12.09.1997

Das reale und das virtuelle Bosnien

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Das reale und das virtuelle Bosnien

VOR den Kommunalwahlen in Bosnien erweist sich die Umsetzung des Dayton-Abkommens als immer schwieriger. Erst auf intensiven euro-amerikanischen Druck hin hat sich die Föderationsregierung von Bosnien-Herzegowina Mitte August auf die Nominierung der Botschafter geeinigt und erneut das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr bekräftigt. Diese werden häufig nach ihrer erneuten Ansiedelung sofort wieder vertrieben, wie in Jajce Anfang August. Unterdessen wächst in der „Republika Srpska“ die politische und militärische Spannung zwischen den Anhängern der Präsidentin Plavšić und denen von Radovan Karadžić.

Von XAVIER BOUGAREL *

Das Dayton-Abkommen, mit dem am 14. Dezember 1995 der Bosnienkonflikt beendet wurde, schrieb allgemeine Wahlen innerhalb von neun Monaten vor, deren Ziel die Einrichtung der bosnisch-herzegowinischen politischen Institutionen sein sollte.1 Zwar wurden am 15. September 1996 fristgerecht Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgehalten, doch die Kommunalwahlen mußten von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die mit der Durchführung der Wahlen betraut ist, bereits dreimal verschoben werden. Nun sollen sie am 15. September stattfinden. Diese Verzögerung ist charakteristisch für die Schwierigkeiten innerhalb des politischen Konstrukts, das in Dayton geschaffen wurde, und ein Anzeichen dafür, daß der Prozeß der Aussöhnung auf lokaler Ebene nicht mehr vorankommt, was über kurz oder lang die politische Stabilität insgesamt gefährden dürfte.

Hauptmerkmal des Abkommens von Dayton ist seine Mehrdeutigkeit. Es versucht, die Folgen der sogenannten ethnischen Säuberungen für die Menschen rückgängig zu machen, und räumt deshalb allen Vertriebenen das Recht ein, an ihren Wohnort zurückzukehren. Doch gleichzeitig werden die Bosniakisch-kroatische Föderation und die Serbische Republik als getrennte Gebietseinheiten anerkannt und dadurch die politischen Folgen dieser Säuberungen gebilligt. Desgleichen heißt es in dem Friedensvertrag, daß Bosnien- Herzegowina seine Existenz als Staat im Sinne des internationalen Rechts beibehält, doch räumt er beiden Teilstaaten das Recht ein, bilaterale Beziehungen mit den Nachbarstaaten zu unterhalten, sofern sie die gesamtbosnische Souveränität und territoriale Integrität respektieren.2 Kein Wunder, daß die Umsetzung des Abkommens sich immer wieder als heikel erweist und überraschende Formen annimmt.

Zwar konnte die Grenzziehung zwischen beiden Teilstaaten von den Ifor- Truppen der Nato ohne größere Schwierigkeiten durchgeführt werden, doch verstärkte die Konsolidierung der Demarkationslinie zwischen den beiden Gebietseinheiten – der Bosniakisch-kroatischen Föderation und der Serbischen Republik – die Logik der Teilung. Der endgültige Status der Stadt Brčko, ein Herzstück der neuen territorialen Architektur Bosnien- Herzegowinas, sollte durch internationalen Schiedsspruch festgelegt werden, doch wurde der Termin dafür im Dezember 1996 um ein Jahr verschoben.3 Und innerhalb der Bosniakisch-kroatischen Föderation werden die formalen Verwaltungsgrenzen der Kantone (fünf muslimische, drei kroatische und zwei „gemischte“) weiterhin von sehr realen Frontlinien überlagert; das immer noch geteilte Mostar ist ein Beispiel dafür.

Der Aufbau der zentralen und föderalen Institutionen geht, trotz aller Bemühungen des UN-Beauftragten Carl Bildt, nur schleppend voran; ihre Arbeit litt unter dem Konflikt zwischen den drei nationalistischen Parteien, die am 15. September 1996 die Wahlen gewonnen haben4 : Die Serbische Demokratische Partei (SDS) verweigerte die uneingeschränkte Mitarbeit bei den bosnischen Zentralbehörden; die Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) hielt an ihrer selbstproklamierten „Republik Herceg-Bosna“ fest; und die Partei der Demokratischen Aktion (SDA) der bosnischen Muslime (bzw. Bosniaken, wie sie sich selbst nennen) übte in den Gebieten unter ihrer Kontrolle praktisch die Alleinherrschaft aus. Der Bosniakisch-kroatischen Föderation ist es zwar gelungen, schrittweise einige Hoheitsfunktionen zu übernehmen und Gesetze zur Währung sowie zur Verteidigung zu verabschieden, doch bei der Umsetzung dieser Beschlüsse herrschte ziemliches Chaos; es sind weiterhin sowohl der bosnische Dinar als auch die kroatische Kuna im Umlauf, und die künftige Bundesarmee ist in drei muslimische und ein kroatisches Regiment unterteilt.

