12.09.1997

Beten für die Börsenkurse

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Beten für die Börsenkurse

In diesem Monat kommt ein Buch von Ignacio Ramonet (1) in die französischen Buchhandlungen, das eine Art Spektrographie unseres Fin de siècle bietet. Von der Veränderung der Zukunft bis zum neuen Hegemonialstreben der USA, von der kulturellen Agonie bis zu den globalitären Systemen, vom Internet-Zeitalter bis hin zu den kommenden Revolten läßt der Autor jene Szenarien Revue passieren, die auf das Gefüge der internationalen Politik einwirken, und zeigt die alarmierenden Verschiebungen auf wirtschaftlichem, soziologischem, kulturellem und ökologischem Gebiet. Wir präsentieren in unserem Vorabdruck einige charakteristische Auszüge aus dem Buch.

Von IGNACIO RAMONET

WENIGE Tage nachdem der Börsenkrach vom Oktober 1987 ihn ruiniert hatte, erhängte sich ein Kleinaktionär in einem Park von Madrid. Um seine Tat zu erklären, hinterließ er einen Brief, in dem er den „Vertrauensbruch und den Kannibalismus der Börsenmakler gegenüber den Kleinanlegern“ anprangerte. Nachdem die Entscheidung zum Selbstmord gefallen war, schrieb er weiter, habe er sich einen letzten Aufschub gewährt, um sich einem Gottesgericht zu unterwerfen: „Wie eine Erleuchtung kam es über mich, daß Gott existiert und mir vielleicht nicht der Selbstmord bestimmt war.“ Also verwendete er seinen verbliebenen Besitz darauf, Lotterielose zu kaufen – um zu sehen, „ob Gott das Seine dazu beitragen würde, mir aus der Klemme zu helfen“. Doch das Glück lachte ihm nicht, und der Himmel blieb stumm; also erhängte sich der Mann schließlich doch.

Die Entscheidung, Zuflucht bei Gott zu suchen, um die Börse zu retten und die Aktien steigen zu lassen, trafen im November 1987 auch die katholischen Honoratioren einer italienischen Stadt: Sie ließen den Pfarrer eine Messe lesen, um das Ende des Kursverfalls herbeizubeten.

Ist die Hinwendung zu Gott so abwegig, wenn alles um einen herum zusammenbricht? Wenn sogar die Wirtschaftswissenschaften sich unfähig zeigen, mit logischen Konzepten eine gestörte Weltwirtschaft zur Räson zu bringen, deren Verzerrungen von den Experten selbst als „irrational“ bezeichnet werden?

Die Brutalität der Wirtschaftskrise erzeugt Verwirrung und Panikreaktionen. Wenn in Gesellschaften, die auf Rationalität gegründet sind, die rationalen Mechanismen versagen, sucht die Bevölkerung gern Zuflucht bei prärationalen Formen des Denkens. Man wendet sich esoterischen Vorstellungen zu und ist bereit, an Zaubersprüche zu glauben, die Blei in Gold und Frösche in Prinzen verwandeln.

Immer mehr Menschen fühlen sich von einer rücksichtslos vorangetriebenen technologischen Modernisierung bedroht und reagieren mit modernitätsfeindlicher Verbitterung. Es ist unabweisbar, daß die menschenverachtende Rationalität der heutigen Wirtschaft das Anwachsen eines sozialen Irrationalismus begünstigt. Angesichts all der unbegreiflichen Umwälzungen und Bedrohungen glauben viele Menschen nun, das Licht der Vernunft beginne zu schwinden, und flüchten sich in ein irrationales Weltbild. Viele nehmen den Weg in die künstlichen Paradiese von Drogen und Alkohol oder wenden sich der Parapsychologie und okkulten Praktiken zu. Suchen nicht jährlich mehr als 40 Millionen Menschen in Europa Hellseher und Wunderheiler auf? Und jeder zweite glaubt, für übersinnliche Phänomene empfänglich zu sein.

Illuministische Sekten, ähnlich den Davidianern von Waco, den Sonnentemplern oder Heaven's Gate, finden ebenso regen Zulauf wie die zahlreichen chiliastischen Bewegungen, die allein in Europa mehr als 300000 Anhänger haben sollen.

