12.09.1997

Mit Gesetzbuch und Pistole gegen Leute ohne Land

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Mit Gesetzbuch und Pistole gegen Leute ohne Land

DASS die städtische Militärpolizei ungestraft erpreßt, foltert und mordet, mußten sich die entsetzten Brasilianer erst kürzlich durch die Ausstrahlung zweier heimlich gedrehter Filme bestätigen lassen. Unterdessen sind zwei andere Institutionen des Landes, die Gewerkschaften und die Parteien der politischen Linken, auf der Suche nach einem neuen Aufschwung. Die zweifelhaften politischen Bündnisse von Präsident Fernando Henrique Cardoso haben den Weg zu einer Sozialreform offenbar verbaut. So ist es nun ausgerechnet die Bewegung der Landlosen, die mit ihrem Kampf für eine Agrarreform die Opposition gegen die Mitte-links-Regierung um sich herum sammelt.

Von unserem Korrespondenten PHILIPPE REVELLI *

Seit Monaten sitzen jeden Abend um acht Uhr Millionen Brasilianer gebannt vor ihren Fernsehern und führen sich auf dem TV-Kanal Globo die neueste Folge der Fernsehserie „Rei do gado“1 zu Gemüte. Zu den Protagonisten dieser kitschigen Endlosserie gehören unter anderen ein Großgrundbesitzer auf dem Gipfel seines Erfolges, ein angesichts der Trägheit des Systems und der Korruptheit seiner Kollegen desillusionierter Senator und diverse landlose Bauern.

800 Kilometer westlich von São Paulo, in der Region Pontal do Paranapanema, ist aus dem Spiel Ernst geworden. Der Straßenrand ist von notdürftigen Barackenlagern gesäumt, und auf einem Hinweisschild für Autofahrer steht zu lesen: „Lager der Landlosen – bitte langsam fahren“. Die auf der anderen Straßenseite gelegene fazenda2 Santa Rita – ein 14000 Hektar großes, brachliegendes Grundstück – wird von einem Stacheldrahtzaun und rund vierzig schwerbewaffneten pistoleiros abgeschirmt. An die 1600 Familien, die sich der Bewegung der Landarbeiter ohne Land (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, MST) angeschlossen haben, fordern die Enteignung und Neuverteilung der Ländereien der fazenda.3 Im November 1995 haben sie sich hier in ihren Behausungen aus Holz, Blech und Plastik niedergelassen.

Der Streit um den Boden, der zuweilen mit blutigen Zusammenstößen einhergeht, ist in Brasilien nichts Neues. Doch der wachsende Einfluß des MST verleiht den bisher isoliert gebliebenen Kämpfen der Kleinbauern und Landarbeiter erstmals den Charakter eines zusammenhängenden Projekts für einen glaubwürdigen politischen Wandel.

Den Landarbeitern ist es gelungen, das traditionelle Bild vom rückschrittlichen Bauern zu erschüttern: Dutzende fazendas wurden besetzt und das brasilianische Modell einer exportorientierten Landwirtschaft in Frage gestellt. Dank dem Einsatz moderner Kommunikationstechnologien – der MST verfügt beispielsweise über eine Website im Internet 4 – ist es gelungen, breite Schichten des Mittelstands, vor allem in den Städten, für die Anliegen der Landlosen zu gewinnen.

Die Ermordung von 19 landlosen Bauern in Eldorado dos Carajas im April 1996 löste im ganzen Land eine Welle der Empörung aus. Welche Bedeutung dem Agrarkonflikt mittlerweile in Brasilien zukommt, läßt sich auch daran ermessen, daß das Thema über die nicht gerade tiefschürfende Handlung in der Fernsehserie „Rei do gado“ hinaus in die Wohnzimmer der Brasilianer vorgedrungen ist. Wenn die schöne „Landlose“ Luana, von der Schauspielerin Patricia Pillar verkörpert, verkündet: „In Brasilien ist der Boden ungerecht verteilt, und für uns ist es schon eine Hilfe, wenn darüber gesprochen wird“, wissen die Fernsehproduzenten, daß sie damit den Gefühlen der Zuschauer entgegenkommen, die in ihrer großen Mehrheit einer Agrarreform positiv gegenüberstehen5 .