Im übrigen sind die wenigen Fortschritte auf institutioneller Ebene nur durch diplomatischen Druck zustande gekommen: Die USA haben der Republika Srpska mehrfach damit gedroht, die Wirtschaftssanktionen wieder in Kraft zu setzen, und der Bosniakisch-kroatischen Föderation, die Militärhilfe einzustellen. Das Friedensabkommens von Dayton führt also in der Konsequenz weniger zur Wiederherstellung eines souveränen bosnischen Staates als vielmehr zu wachsender Kontrolle durch auswärtige Mächte. Dies gilt um so mehr, als Vertreter der internationalen Gemeinschaft sehr häufig die Hilfe Kroatiens und der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) in Anspruch genommen haben, um Entwicklungen innerhalb der bosnischen Teilstaaten in den Griff zu bekommen. Damit wurde der Einfluß dieser beiden Länder auf Bosnien-Herzegowina verstärkt. So schlossen beispielsweise die Serbische Republik und die Bundesrepublik Jugoslawien am 28. Februar 1997 einseitig einen Vertrag über wirtschaftliche, diplomatische und militärische Zusammenarbeit, ohne daß diese Verletzung des Dayton-Abkommens zu irgendeiner Sanktion geführt hätte.

Das Abkommen von Dayton verhindert folglich die Durchsetzung der nationalistischen „großserbischen“ beziehungsweise „großkroatischen“ Pläne nicht; es erschwert sie nur. (So beginnt die SDA bereits, offen mit der Gründung eines muslimischen Staats zu liebäugeln.) Dies erscheint um so paradoxer, als das Dayton-Abkommen entgegen verbreiteten Behauptungen keineswegs darauf abzielt, Bosnien-Herzegowina endgültig zu teilen. Die Mehrdeutigkeiten des Vertrages waren nicht nur die conditio sine qua non für seine Unterzeichnung, sondern sie eröffneten breite Spielräume für einen politischen Wiederaufbau. Die Einrichtung demokratisch gewählter Institutionen und die Beseitigung der Folgen der „ethnischen Säuberungen“ für die Vertriebenen sollten die Voraussetzungen für eine erneute Herausbildung der multiethnischen Gesellschaft und die Entstehung eines gemeinsamen Staatsbürgerbewußtseins schaffen. Bleibt die Frage, warum die Umsetzung des Friedensvertrags statt dessen einen massiven Sieg der nationalistischen über die „staatsbürgerlichen“ Parteien mit sich gebracht hat und sich die Spannungen zwischen den Volksgruppen wieder zuspitzen.

Neben dem Hinweis, daß die Wahlen „frei, gleich und demokratisch“ zu sein hätten, ließ sich das Dayton-Abkommen insbesondere über die Bedingungen des Wahlrechts aus. Zum einen legte es fest, daß all jene Bürger Bosnien-Herzegowinas das Wahlrecht besitzen, deren Name in der Volkszählung von 1991 auftaucht; zugleich aber könne die von der OSZE berufene Wahlkommission im Rahmen der Wahlbestimmungen festlegen, daß auch solche Bürger wahlberechtigt sind, die von der Volkszählung von 1991 nicht erfaßt wurden. Zum anderen sah das Abkommen vor, daß jeder Bürger in der Regel dort zu wählen habe, wo er 1991 lebte, auch wenn er sich nicht mehr an diesem Ort aufhält; zugleich aber hieß es, daß er auch berechtigt sei, die Wahlkommission zu bitten, ihn in einem anderen Wahlbezirk zu registrieren.5 Diese Regelungen und die Modalitäten ihrer Anwendung wurden im April 1996 durch mehrere Direktiven der OSZE präzisiert.