Michel Foucault pflegte in seinen Vorlesungen darauf hinzuweisen, daß die Wahrheit weder absolut noch unwandelbar oder eindeutig sei. „Die Wahrheit hat eine Geschichte“, betonte er, „die sich im Westen in zwei Perioden teilt: In das Zeitalter der „vérité-foudre“ und jenes der „vérité-ciel“. Als „Blitzstrahl“ erscheint die Wahrheit zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und durch eine bestimmte Person, die von den Göttern erwählt wird: Beispiele sind das Delphische Orakel, die biblischen Propheten oder, noch heute, der Papst, wenn er ex cathedra spricht. Der „Himmel“ der Wahrheit dagegen spannt sich über allen, immer und überall; hier geht es um die Wahrheit der Wissenschaft, die eines Kopernikus, Newton oder Einstein.

Das erste Zeitalter hat Jahrtausende gedauert; und die Begeisterung für die offenbarte Wahrheit hat Generationen von Eiferern und Scharen von Irrlehrern und Inquisitoren hervorgebracht. Das zweite Zeitalter, jenes der auf wissenschaftliche Vernunft gegründeten Wahrheit, beginnt ungefähr im 18. Jahrhundert, hat aber auch seine „Hohepriester“. Michel Foucault schloß nicht aus, daß sie eines Tages ihre Sicht der Dinge und ihre Vorrechte mit ganz ähnlichen Argumenten verteidigen könnten wie die Adepten eines noch unaufgeklärten Zeitalters.

Eine Bestätigung lieferte der von 264 Wissenschaftlern, darunter 52 Nobelpreisträger, unterzeichnete „Heidelberger Appell“2 , in dem die Ökologie als „Ausgeburt einer irrationalen Ideologie“ denunziert wird, „die sich dem wissenschaftlichen und industriellen Fortschritt widersetzt“. Veröffentlicht wurde der Appell anläßlich des Umweltgipfels von Rio de Janeiro im Juni 1993 – zu einem Zeitpunkt, als sich viele Leute gerade fragten, ob nicht die Wissenschaft eine Gefahr für die Menschen darstelle. [...]

Konjunktur der Vorsehung

FÜR viele Bürger ist die Allianz von Kapital, Industrie und Wissenschaft ein Verrat an der ethischen Zielsetzung von Wissenschaft; in ihren Augen hat der profitorientierte Fortschrittsbegriff wesentlichen Anteil an einigen der schlimmsten Mißstände dieser Welt. Halbherzige Kompromisse und kraftlose Empfehlungen können die Stunde der Wahrheit und der schwierigen Entscheidungen nur hinauszögern – unterdessen steuert die Welt auf eine globale ökologische Katastrophe zu, deren Auswirkungen die Menschen mit ohnmächtiger Wut täglich dem Fernsehen und der Zeitung entnehmen können. Immer mehr Menschen sind der Überzeugung, daß die Wissenschaft weder ihnen noch der Welt etwas nützt, daß der Fortschritt unter der Maxime des Profitinteresses „die Mutter aller Krisen“ ist.

Bei früheren Wirtschaftskrisen in hochindustrialisierten Ländern war auf breiter Front eine Rückkehr zum Irrationalen zu beobachten. So erlebte der Alte Kontinent während der großen Depression Anfang der dreißiger Jahre eine Phase, in der archaische Mythen neue Kraft gewannen, im wesentlichen gespeist aus Instinkt und Emotion. Das Scheitern der Moderne, die wirtschaftliche Krise, soziale Wirren und Identitätsverlust bewirkten damals so etwas wie eine Entzauberung der Welt und förderten im Gegenzug, insbesondere in Deutschland, eine Faszination für das Irrationale, die der Rechtsextremismus sich zunutze machte. „Viele deutsche Bürger wollten einer Gegenwart den Rücken kehren, die ihnen unverständlich war“ meint der Historiker Peter Reichel. „Sie zogen es vor, sich in eine Scheinwelt zu stürzen.“