Subventionen für die Großgrundbesitzer

OBWOHL die ungleiche Landverteilung regelmäßig angeprangert wird, zählt Brasilien weltweit zu den Ländern mit der ungerechtesten Besitzstruktur. Laut Angaben der Weltbank befinden sich 43 Prozent des fruchtbaren Bodens in den Händen von nur 0,83 Prozent Großgrundbesitzern, während 23 Millionen Landarbeiter und Kleinbauern unterhalb der Armutsgrenze leben.

Doch die Debatte geht keineswegs nur um das Thema der sozialen Gerechtigkeit, sondern sie greift die Frage nach den Grenzen und Auswüchsen des exportorientierten Landwirtschaftsmodells auf. Mit einer Anbaufläche, die der Größe Indiens entspricht, ist Brasilien einer der weltweit wichtigsten Lebensmittelproduzenten und -exporteure: Die Ernte des Jahres 1996 hätte ausgereicht, um 300 Millionen Menschen zu ernähren. Dennoch haben 32 Millionen Brasilianer nicht genug zu essen, und die Regierung mußte im vergangenen Jahr mehr als drei Milliarden Dollar für den Import von Nahrungsmitteln ausgeben.

Mehr als die Hälfte des Binnenmarktes wird von Kleinbauern abgedeckt, doch die staatlichen Subventionen zur Stützung der exportorientierten Landwirtschaft landen zum Großteil in den Taschen der Großgrundbesitzer. „Die Modernisierung der Landwirtschaft und das Entwicklungsmodell, das in Brasilien verfolgt wird, haben zu einer weiteren Bodenkonzentration geführt. Infolgedessen mußten zahlreiche Kleinbetriebe aufgegeben werden, Tausende Arbeiter wurden aus der Landwirtschaft verdrängt, und im Landesinneren setzte eine dramatische Landflucht ein“, schreibt dazu die brasilianische Bischofskonferenz (CNBB).6 Einzelne fazendas, deren riesige Ländereien brachliegen oder für eine äußerst extensive Viehzucht genutzt werden, dienen gleichzeitig als Grundlage für Bodenspekulationen oder für saftige Unterschlagungen öffentlicher Gelder. Laut Angaben des Nationalen Institutes für Besiedelung und Landwirtschaftsreform (Incra) nehmen die nicht produktiv genutzten Latifundien eine Fläche von 153 Millionen Hektar ein, was der Größe von Frankreich, Deutschland, Spanien, der Schweiz und Österreich zusammen entspricht.

Die Geschichte Brasiliens ist voll von Bauernrevolten, die zumeist brutal niedergeschlagen wurden. Nachdem das Militär 1964 geputscht hatte, kehrte im ganzen Land eine Friedhofsruhe ein. Unter dieser hatten auch die Volksorganisationen zu leiden. Dennoch brachen schon in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre im ganzen Land erneut Agrarkonflikte aus. Nach der Reform des Landwirtschafts- und Siedlungsgesetzes strömten unzählige posseiros (Siedler) ins Amazonasgebiet und verteidigten mit Klauen und Zähnen die soeben urbar gemachten Böden gegen besitzwütige fazendeiros.7 In den südlichen Bundesstaaten häuften sich die Landbesetzungen. Als mit dem Bau des Staudamms von Itaipu Tausende Familien von ihrem Land vertrieben wurden, entstand die Bewegung „Boden und Gerechtigkeit“.

Eine 1973 herausgegebene Erklärung der Bischöfe des Nordostens – „Ich habe die Klagen meines Volkes vernommen“ – zeugte von einem neuen Engagement der katholischen Hierarchie, in deren Reihen einige prominente Vertreter der Befreiungstheologie zu finden sind. 1975 wurde die Pastoralkommission für die Bodenfrage (CPT) eingerichtet, die den Kampf der Bauern unterstützt. Eine Initiative der Pastoralkommission zur Koordination der Kämpfe, die in den verschiedenen Landesteilen isoliert voneinander stattfanden, führte schließlich im Jahre 1985 zur Gründung der Bewegung der Landarbeiter ohne Land8 .