Bald jedoch erwies sich, daß die Aufstellung der Wählerlisten einen entscheidenden Faktor der ersten Wahl nach Kriegsende darstellte. Die Wählerregistrierung entglitt den OSZE-Vertretern und wurde von den nationalistischen Parteien übernommen, denn diese beherrschten die Wahlkommissionen, die im Rahmen der lokalen und der konsularischen Behörden gebildet worden waren. Jede nationalistische Partei war bestrebt, die OSZE-Direktiven zum eigenen Vorteil zurechtzubiegen. So versuchte die SDS, die zahlreichen aus Kroatien in die Republika Srpska geflüchteten Serben auf die Wählerlisten zu setzen, und gab sie offenbar als bosnische Serben aus, die während der kriegerischen Auseinandersetzungen verschwunden waren.

Zu diesen „Tricks“ um die Zusammensetzung der Wählerschaft gesellten sich noch jene um deren geographische Aufteilung. Hier konnte um so mehr manipuliert werden, als im Verlauf der Auseinandersetzungen mehr als die Hälfte der bosnischen Bevölkerung vertrieben worden ist: 1300000 Flüchtlinge hielten sich im Ausland auf, hinzu kamen 800000 Binnenflüchtlinge. So haben sich die serbischen Behörden des Formulars P-2 (Antrag auf Registrierung in der Wählerliste eines anderen Ortes) bedient, um serbische Vertriebene in bestimmten strategisch wichtigen oder umstrittenen Kommunen der Serbischen Republik zu konzentrieren, etwa in Brčko, Zvornik oder Srebrenica. Die kroatischen Behörden verfuhren in manchen Kommunen Zentralbosniens genauso, wenn auch in kleinerem Maßstab. Die bosniakischen Behörden hingegen protestierten gegen diesen Mißbrauch des P-2-Formulars – sie forderten dessen Abschaffung und drohten sogar mit Wahlboykott; die muslimischen Flüchtlinge wurden ausdrücklich aufgefordert, sich an ihren Heimatorten registrieren zu lassen.

Auf den ersten Blick mögen diese Praktiken als Stimmenfängerei und eine Art Wahlschwindel erscheinen – beklagenswert, aber gleichwohl banal. Nichts anderes meinte der Missionschef der OSZE, als er sagte, die Wahl sei „einigermaßen demokratisch“6 verlaufen, trotz der sichtbar aufgeblähten Wählerzahlen und einer Wahlbeteiligung, die mitunter 100 Prozent überstieg. Doch die schweren Manipulationen bei der Wählerregistrierung zeigen, abgesehen von ihrem Umfang, daß die Wahlen vom 15. September 1996 weniger einen Ausweg aus dem Bosnienkonflikt gewiesen als vielmehr seine Ziele bekräftigt haben; lediglich die Vorgehensweise hat sich geändert. So setzt die massive Verwendung des P-2-Formulars die Praxis der „ethnischen Säuberung“ fort und bedient Interessen wie die territoriale Einheit der Serbischen Republik und der kroatischen „Republik Herceg-Bosna“ beziehungsweise die Angliederung jener Gebiete, die von der muslimischen SDA kontrolliert werden. Und die Registrierung von Wählern, die nicht den in Dayton festgelegten Kriterien entsprechen, verweist auf den anhaltenden Konflikt in Sachen Staatszugehörigkeit.

Daß die gesetzmäßige politische Gemeinschaft, auf der das politische Konstrukt von Dayton ruhen sollte, ohne feste Strukturen blieb, erklärt zum großen Teil, warum die Wahlen mit einem Sieg der nationalistischen Parteien endeten. Die Auslegbarkeit der Texte von Dayton erlaubte es den nationalistischen Parteien zunächst, ihre Pläne zu verschleiern. So hat die SDA ihren Wahlkampf auf zwei kaum miteinander zu vereinbarende Slogans konzentriert: „Für ein souveränes, integrales und demokratisches Bosnien“ und „Auf unserem Grund und Boden; in unserem Glauben“. Vor allem aufgrund des Mangels an einem Gefühl gemeinsamer Staatszugehörigkeit entwickelte sich die schlichte Feststellung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe zum hauptsächlichen Wahlkampfthema. Die nationalistischen Parteien konnten daher die Stimmabgabe für eine der „staatsbürgerlichen“ Parteien als Verrat an der eigenen Bevölkerungsgruppe beziehungsweise als deren Selbstmord bezeichnen. Die jeweiligen Mobilisierungen nach Volksgruppenzugehörigkeit zeigt der Wahlslogan der SDA: „Die Serben [stimmen] für sich, die Kroaten sowieso – und Sie?“