Im Deutschland der zwanziger Jahre wurde durch die militärische Niederlage und – in ihrem Gefolge – durch Inflation und Staatsbankrott eine schwärmerische Begeisterung für okkulte Praktiken, Übernatürliches und Wunderbares geweckt. Davon zeugt unter anderem der große Publikumserfolg von expressionistischen Filmen wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“, „Nosferatu“, „Der Golem“, „Dr. Mabuse, der Spieler“, „M“ und „Metropolis“. Siegfried Kracauer hat in seiner Analyse dieses „cineastischen Pandämoniums“ zeigen können, daß ein direkter Weg von Caligari zu Hitler führte.3

In seiner Novelle „Mario und der Zauberer“ warnte Thomas Mann schon 1930 vor den politischen Gefahren einer Zeit kultureller Verelendung, während um ihn herum Weltflucht-Ideologien, Sekten, parapsychologische Veranstaltungen und dergleichen Hochkonjunktur hatten. Sein „Zauberer“, ein Hypnotiseur, ist eine deutliche Anspielung auf Benito Mussolini.

Traumatisiert von der unermeßlichen Krise, verarmt und ratlos geworden, verloren die Menschen in Deutschland die Kraft zu einem eigenen freien Willen, ihr Vertrauen zu rationalen Lösungen, und ließen sich nach und nach für Obskurantismus und Führerkult gewinnen. „Die Masse der Bevölkerung war bald der Ansicht, daß ihrer unerträglich mißlichen Lage nicht durch eine vernunftgeleitete Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit beizukommen sei, sondern nur mit Mitteln, durch die sie sich im Gegenteil von ihr entfernten, wie etwa Magie – so wie es ja auch angenehmer und weniger beschwerlich ist, zu träumen, als zu denken.“4 Wie Thomas Mann es formulierte: „Der Boden für den Glauben an Hitler war bereitet.“

In den Vereinigten Staaten sollten die durch den Börsenkrach von 1929 – er dauerte vom 23. Oktober bis zum 13. November – ausgelöste Panik und die anschließende schwere Depression gleichfalls eine Welle der Irrationalität auslösen. Auch dort zeigte sich die bedenkliche Entwicklung des Publikumsgeschmacks am deutlichsten im Kino. Hollywood nutzte die Chance und brachte mit außerordentlichem Erfolg eine Reihe von phantastischen und Horrorfilmen auf den Markt. Die alptraumhaften Gestalten von Frankensteins Monster, Dracula, der Mumie, King Kong oder der Insel des Dr. Moreau waren geeignet, den Opfern der Krise ihre kleinlichen Ängste auszutreiben. Umgekehrt zerstreute und transformierte die verzaubernde Kraft des Kinos (der Tonfilm erlebte damals gerade sein Debut) den kleinen „Horror“ eines eintönigen Alltagslebens, gerade so, wie Woody Allen es in „The Purple Rose of Cairo“ (1985) meisterhaft gezeigt hat.

Die frühen dreißiger Jahre sind in den USA auch die Zeit pseudoreligiöser Scharlatane wie Elmer Gantry, dem Helden des gleichnamigen Romans (1927) von Sinclair Lewis; zugleich erleben Glücksspiele, Lotterien aller Art und Horoskope (die 1935 erstmals in der französischen Presse auftauchen) eine ungewöhnliche Blütezeit, ebenso auch absurde Wettkämpfe wie jene „Marathon-Tanzveranstaltungen“, die Horace MacCoy in seinem Roman „Pferden gibt man den Gnadenschuß“ (1935) kritisiert hat.

Arbeitslosigkeit, sinkende Löhne, unzählige Pleiten, verheerende Bankrotte – mit unerhörter Härte treffen Krise und Depression die zuversichtliche, unbekümmerte amerikanische Bevölkerung. Zu ihrem Entsetzen muß sie feststellen, daß ihre politische Führung eine geradezu unglaubliche Unfähigkeit zeigt, der wirtschaftlichen Misere etwas entgegenzusetzen und die Gefahren in den Griff zu bekommen. Allen voran ist es der Präsident der Vereinigten Staaten selbst, ein Ultraliberaler, der 1930 gesteht: „Ich habe nie geglaubt, daß unser Regierungssystem die wirtschaftlichen Probleme zufriedenstellend lösen könnte oder imstande wäre, die wirtschaftlichen Institutionen erfolgreich zu steuern.“ Damit nicht genug, besitzt Finanzminister Andrew Mellon die Unverfrorenheit, den 14 Millionen Arbeitslosen ein „Es lebe die Krise!“ ins Gesicht zu schleudern und hinzuzufügen: „Das wird den Sumpf trockenlegen, der dieses System vergiftet. Die zu hohen Lebenshaltungskosten und der überzogene Lebensstandard werden sinken. Die Leute werden härter arbeiten und ein moralischeres Leben führen. Die Börsenwerte werden sich auf einem ausgeglichenen Niveau einpendeln und tatkräftige Leute sich des Scherbenhaufens annehmen, den unfähige Leute zurückgelassen haben.“