Zwölf Jahre später ist der MST in 21 der 27 brasilianischen Bundesstaaten vertreten, wobei jeder Bundesstaat eine Person in die kollektive nationale Leitung entsendet. Im Jahr 1996 wurden 176 Besetzungen von fazendas registriert; 45218 Familien haben sich auf wiederangeeignetem Land niedergelassen. Der MST wird von der brasilianischen Bauernschaft als Sprachrohr für die Agrarreform anerkannt. Nach den Worten des Ökonomen Celso Furtado ist er „eine beeindruckende Organisation, die über enorme Druckmittel und eine fähige Leitung verfügt.“ In diesem Jahr sind, verteilt auf 244 Ansiedlungen, rund 50000 Familien im MST organisiert.

Vierundzwanzig Mal besetzt

DAS Lager gegenüber der fazenda Santa Rita döst vor sich hin. Die Essensverteilung, die täglichen Versammlungen und die wiederholten Vorstöße beim Nationalen Institut für Besiedelung und Landwirtschaftsreform können die Tage nicht füllen, endlos ziehen sie sich in die Länge. Manche Bewohner des Lagers bauen auf Kleinstflächen Gemüse an, während andere weiterhin einer Beschäftigung in der Umgebung nachgehen. Zwar sind die Landlosen in der Mehrzahl Landarbeiter und Kleinstbauern, aber auch Lehrer, Friseure, Fernfahrer und alleinstehende Mütter auf der Suche nach einer Bleibe, Arbeitslose und andere Personen finden sich unter ihnen. Viele sind Kinder von Bauern, die in die Städte abwandern mußten, sich aber nach einem Stück Land zurücksehnen.

Einer von ihnen ist Gilmar Mauro. Er hat regulär alle Schulklassen durchlaufen – während insgesamt das Analphabetentum unter der Landbevölkerung nach wie vor weit verbreitet ist – und sammelt jetzt erste Erfahrungen in der gewerkschaftlichen Arbeit: Er leitet das Lagerkomitee. „Es war noch dunkel, als wir den Stacheldraht durchschnitten haben“, erzählt er. Zwei Mal ist es den Landlosen gelungen, die Wachsamkeit der pistoleiros von Santa Rita zu überlisten und auf das umkämpfte Landgut vorzudringen, wo sie umgehend mit der Bearbeitung des Bodens und der Aussaat begannen. Beide Male erhielten sie erst einen Räumungsbefehl und wurden dann von der Militärpolizei vertrieben9

Nur wenige Kilometer entfernt hingegen, auf der fazenda San Bento, wird das Land von rund 400 Familien bebaut. Sie haben dort Maniok, Mais und Bohnen angepflanzt. „Dreiundzwanzig Mal haben wir die fazenda besetzt. Und dreiundzwanzig Mal hat uns die Polizei vertrieben“, erzählt die MST-Aktivistin Edina Toreani. „Beim vierundzwanzigsten Mal hat es geklappt.“ Seither bebaut jede Familie eine eigene Parzelle. Der Produktionsüberschuß wird von einer Kooperative vermarktet, die der Konföderation der mit dem MST verbundenen Landreformkooperativen angeschlossen ist. Für die Führer der Bewegung geht es nicht nur darum, „jedem Bauern ein Stückchen Land zu geben; das Projekt erhält seinen inneren Zusammenhalt erst dadurch, daß auch Fragen wie der Zugang zu Krediten und zur Vermarktung, die Ausbildung in Methoden der Betriebsführung und die Schulbildung für die Kinder aufgegriffen werden“. Deshalb betreibt der MST in den Lagern auch Schulen.