Die Ergebnisse des Krieges festklopfen

ALLMÄHLICH kommen die im Friedensvertrag vorgesehenen Institutionen nun doch in Gang – wenn auch nur auf Druck und mit Einschränkungen. Der Sieg der nationalistischen Parteien mag sogar als ein notwendiges Übel erscheinen, denn dadurch werden antagonistische Kräfte in einen gemeinsamen institutionellen Rahmen eingebunden und sind gezwungen, dessen Regeln zu akzeptieren. So mußte Momčilo Krajišnik, der Vertreter der Serbischen Republik, schließlich an den Sitzungen der kollektiven gesamtbosnischen Präsidentschaft teilnehmen; und Biljana Plavšić, die Präsidentin der Serbenrepublik, meldete bezüglich des Vertrags über eine Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Jugoslawien Vorbehalte an – was ein Jahr zuvor noch undenkbar gewesen wäre.

Doch nicht dies ist das Wesentliche. Je mehr das Konstrukt, das in Dayton entworfen wurde, Gestalt annimmt, um so deutlicher wird seine Unklarheit und sein Mangel an Inhalt. So haben die Wahlen nicht nur die Konturlosigkeit der rechtmäßigen politischen Gemeinschaft Bosnien- Herzegowinas aufgezeigt, sondern auch die wachsende Kluft zwischen einem virtuellen Bosnien mit gemeinsamen Institutionen und einem realen Bosnien, das sich aus ethnisch getrennten Bevölkerungsgruppen und vertriebenen Menschen zusammensetzt.7 Mit der Wiedereinrichtung eines gemeinsamen institutionellen Rahmens ist keineswegs die Neubildung einer multiethnischen Gesellschaft einhergegangen. Es gab nur wenige Rückkehrversuche, und diese wurden in der Mehrzahl gewaltsam vereitelt, durch fortgesetzte Praktiken der „ethnischen Säuberung“ auf beiden Seiten der Demarkationslinie. Insgesamt sollen etwa 10000 Flüchtlinge in Herkunftsorte zurückgekehrt sein, die auf einem Territorium liegen, zu dem sie ethnisch nicht gehören: das sind 0,5 Prozent aller Vertriebenen.

Diese schlimme Kluft ist ausgerechnet dort besonders dramatisch, wo Bosnien halbwegs ein Vielvölkergemisch geblieben war: in den städtischen Räumen.8 Die Krise der Städte zeigte sich im Jahr nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton im Rücktritt des EU- Administrators von Mostar, Hans Koschnick, sowie in den Rücktritten von Tarik Kupušović und Predrag Radić, den Bürgermeistern von Sarajevo beziehungsweise Banja Luka.

Selim Beslagić, der Bürgermeister von Tuzla, ist also der letzte Verteidiger des städtischen Lebens gegen die Volksgruppenlogik. Leider verdankt er möglicherweise sein politisches Überleben allein der Verschiebung der Kommunalwahlen, und seine Stadt kann – aufgrund ihrer Lage und ihrer ethnischen Zusammensetzung9 – allenfalls eine symbolische Rolle bei der Neukonstituierung von Bosnien- Herzegowina spielen. Die entscheidenden Orte sind Mostar, für die kroatisch-bosniakischen Beziehungen, und Sarajevo, für die serbisch-bosniakischen Beziehungen. In beiden Städten aber konnte das Friedensabkommen von Dayton den fortschreitenden Zerfall des urbanen und multiethnischen Gewebes nicht nur nicht verhindern, sondern es hat ihn möglicherweise sogar beschleunigt:

Mostar wurde im Mai 1993 in zwei Sektoren geteilt, einen kroatischen im Westen und einen muslimischen im Osten. Trotz der Bemühungen der EU- Administration, die mit dem Abkommen von Washington im März 1994 eingesetzt wurde, hat sich die Teilung Mostars weiter vertieft, und zwar auf menschlicher wie auf administrativer Ebene. Der Kommunalwahl vom 30. Juni 1996 ging eine Aufteilung der Stadt in sieben verschiedene Verwaltungsbezirke voraus (drei kroatische, drei bosniakische und eine „gemischte“ zentrale Zone); das war ein Vorgeschmack auf das Wahlergebnis vom 15. September. Die kroatische HDZ erklärte sich zur Beteiligung an der Stadtverwaltung nur unter der Bedingung bereit, daß ein Kroate zum Bürgermeister ernannt werde. So bleibt Mostar in zwei Kommunen geteilt und leidet immer wieder unter dem Aufflackern von brutaler Gewalt.