Angesichts solcher Erklärungen, die jeder, der ein Opfer der Krise und Massenarbeitslosigkeit geworden ist, als zynisch empfinden muß, macht sich in weiten Teilen der Bevölkerung Skepsis und Mißtrauen gegenüber der politischen Klasse breit. Unter derartigen Umständen drohen selbst unerschütterliche Grundsätze ins Wanken zu geraten und zusammenzubrechen: So stoßen antiparlamentarische und antidemokratische Stimmen, denen früher immer noch eine Abfuhr erteilt worden wäre, nun vielerorts auf offene Ohren.

Als Anfang der siebziger Jahre eine dreißigjährige Phase des Wachstums und Wohlstands endet und wieder das Gespenst von Arbeitslosigkeit und Rezession umgeht, bevölkert sich die soziokulturelle Vorstellungswelt erneut mit fiktionalen Krisenbewältigungen wie beispielsweise den Katastrophenfilmen „Erdbeben“, „Flammendes Inferno“, „Panik über den Wolken“, „Die Höllenfahrt der Poseidon“ etc.5 Diese Streifen signalisieren den Eintritt der Industriegesellschaften in ein neues Zeitalter sozialer Angst.

In dem Maße, wie im Laufe der letzten fünfundzwanzig Jahre die wirtschaftliche Situation sich verschlechtert und die Zahl derjenigen zugenommen hat, die dabei auf der Strecke blieben, konnten sich neuer Aberglauben und moderne Sekten verbreiten. So als sei – im langsamen Wandel der Mentalitäten – zwischen dem Terrain, das die technische Vernunft gewonnen hat, und dem, das die traditionellen Religionen verloren haben, eine Art Niemandsland entstanden, das durch neue Glaubensvorstellungen oder archaische Formen von Religiosität besetzt wird.

Aus der neuen Armut und den durch sie ausgelösten diffusen Ängsten erklärt sich beispielsweise, daß in Europa die Pilgerreisen erheblich zugenommen haben. Wie in den dunkelsten Epochen menschlichen Elends sind einige Gläubige sogar wieder der frommen Überzeugung, daß ihnen die Jungfrau Maria erschienen sei. Im April 1982 versicherte eine Jugendliche in La Talaudière (Departement Indre), sie habe die Mutter Gottes gesehen. Wie von Sinnen strömten in kürzester Zeit Tausende Pilger und Kranke aus dem ganzen Land, aber auch aus Belgien, Holland, der Schweiz und Italien herbei. Sie versammelten sich in dem Garten, der Schauplatz der Erscheinung gewesen sein soll, und warteten auf ein Zeichen des Himmels ...

Im September 1984 wird in Montpinchon (Normandie) eine erneute Marienerscheinung von drei Personen bezeugt, die sie „im Strahlenkranz, mit blonden Haaren und ausgebreiteten Armen“ gesehen haben wollen. Auch diesmal zieht die Hoffnung auf eine erneute Manifestation rasch Tausende Hilfesuchende an den Ort; erfüllt sich ihre Hoffnung nicht, pilgern sie, wie jedes Jahr dreihunderttausend andere auch, nach Kerinizen (Departement Finistère), zum Wohnort von Jeanne- Louise, einer alten Hellseherin. Innerhalb von drei Jahren soll ihr die Jungfrau einundsiebzigmal erschienen sein und gesagt haben: „Ich will Frankreich wieder christlich machen, auf daß es erneut das Licht der heidnischen Völker werde ...“ Durchschnittlich anderthalb Millionen Pilger besuchen jährlich die Kapelle der „wundertätigen Medaille“ in der Rue du Bac 140, Paris. [...]

