeitjobs in feste Arbeitsplätze. Ihren Erfolg verdanken sie insbesondere der Zustimmung in der Bevölkerung. Die Amerikaner fühlten sich solidarisch mit den Arbeitern, die, wie ihre französischen Kollegen im November und Dezember 1995, zum Sprachrohr all derer wurden, die vom „Wirtschaftswunder“ ausgeschlossen bleiben. Der wirtschaftliche Erfolg von UPS, das im letzten Jahr einen Gewinn von 1,1 Milliarden Dollar erzielt hat, ließ die Forderung nach einer Umverteilung als berechtigt erscheinen.

1996 sind die Gewinne der fünfhundert größten amerikanischen Unternehmen um 23 Prozent gestiegen. 1 Prozent aller Haushalte verfügte 1992 über 30,2 Prozent des nationalen Reichtums; 1995 war dieser Anteil auf 35,1 Prozent gewachsen. Für die Hälfte der Amerikaner sind hingegen die Reallöhne heute niedriger als 1989.1 Immer mehr empören sich angesichts der Vorstellung, sich das ganze Leben lang mit einem unsicheren und schlecht bezahlten Arbeitsplatz begnügen zu sollen, und zeigen sich schockiert über die Arroganz der Mächtigen, denen alles zusteht: Erst vor kurzem haben vier Chefs von so bekannten Unternehmen wie AT&T und Apple 145 Millionen Dollar Entschädigung erhalten, nachdem man sie – wegen Unfähigkeit – entlassen hatte.2

Der Streik bei UPS zeigt, daß sich die Atmosphäre in den Vereinigten Staaten verändert hat. So will Tom Menino, der Bürgermeister von Boston, ab 1998 jedes Unternehmen, das für die Stadt arbeitet, dazu verpflichten, seinen Beschäftigten einen Mindeststundenlohn von 7,49 Dollar zu zahlen, also 2,75 Dollar mehr als der landesweite Mindestlohn. Unter dem Einfluß lokaler Pressure-groups, die von den Gewerkschaften unterstützt werden, könnten andere Städte diesem Beispiel folgen. Ihr Motto lautet: Wer arbeitet, darf in einem reichen Land nicht in Armut dahinvegetieren.3

Ein solch scharfer Kontrast zwischen dem Leben einer Minderheit auf der einen und dem der Bevölkerungsmehrheit auf der anderen Seite beziehungsweise zwischen den Möglichkeiten, die der wirtschaftliche Fortschritt eröffnet, und der Wirklichkeit, in der die meisten Menschen leben, ist schon in einem einzigen Land ein Skandal. Noch schlimmer ist es, wenn er weltweit auftritt: 1,3 Milliarden Arme gibt es auf der Erde. In den afrikanischen Ländern südlich der Sahara lebt der weltweit höchste Anteil der Bevölkerung im Elend. In den Ländern Osteuropas und in den GUS-Staaten hat sich die Lage in den letzten Jahren am meisten zugespitzt: Zwischen 1988 und 1994 stieg die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsschwelle leben, von 14 Millionen auf 119 Millionen.4

Dabei ist der Lebensstandard in den letzten fünfzig Jahren schneller gestiegen als in den fünfhundert Jahren zuvor. Seit 1960 ist die Kindersterblichkeit in den Entwicklungsländern um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Dem „Bericht über die menschliche Entwicklung“ zufolge fand diese Bewegung vor allem in zwei großen Zeiträumen statt. Die erste vollzog sich in den Industrieländern, um die Jahrhundertwende, als sich die sozialen Bewegungen ausbreiteten und die Grundlage für den Wohlfahrtsstaat geschaffen wurde. In der zweiten Periode, nach 1945, ging die Armut in der Sowjetunion, in Osteuropa und in der dritten Welt zurück.

PRO Kopf wird heute mehr produziert als vor dreißig Jahren, aber trotz dieses Reichtums sind die Errungenschaften immer neuen Bedrohungen ausgesetzt: Die Rolle der Staaten, die eine zentrale Funktion zum Beispiel bei Impfung und Alphabetisierung ausgeübt haben, ist geschwächt, die staatliche Entwicklungshilfe wird immer weiter reduziert, hinzu kommen die Schuldenlast, die Ausbreitung bewaffneter Konflikte, Aids und, noch einmal, die Schatten der sich ausbreitenden Ungleichheit.

„1994 lag das Verhältnis der Einkommen zwischen dem reichsten Fünftel der Bevölkerung und dem ärmsten Fünftel bei 78:1; also deutlich höher als 1960, als es noch 30:1 betrug.“ 1996 belief sich das Vermögen der zehn reichsten Milliardäre auf 133 Milliarden Dollar. Das ist das Eineinhalbfache des Volkseinkommens der 48 ärmsten Länder. 1995 wurde der Besitz des „wohlhabendsten“ Mexikaners auf 6,6 Milliarden Dollar taxiert, das entspricht dem Einkommen von 17 Millionen seiner ärmsten Mitbürger. „Es ist möglich, die extreme Armut bis zu Beginn des nächsten Jahrhunderts zu beseitigen“, stellen die Verfasser des „Berichts über die menschliche Entwicklung“ fest. „Das würde 80 Milliarden Dollar jährlich kosten, also weniger als der gesamte Nettobesitz der sieben reichsten Menschen der Welt.“ Aber dazu müßte man den Reichtum neu verteilen.

„Unmöglich!“ rufen erschreckt die Verteidiger der hergebrachten Ordnung. „Unrealisierbar!“ erklärte schon 1836 Nassau W. Senior, ein herausragender, leider verkannter englischer Professor, dem eigentlich ein Ehrenplatz im Pantheon der Wirtschaftswissenschaften gebührt. Er war von Unternehmern in Manchester aufgefordert worden, sie gegen ein „schändliches Gesetz“ zu verteidigen. Und er hat den Nachweis erbracht, daß der Gewinn der Kapitalisten von der zwölften Stunde herrührt, die die Arbeiter jeden Tag arbeiten: „Wenn die tägliche Arbeitszeit um eine Stunde vermindert würde, dann verschwände der Nettogewinn“ und die Unternehmen gingen Bankrott. Schlußfolgerung: Es lebe der Zwölfstundentag!5

Gegen diesen Fatalismus haben die Arbeiter von UPS nun aufbegehrt. Diesem Fatalismus verweigern sich die „Landlosen“ in Brasilien (siehe Seiten 6 und 7). Und diesen Fatalismus muß auch die Regierung von Lionel Jospin beseitigen, wenn sie ihre Wähler nicht enttäuschen will.

dt. Christian Voigt

Fußnoten: 1 Business Week, 1. September 1997. 2 International Herald Tribune, 22. Juli 1997. 3 International Herald Tribune, 21. August 1997. 4 Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), „Bericht über die menschliche Entwicklung 1997“, Bonn (UNO Verlag) 1997. Wenn nicht anders vermerkt, stammen Zahlen und Zitate aus diesem Bericht. 5 Siehe hierzu: Karl Marx, „Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie“, Band I, Buch I, Berlin 1969, (MEW Bd. 23) S. 237-238.

Le Monde diplomatique vom 12.09.1997, von ALAIN GRESH