In Sarajevo gab die Serbenrepublik gemäß den Vorgaben des Dayton-Abkommens die Stadtteile und Vororte, die sie erobert hatte, an die Bosniakisch-kroatische Föderation zurück, denn die Verhandler wollten um jeden Preis eine „Mostarisierung“ der Hauptstadt verhindern. Doch die überstürzte Wiedervereinigung der Gebiete führte zur Flucht von 60000 Serben, und die bosniakische und die kroatische Polizei wetteiferten darum, die geräumten Viertel unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Wiedervereinigung Sarajevos hat also den Zerfall urbaner und multiethnischer Strukturen beschleunigt. Dies zeigt sich an der Auswanderung der Serben und der Kroaten, in deren Häuser muslimische Flüchtlinge einzogen; ferner in der Absicht der HDZ, bestimmte Außenbezirke der Stadt zu „kroatischen Gemeinden“ zu machen; oder in der Umdefinierung des Großraums in einen Kanton, die es der SDA ermöglicht, die Vorherrschaft des muslimischen Bevölkerungsteils zu gewährleisten und einen ohnehin geschwächten Stadtkern in einem erweiterten ländlichen Umfeld aufzulösen.

Die Beispiele von Mostar und Sarajevo führen vor Augen, wie die Mehrdeutigkeiten und Unausgewogenheiten des Dayton- Abkommens im Alltag der Nachkriegszeit zum Problem werden. Sie zeigen auch, wie tiefgreifend der Konflikt die Gesellschaft verändert hat. Vor dem Krieg wurden Reibungen zwischen den Bevölkerungsgruppen durch Schlichtung auf lokaler Ebene beigelegt. Nun aber bilden sich diese Divergenzen gerade auf lokaler Ebene heraus. Eine Umkehrung der Verhältnisse, die auf die gewaltsame Territorialisierung der Volksgruppen im Zuge der „ethnischen Säuberungen“ zurückverweist sowie auf die Zerstörung der „gutnachbarlichen Beziehungen“ (komšiluk), die den Alltag zwischen Angehörigen unterschiedlicher Volksgruppen prägten.10

Die lokale Ebene ist nunmehr der Ort, an dem das virtuelle und das reale Bosnien aufeinanderprallen. Im Staat Bosnien- Herzegowina ist die Bildung einer einheitlichen Wählerschaft zumindest noch eine Weile vereinbar mit der räumlichen Trennung nach Volksgruppen. Auf lokaler Ebene hingegen führt die Diskrepanz zwischen wirklicher Bevölkerung und Wählerschaft unmittelbar zu einem Zusammenprall zweier politischer Legitimationsträger und zweier territorialer Ansprüche. Bei den Wahlen geht es also um die Bestätigung oder aber die Annullierung des durch den Krieg herbeigeführten Status quo, wobei lokale Konfliktstoffe das gesamte politische Konstrukt von Dayton zu Fall bringen könnten. Für die Verschiebung der Kommunalwahlen und der Entscheidung über den Status von Brčko gibt es keine andere Erklärung. Es ist kein Zufall, wenn bei der Erstellung der neuen Wählerlisten im Frühjahr 1997 die Spannungen zwischen den Volksgruppen sich auf Brčko und Mostar konzentriert haben, weshalb die OSZE erwägt, die Wahlen dort ein weiteres Mal zu verschieben.

Am Problem der Kommunalwahlen zeigt sich, wie die Durchführung von Wahlen ohne vorhandenes gemeinsames staatsbürgerliches Bewußtsein die Logik des Konflikts von neuem schürt, statt sie zu überwinden, und warum die institutionelle Wiedervereinigung nicht einen neuen gesellschaftlichen Zusammenschluß bewirkt hat, sondern sein Gegenteil. Im Bosnien-Herzegowina der Nachkriegszeit sind die „metapolitischen“ und „infrapolitischen“, die kollektiven und die individuellen Ungewißheiten miteinander verknüpft. Von der politischen Entwicklung jedes Teilstaates und jeder Kommune hängt – vermittelt über Fragen des Eigentumsrechts und des Nutzungsrechts von Wohnraum – sowohl das Schicksal der Menschen ab, die aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben wurden, wie auch das Schicksal derer, die sich dort eingerichtet haben. Solange die Bosniaken nicht wissen, zu welchem Staat sie gehören, wissen sie auch nicht, in welchem Haus sie wohnen. Auch hier ist die Logik der „gutnachbarlichen Beziehungen“, nach der jeder sich für das Haus des Nachbarn mitverantwortlich fühlte, durch die der „ethnischen Säuberung“ vernichtet worden.