Diese Renaissance von Volksreligion und Heiligenkult, die von den konservativsten Vertretern der kirchlichen Hierarchie gestützt wird, deckt sich zeitlich genau mit der Rückkehr zu schweren Zeiten. Wieder beginnt man, auf die Vorsehung zu hoffen und im wörtlichen Sinne an Wunder zu glauben.

Noch stärker jedoch erweist sich der Glaube an die alten heidnischen Glücks- und Schicksalsmythen; und dreitausend Jahre nach den Chaldäern erfleht man die Macht der Sterne, „nach deren unerschütterlichem Willen alles im Universum sich fügt“. Im vollen Wissen um die Unvereinbarkeit solchen Glaubens mit wissenschaftlicher Erkenntnis halten die von den Unwägbarkeiten der neuen Zeit verunsicherten Menschen an völlig unlogischen Vorstellungen und bizarrem Aberglauben fest. Ohne es zuzugeben, bieten sie damit einer wissenschaftlich-technischen Rationalität die Stirn, der es nicht immer gelingt, die alltäglichen Schrecken (Arbeitslosigkeit, Aids, HIV-infizierte Blutkonserven, Rinderwahnsinn, Krebs, Einsamkeit, Unsicherheit etc.) zu vertreiben. In den neoliberalen Gesellschaften, die den Slogan „Möge der Bessere gewinnen“ zu ihrem Wahlspruch erhoben haben, versucht jeder sich zu beweisen, daß er – unabhängig von seiner tatsächlichen sozialen Situation – ein Gewinner, ein Siegertyp sein kann. Und zwar mit Hilfe des Glücksspiels. Der Zufall rückt dabei an die Stelle des Heiligen – er fasziniert und erschreckt gleichermaßen. Ständig werden neue Lotterien erfunden, wir erleben die geradezu irrwitzige Ausbreitung von Preisausschreiben, mit denen unzählige Geschäfte, Produktmarken und Zeitschriften locken. Von den vielen Fernsehsendungen ganz zu schweigen, die unter den staunenden Augen von Millionen ausgeschlossener Zuschauer ein bizarres Rad der Fortuna in Bewegung setzen, das einen Geldregen auf die glücklichen Auserwählten niedergehen läßt. [...]

Die Unvernunft speist sich aus Ignoranz und Leichtgläubigkeit, Mythen und Leidenschaften, Glauben und Ängsten. Sie sind der Nährboden für jede Religion, jeden Aberglauben. Und der wirtschaftliche Schockzustand, in dem sich die europäischen Gesellschaften gegenwärtig befinden, könnte sie leicht in die Teufelselixiere einer neuen Barbarei verwandeln.

Der Nationalsozialismus stieß in einem zutiefst verunsicherten Deutschland auf fruchtbaren Boden; er hat es verstanden, sich die wirtschaftliche Depression, die konvulsivische Mutation des Kapitalismus und das nationale Trauma zunutze zu machen. Mit genau dieser explosiven Mischung sieht sich Europa heute erneut konfrontiert. Werden die Menschen rechtzeitig aufwachen, um zu verhindern, daß jene verhängnisvolle Entwicklung sich wiederholt?

dt. Christian Hansen

Fußnoten: 1 Ignacio Ramonet, „Géopolitique du Chaos“, Paris (Galilée, Reihe Espace critique) 1997, 160 Seiten. 2 Le Monde, 3. Juni 1992. 3 Siegfried Kracauer, „Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films“, Übersetzt von Ruth Baumgarten und Karsten Witte, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1984. 4 André Gisselbrecht im Vorwort der französischen Ausgabe von Thomas Mann, „Mario und der Zauberer“ (1930, frz. Übers.: „Mario et le magicien“, Paris (Flammarion) 1983. 5 Vgl. Ignacio Ramonet, „Le Chewing-gum des yeux“, Paris (Alain Moreau) 1980.

Le Monde diplomatique vom 12.09.1997, von IGNACIO RAMONET