Nach Einschätzung des Soziologen José de Souza Martin handelt es sich „um ein radikales Experiment der Wiedereingliederung der Landbevölkerung in die Gesellschaft“10 . Und Professor Celso Furtado sieht im Vorgehen des MST „die einzig brauchbare Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit in Brasilien. Es geht in erster Linie darum, die landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft wiederaufzubauen. Die bietet zweifellos eine bessere Perspektive, als ausgegrenzt am Rand der Großstädte zu leben.“

Die Regierung betont, sie sei entschlossen, die Agrarreform durchzuführen, und hat dafür ein spezielles Ministerium eingerichtet. Gleichzeitig weist sie darauf hin, daß im letzten Jahr 60000 Familien Land zugewiesen wurde. Am 18. Dezember wurde im Senat über ein Gesetz abgestimmt, das drastische Steuererhöhungen auf nicht produktiv genutzte landwirtschaftliche Flächen vorsieht, mit dem Ziel, die Bodenspekulation zu bekämpfen.

Präsident Cardoso ist sicherlich bereit, einzelne Dekrete zur Enteignung von Großgrundbesitzern zu verabschieden, um die brennendsten Konflikte zu lösen. Fraglich ist jedoch, über welchen Handlungsspielraum er im Kongreß verfügt, denn dort nehmen die „Ruralisten“, die Grundbesitzerlobby, allein ein Drittel der Sitze ein. Auch das im Präsidentschaftswahlkampf eingegangene Bündnis mit der altertümlichen, ultrakonservativen Partei der liberalen Front (PLF) trägt nicht gerade dazu bei, die Reformbemühungen voranzutreiben. Nach Ansicht von José de Souza Martin ist die Agrarreform „kein wirtschaftliches, sondern ein politisches Problem (...). Brasilien ist eines der wenigen Länder der Welt, die über mehr Land verfügen, als nötig wäre, um im Zuge einer Agrarreform die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen umzuverteilen (...). Doch damit würde das System des Großgrundbesitzes untergraben, auf dem die Macht dieser Leute beruht (...), dieser Elite, die auch im Bankwesen, in Industrie und Handel investiert und alle Ebenen des Staatsapparats kontrolliert.“ Diese Grundbesitzeroligarchie wird jeden Versuch der Umverteilung von Land mit allen Mitteln bekämpfen.

Seit einer Woche waren sie bereits unterwegs, in kurzen nächtlichen Etappen, um der unerträglichen Hitze des Tages zu entkommen. „Sie“ sind die rund 4500 landlosen Bauern, die sich auf den Weg nach Belém, der Hauptstadt des Bundesstaates Pará, gemacht hatten, um dort von den Behörden die Enteignung der fazenda Macaxeira zu fordern, die sie seit einem Monat besetzt hielten. Am 17. April 1996 trafen sie in Eldorado dos Carajas ein. Über ihrem Lagerplatz wehten rote, mit dem Emblem des MST bedruckte Fahnen. Major Oliveira erhielt vom Büro des Gouverneurs in Belém den Befehl, die Straße zu räumen. „Am Nachmittag kamen Truppen der Militärpolizei und haben uns eingekreist“, erzählt Oelia, die in der Schule der Landlosen unterrichtet. „Ohne Vorwarnung, ohne mit uns zu verhandeln, beschossen sie uns mit Tränengas und eröffneten dann das Feuer.“ Am späten Nachmittag traf Wanderlei Martins ein, der mittlerweile benachrichtigte Rechtsanwalt der Gesellschaft zur Verteidigung der Menschenrechte für Pará, und begab sich danach ins Krankenhaus: „In der Aufbahrungshalle lagen die Leichen von 19 landlosen Bauern. Alle waren aus unmittelbarer Nähe erschossen worden.“ Bereits im August 1995 waren bei einer gemeinsam von Militärpolizei und pistoleiros durchgeführten Räumung eines Lagers neun Bauern erschossen worden. „In den letzten fünfzehn Jahren wurden insgesamt 1654 Personen – Bauern, MST-Aktivisten, Gewerkschaftsführer, Kirchenvertreter, Rechtsanwälte und Abgeordnete – wegen ihrer Beteiligung am Kampf um Boden ermordet“, erinnert der Rechtsanwalt des MST, Juvelino Strozake. „Die für diese Verbrechen verantwortlichen Personen – ob es sich nun um gedungene Handlanger der fazendeiros oder um Mitglieder der Militärpolizei handelt – leben völlig unbehelligt von der Justiz. Bis heute sind nur zwei Personen verurteilt worden, und auch dabei handelt es sich nur um pistoleiros, also um reine Befehlsempfänger.“