Unter diesen Umständen war die Vorstellung, der Wahltag werde auch der Tag der Versöhnung sein, ein frommer Wunsch derer, die die bosnische Gesellschaft nicht kennen. Wenn die Rückkehr eines Flüchtlings an politische und territoriale Fragen gekoppelt ist, wird dieser bei Wahlen für seine früheren Nachbarn zu einer Bedrohung. So verhindern die Wahlen die Rückkehr eher, als daß sie sie vorbereiten.

dt. Eveline Passet

* Autor von „Bosnie: anatomie d‘un conflit“, Paris (La Découverte) 1996.

Fußnoten: 1 Der vorliegende Artikel greift einen Teil der Thesen auf, die auf dem Kolloquium „Ökonomie der Gewalt und Dimensionen der Zivilität“ vorgetragen wurden, das vom 5. bis 7. Juni 1997 vom Centre d'études et de recherches sur le Moyen-Orient contemporain (Cermoc) in Beirut veranstaltet wurde. 2 Siehe „Annexe IV: Constitution de la Bosnie- Herzégovine“, in „Accords de paix concernant l'ex- Yougoslavie“, Paris (La Documentation française) 1996. 3 Das Dayton-Abkommen sah einen bindenden Schiedsspruch vor bezüglich der strittigen Teile der Demarkationslinie zwischen den Gebietseinheiten innerhalb der Zone von Brčko. Dieser Schiedsspruch sollte ein Jahr nach der Unterzeichnung des Abkommens gefällt worden sein. Die Stadt, in der 1991 eine relative Mehrheit von Muslimen lebte (44 Prozent, gegenüber 25 Prozent Kroaten und 21 Prozent Serben), wurde während der ersten Monate der kriegerischen Auseinandersetzungen von den Serben erobert. Seit Januar 1997 untersteht Brčko internationaler Verwaltung, nach einem ähnlichen Modell wie Mostar seit 1994. 4 Bei den Parlamentswahlen am 15. September 1996 (zu den Parlamenten der Bosniakisch-kroatischen Föderation und der Serbischen Republik) erhielt die bosniakische SDA 39,8 Prozent der Stimmen, die serbische SDS 21,7 und die kroatische HDZ 14,1 Prozent. Die Listen, die man als Träger „staatsbürgerlicher“ Ideen bezeichnen könnte (in der Bosniakisch- kroatischen Föderation die Vereinigte Liste und in der Republika Srpska die Allianz für Frieden und Fortschritt) vereinigten 12 Prozent der Stimmen auf sich. 5 Siehe „Annexe III: accord sur les élections“, in „Accords de paix sur l'ex-Yougoslavie“, a. a. O. 6 Äußerung von Robert Frowick, Missionschef der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Bosnien-Herzegowina vom 29. September 1996, zitiert in Le Monde vom 1. Oktober 1996. 7 Im übrigen haben nur 24000 Wähler (das sind weniger als 1 Prozent) am 15. September 1996 die Demarkationslinie zwischen den beiden Teilstaaten überschritten, um an ihrem Vorkriegswohnort zu wählen; alle anderen Flüchtlinge haben sich des P-2-Formulars bedient, um per Stimmübertragung oder in den provisorischen Wahlbüros ihre Stimme abzugeben, die in den Konsulaten und an der Demarkationslinie eingerichtet worden waren. 8 Zu den urbanen Dimensionen des Konflikts siehe die Beiträge des Kolloquiums „Villes en guerre en ex- Yougoslavie“ („Städte im Krieg im ehemaligen Jugoslawien“), das die Association Paris X-Sarajevo im Januar 1996 in Paris abhielt. (Isaac Joseph und Claire Lévy-Vroelant, „Bosnie: la guerre aux civils“, Paris 1997). 9 Tuzla liegt auf muslimischem Gebiet (im Kanton Tuzla-Podrinja); die Bevölkerung gliederte sich 1991 in 48 Prozent Bosniaken, 19 Prozent Jugoslawen, 16 Prozent Kroaten und 15 Prozent Serben. Die kriegsbedingten Bevölkerungsbewegungen haben Tuzla zu einer Stadt gemacht, in der jetzt rund 80 Prozent der Einwohner Bosniaken sind. 10 Vgl. das dritte Kapitel („Bon voisinage et crime intime“) des vom Verfasser vorgelegten Buches „Bosnie, anatomie d'un conflit“, a. a. O.

Le Monde diplomatique vom 12.09.1997, von XAVIER BOUGAREL