Separatistische Gelüste in Montenegro
Von JEAN-ARNAULT DÉRENS *
ES könnte ein Pyrrhussieg für Slobodan Milošević gewesen sein, daß es ihm Ende Juni gelang, sich als Nachfolger von Zoran Lilić zum Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien wählen zu lassen. Da ihm die Verfassung nicht erlaubt, sich zum dritten Mal um das Amt des serbischen Staatspräsidenten zu bewerben, blieb ihm kaum eine andere Möglichkeit. Aber die Befugnisse des Bundespräsidenten sind außerordentlich beschränkt, und daß der serbische Führer sich mit Repräsentationsaufgaben zufriedengeben wird, ist schwer vorstellbar.
Vermutlich ist er deshalb für eine Erweiterung der Kompetenzen des Präsidenten eingetreten und wollte nicht von den beiden Kammern des Bundesparlaments gewählt werden, sondern in einer Direktwahl. Doch die Abgeordneten der Demokratischen Partei der Sozialisten Montenegros (DPS), die bislang zu seinen treuen Gefolgsleuten gehört hatten, wandten sich in dieser Frage gegen ihn – sie lehnten eine Verfassungsänderung ab. So wird Belgrads starker Mann zwar vielleicht Wege finden, um seinem Amt nach und nach mehr politisches Gewicht zu verschaffen, doch hat der Verfassungsstreit die schwelende Krise zwischen Serbien und Montenegro zum Ausbruch kommen lassen.
Bei der Volksabstimmung im März 1992 hatten sich die Montenegriner dafür ausgesprochen, ihr Land als einen „souveränen Staat“ zu konstituieren, „der mit Serbien im Rahmen der Bundesrepublik Jugoslawien assoziiert ist“. Ministerpräsident Milo Djukanović beharrt auf dieser Souveränität. Tatsächlich stimmt der Eindruck nur bedingt, Montenegro sei in den Jahren des Krieges im Kielwasser Serbiens geschwommen. Das kleine Land mit seinen 650000 Einwohnern nimmt es mit der Verteidigung seiner Rechte und seiner Identität sehr genau.
Während des Krieges gegen Kroatien waren die Angriffe auf Dubrovnik von montenegrinischem Gebiet aus geführt worden, und die Schlacht von Plevlaka hatte zahlreiche Opfer unter Wehrpflichtigen von dort gefordert. Daraufhin hatte sich eine einflußreiche Friedensbewegung gebildet – Nikola Petrović Njegoš, Thronerbe des montenegrinischen Königshauses, rief sogar zur Desertion auf. Die Wochenzeitung Monitor wurde zu einem der wichtigsten Foren für die Gegner des Krieges in ganz Jugoslawien. Nachdem auf riesigen Demonstrationen „Dubrovnik, vergib uns!“ gefleht worden war, verbot die Regierung schließlich die Teilnahme montenegrinischer Wehrpflichtiger an den militärischen Einsätzen der Bundesarmee. Diese Verordnung, die noch immer in Kraft ist, wurde befolgt: Montenegriner, die dennoch am Krieg teilnahmen, taten dies auf eigene Verantwortung, als Söldner in den serbischen Milizen.
Trotz aller Aufforderungen aus Belgrad versucht man seither in Podgorica (dem früheren Titograd) mit allen Mitteln, die eigene Souveränität zu stärken: Aus der Polizei sind alle proserbischen Kräfte entfernt worden, und Slobodan Milošević fordert seit zwei Jahren vergeblich den Kopf des Geheimdienstchefs. Abgesehen von einigen Fällen von ethnischer Säuberung bei Bijelo Polje, im montenegrinischen Teil des Sandžak, sind die muslimische und die albanische Bevölkerung (12 bzw. 10 Prozent der Gesamtbevölkerung) in das öffentliche Leben des Landes integriert. Nikola Petrović erklärt das mit der „emotionalen Bindung an die montenegrinische Staatsbürgerschaft: Die katholischen Einwohner im Gebiet der Kotor- Mündung verstehen sich nicht als Kroaten, sondern als katholische Montenegriner.“
Montenegro bietet mit der schönsten Küste der Adria und seinen außergewöhnlichen Sandstränden die besten Voraussetzungen für den Tourismus; für ausländische Investoren sind die gesetzlichen Bestimmungen weitaus günstiger als in Serbien oder sogar in Kroatien. Und wenn es um die Abgrenzung gegen Serbien geht, ist jeder Anlaß willkommen: So hat die Regierung zwei Flugzeuge erworben, um eine nationale Fluggesellschaft zu gründen – die jugoslawische Fluglinie JAT betrachtet sich allerdings als Eigentümerin des Flughafens der Hauptstadt und verweigert die Landeerlaubnis.