Im August 1996 ließ die Regierung zwar ein Gesetz verabschieden, das Zivilgerichten die Verfolgung von Verbrechen überträgt, die von Militärs verübt werden. Doch die Menschenrechtsorganisationen hegen nur geringe Hoffnung, daß der Prozeß gegen die 155 Angehörigen der Militärpolizei, die in die Morde von Carajas verwickelt sind, eines Tages tatsächlich zu Ende geführt wird. So beflissen die Justiz ist, wenn es darum geht, MST-Aktivisten anzuklagen – wie im Fall von José Rainha Júnior und anderen führenden Mitgliedern der Bewegung, die in der Region Pontal wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ vor Gericht gestellt wurden –, so wenig tut sie, um die Handlanger der Großgrundbesitzer zu bestrafen.11 Am 20. September 1996 eröffneten Wachleute der fazenda Santa Rita das Feuer auf ein Fernsehteam, die Journalistin Monica Texeira wurde leicht verletzt. Die Richterin Catarina Estimo weigerte sich unter Berufung auf das „Selbstverteidigungsrecht des Eigentümers“, Maßnahmen gegen die für die Schießerei Verantwortlichen zu ergreifen.

Daß immer mehr Großgrundbesitzer dazu übergehen, bezahlte Milizen anzuheuern, stellt ein schweres Problem dar. „Es handelt sich dabei um regelrechte Privatarmeen, die mit schweren, aus Paraguay eingeschmuggelten Waffen ausgerüstet sind“, versichert Juvelino Strozake. Im August 1996 ließ die Oligarchie der Grundbesitzer in den Straßen von Maraba im Bundesstaat Pará sogar pistoleiro- Truppen aufmarschieren, um das Denkmal zu zerstören, das der bekannte Architekt Oscar Niemeyer zum Gedenken an die Opfer von Eldorado dos Carajas entworfen hatte.12

Lulas Erben

IN der Tageszeitung Folha de São Paulo13 sprach der Großgrundbesitzer Roque Santos von einer „Rückkehr der linken Agitatoren der sechziger Jahre“ und rief zur Wiederbelebung der Demokratischen Landunion (UDR) auf. Diese 1985 gegründete, ebenso radikale wie gewalttätige Organisation hatte sich zum Ziel gesetzt, die halbherzigen Ansätze zu einer Landreform unter dem damaligen Präsidenten José Sarney zu bekämpfen. Das neuerliche Auftreten der Großgrundbesitzerlobby beweist, welche politische Sprengkraft die Agrarfrage in sich birgt. Und so ist es mehr als fraglich, ob Präsident Cardoso ein Jahr vor den nächsten Wahlen, bei denen er sich um ein zweites Mandat bemüht, die Unterstützung derer aufs Spiel setzen wird, auf die er im Kampf gegen die von der Partei der Arbeit (PT) mobilisierte Linke angewiesen ist.

Die Gründungsphase des MST war eine Zeit, in der die von der Einheitsgewerkschaft CUT unterstützte Partei der Arbeit ihren Einfluß insbesondere in den südlichen Staaten und im Industriesektor ausdehnte. 1990 sah sogar alles danach aus, als könne der Präsidentschaftskandidat der PT, Luis Inácio da Silva, genannt „Lula“, die Wahlen gewinnen. Er wurde nur knapp von Fernando Collor de Melo überrundet. 1994 kam „Lula“ jedoch nur noch auf 27 Prozent der Stimmen, während sich der ehemalige Finanzminister und Kandidat der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB), Fernando Henrique Cardoso, bereits im ersten Wahlgang durchsetzen konnte. Seine unbestreitbaren Erfolge bei der Bekämpfung der Hyperinflation hatten die Linke aus der Bahn geworfen.

„Die Wahl des Ökonomen Cardoso lähmt die fortschrittlichen Kräfte“, meint dazu João Pedro Stedile, ein leitendes Mitglied des MST. „Die Gewerkschaftszentralen beschränken sich zunehmend darauf, die Interessen einzelner Arbeitnehmerschichten zu verteidigen, während immer mehr Menschen ganz aus dem System herausfallen. Unsere Bewegung ist die einzige, der es gelingt, einen Teil der Bevölkerung zu organisieren, die das neoliberale Modell für den Abfalleimer vorgesehen hat, und einen radikalen Kampf gegen die Regierungspolitik zu führen.“ Diese Einschätzung wird selbst von „Lula“ geteilt. Im März 1997 erklärte er gegenüber der Folha de São Paulo: „Der MST ist tatsächlich die wichtigste organisierte Kraft der Opposition gegen die Regierungspolitik.“14

Zur Speerspitze der Linken avanciert, trägt der MST eine schwere Verantwortung. Doch nach Ansicht von João Pedro Stedile „soll die Agrarreform nicht nur das Problem der landlosen Bauern und Landarbeiter, sondern auch alle übrigen Probleme lösen helfen. Umgekehrt hat eine Agrarreform nur Bestand, wenn sie gleichzeitig in ein neues Wirtschaftsprojekt auf nationaler Ebene und damit in ein neues Entwicklungsmodell eingebettet ist. Die Kräfte der Landlosen allein reichen nicht aus, um so etwas durchzusetzen. Sie sind darauf angewiesen, daß andere ihr Mobilisierungspotential aufgreifen. So gesehen, ist die Landreform ein Kampf aller Bürger.“

dt. Birgit Althaler

* Journalist

Fußnoten: 1 „Der König der Viehzüchter“. 2 Landwirtschaftlicher Großgrundbesitz; die Eigentümer werden fazendeiros genannt. 3 Die Verfassung erlaubt die Enteignung von brachliegenden landwirtschaftlichen Flächen. 4 Die Internet-Adresse lautet: semterra6sanet. com.br. 5 Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Vox populi im Sommer 1996 ergab eine Quote von 87 Prozent Befürwortern. 6 Dial, Paris, Nr. 7, 1.-15. Mai 1996. 7 Siehe „Le Bresil des hommes marqués pour mourir“, Le Monde diplomatique, Dezember 1990. 8 Neben Vertretern der Kirche findet sich im MST auch eine andere einflußreiche Gruppe, die der wegen ihrer veränderungsunwilligen Haltung oft als „albanisch“ bezeichneten Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) nahesteht. Das Auftreten dieses radikalen Flügels führte zeitweise dazu, daß sich andere die Bewegung unterstützende Organisationen, darunter die CPT, stärker vom MST distanzierten. 9 Nach Zusammenstößen zwischen Landlosen und pistoleiros beschloß der MST im Januar 1997, die Familien aus Santa Rita abzuziehen und auf andere Lager zu verteilen. 10 Jornal dos trabalhadores rurais sem terra, Juli 1996. 11 José Rainha Júnior wurde am 11. Juni 1997 wegen Mordes an einem Großgrundbesitzer und an einem Polizisten im Jahr 1989 zu 26 Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl er beweisen konnte, daß er sich am fraglichen Tag mehr als 2000 Kilometer vom Tatort entfernt aufgehalten hatte. 12 Nach der Ermordung von drei landlosen Bauern in Ourilandia do Norte (Bundesstaat Pará) am 13. Januar 1997 ordnete Präsident Cardoso eine breit angelegte Entwaffnungsaktion im südlichen Pará an. Um die Entschlossenheit der Regierung unter Beweis zu stellen, gegen die Straftäter vorzugehen, ernannte der Justizminister sogar einen Richter und einen Staatsanwalt, die die Untersuchungen beschleunigen und Licht in das Verbrechen von Eldorado dos Carajas bringen sollten. Doch „allen, einschließlich des Staatsministeriums, ist bewußt, daß es nach zehn Monaten der Untätigkeit und nach dem Verschwinden von Beweismitteln ein sehr schwieriges und langwieriges Unterfangen sein wird, die Verantwortlichen ausfindig zu machen.“ (Komitee Rio Mario, 11. März 1997). 13 Folha de São Paulo, 7. Oktober 1996. 14 Folha de São Paulo, 16. März 1997.

Le Monde diplomatique vom 12.09.1997, von PHILIPPE REVELLI