Schwieriges nationales Projekt
DIE Montenegriner sind zwar ebenso wie die Serben überwiegend orthodoxe Christen, berufen sich jedoch stolz auf ihre lange Tradition der Eigenstaatlichkeit. Tatsächlich ist das Land unter den Petrović-Njegoš, einer Dynastie von Fürstbischöfen und späteren Königen von Montenegro, als einziges der balkanischen Reiche nie unter türkische Herrschaft geraten. Prinz Nikola, der heutige Träger des Herrschertitels, Sohn einer bretonischen Mutter und Architekt in Paris, tritt nicht als Thronanwärter auf, sondern setzt seinen guten Namen ein, um künstlerische und gesellschaftliche Projekte zu fördern. Er ist Präsident der Biennale von Cetinje (dem ehemaligen Königssitz), die in diesem Jahr unter dem Titel „Hin und zurück“ den Flüchtlingen gewidmet ist. Für die Ausstellung, die in diesem Monat eröffnet wird, sind Werke von Bildhauern aus allen Ländern des früheren Jugoslawien in die königlichen Palais und die zahlreichen Botschaftsgebäude aus der Jahrhundertwende geholt worden.1
Cetinje war der Ort, von dem aus die französischen, türkischen und russischen Diplomaten den Balkankrieg von 1912-1913 verfolgten. Mit Unterstützung der Großmächte, vor allem Frankreichs, konnte das serbische Königshaus der Karadordević 1918 Montenegro annektieren – und seine Bevölkerung zu Serben machen: Der neue Staat wurde als „Königreich der Slowenen, Kroaten und Serben“ definiert. Nach der Zwangsvereinigung der eigenständigen montenegrinischen Kirche mit dem serbischen Patriarchat verblieb nur eine kleine orthodoxe Gemeinde der Montenegriner in der Diaspora. Tito gewährte dem Land im Rahmen der Jugoslawischen Bundesrepublik wieder staatliche Eigenständigkeit. Zweifellos ist dies der Grund, weshalb die Bevölkerung noch immer das Andenken an den antifaschistischen Widerstand und die guten Seiten des alten Jugoslawien ebenso hoch hält wie die eigene nationale Identität.
All dessen ist sich Ministerpräsident Milo Djukanović natürlich bewußt, weshalb seine Parole derzeit lautet: „Ja zu Jugoslawien, aber nicht zu dem von Milošević!“ Der Durchsetzung der eigenstaatlichen Bestrebungen steht aber sowohl die enge verwandtschaftliche Verflechtung zwischen Serben und Montenegrinern entgegen wie auch die alte Tradition der Auswanderung aus den armen Bergregionen des Landes. Wie würden sich die rund eine Million Serben montenegrinischen Ursprungs verhalten, falls es zu einem Konflikt zwischen den beiden Ländern käme? Jahrelang konnte ein junger Montenegriner nur vorankommen, wenn er nach Belgrad ging, um dort in der Verwaltung, in der Polizei oder in der Armee Karriere zu machen. Die innere Stabilität des kleinen Königreichs in den Bergen war stets abhängig von einem Bündnis von fünf Stämmen. Zwei dieser Stämme, die Bijelo Pavlovići und die Vasojevići, im Norden, sind jedoch traditionell proserbisch: Sie schlossen sich im Zweiten Weltkrieg den Tschetniks an, und während des Bosnienkrieges schickten sie Kämpfer zur Verstärkung der serbischen Milizen.
Außerdem stammen eine Reihe von nationalistischen Serbenführern aus Montenegro, allen voran der ehemalige Führer der „Serbischen Republik“ in Bosnien, Radovan Karadžić. Dieser präsentiert gern seinen Vater, wie er in traditioneller Tracht die Gusla spielt, eine Kniegeige – ist das nun serbische oder montenegrinische Folklore? Montenegro nimmt in der Vorstellungswelt der Serben einen wichtigen Platz ein.
Goran Rakošević, ein sehr junger Mann, der als die rechte Hand von Milo Djukanović gilt, ist der Ansicht, daß „eine politische Wende bevorsteht, bei der uns die Bürger und die Opposition unterstützen. Wir wollen ein demokratisches System schaffen, eine Alternative zum militaristischen und autokratischen System in Belgrad, und das heißt vor allem, daß wir die Abkommen von Dayton in vollem Umfang anerkennen, vor allem was die Aburteilung von Kriegsverbrechern angeht.“ Das sind erstaunlich starke Worte, zumal der Ministerpräsident nicht gerade im Ruf steht, ein Demokrat der ersten Stunde zu sein. Sein Zerwürfnis mit dem neuen jugoslawischen Präsidenten rührt angeblich aus mafiösen Auseinandersetzungen her: Er wird beschuldigt, während des Krieges den Zigarettenschmuggel in Jugoslawien kontrolliert zu haben, ein äußerst einträgliches Geschäft, das inzwischen in die Hände des Sohnes von Milošević und des bosnischen Serbenführers Momčilo Krajišnik übergegangen sein soll. Man muß nicht unbedingt das Märchen vom kleinen Bandenchef glauben, den die Umstände dazu gebracht haben, sich für die Nation und die Demokratie stark zu machen.
Während den beiden wichtigsten Oppositionsparteien – den Liberalen von Stanko Perović und der Nationalpartei von Novak Kilibarda (die zusammen über 19 der 71 Parlamentssitze verfügen) – nichts anderes bleibt, als Djukanović zu unterstützen, ist die regierende DPS in dieser Frage gespalten: Gegen Djukanović stellen sich die Anhänger des Staatspräsidenten Momir Bulatović, der lange Zeit als Vasall Belgrads galt. Diese Fraktion scheint jedoch in der Minderheit zu sein: 30 der 46 Abgeordneten sollen den Ministerpräsidenten unterstützen, der sogar dafür sorgte, daß sich Bulatović nicht mehr als Kandidat der DPS aufstellen lassen darf.
Souveränität und Konföderation
ALS Ende Juli eine Delegation der Sozialistischen Partei Serbiens unter Führung von Zoran Lilić, dem scheidenden jugoslawischen Präsidenten und Kandidaten für das serbische Präsidentenamt, in Podgorica eintraf, wurde sie von einem großen Demonstrationszug mit Eiern und Steinen beworfen. Die offizielle Presse in Belgrad warf Ministerpräsident Djukanović daraufhin vor, er habe bewußt auf Sicherheitsmaßnahmen verzichtet. Kurz darauf erschienen jugoslawische Jagdflugzeuge über Podgorica. Der Führer der Nationalpartei machte daraufhin Präsident Bulatović den Vorwurf, er sei über diese Operation informiert gewesen, ja er habe, in Abstimmung mit dem Bundesminister Pavle Bulatović, einem Angehörigen seines Familienclans, die Besetzung des Landes geplant.2
Die besten Karten in diesem Spiel hat offenbar Montenegros Ministerpräsident. Sollte sich die DPS spalten, behält er die Mehrheit; er kann also den Wahlen, die für den 5. Oktober geplant sind, gelassen entgegensehen. Theoretisch sind seine Absichten, die Souveränität Montenegros zu stärken und Jugoslawien zu demokratisieren, mit dem Fortbestehen des bundesstaatlichen Rahmens nicht unvereinbar. Aber genau solche Erklärungen hatte einst auch die slowenische Führung abgegeben – um dann einseitig die Unabhängigkeit des Landes zu erklären ...3
dt. Edgar Peinelt
* Historiker und Journalist.