12.09.1997

Es lebe das Haushaltsdefizit!

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Es lebe das Haushaltsdefizit!

MIT dem Schlagwort von der „Sanierung der öffentlichen Finanzen“ – womit die Angleichung der öffentlichen Defizite gemeint ist, so wie sie durch die Kriterien von Maastricht festgeschrieben ist – wird immer häufiger eine Spielart von Austeritätspolitik gerechtfertigt, die zu einer der wichtigsten Ursachen der steigenden sozialen Not geworden ist. Die einzelnen Staaten scheinen auf die Steuerungsfunktion der Haushaltspolitik in zunehmendem Maße verzichten zu wollen. Dadurch überlassen sie dem Markt eines der klassischen gesellschaftlichen Instrumentarien zur Eindämmung sozialer Ungleichheiten und im übrigen eine der Säulen ihrer Souveränität.

Von DOMINIQUE GARABIOL *

Die Lobrede auf den ausgeglichenen Haushalt ist ein zentraler Bestandteil konformistischer Rhetorik. Wie immer vermischen sich dabei Sinn und Unsinn. 1996 schrieb der frühere französische Wirtschafts- und Finanzminister Jean Arthuis den Steuerzahlern in das Vorwort der Einkommensteuererklärung, daß „der Staat ebensowenig wie eine Familie dauerhaft auf Pump leben kann“. Er vergaß, daß eine Familie ihre Schulden zurückzahlen muß, weil die Lebensdauer ihrer Mitglieder begrenzt ist. Global gesehen aber zahlen die Familien ihre Schulden niemals zurück. Sie werden vielmehr von einer Familie auf die nachfolgende übertragen, wobei die Rückzahlungen einiger Familienmitglieder überdies zum Teil durch die Kreditaufnahme anderer ausgeglichen wird.

Ganz allgemein wirkt sich die Entwicklung der Gesamtverschuldung direkt auf die Geldmenge aus: Wenn eine Bank einen Kredit gewährt, dann nimmt der Kreditnehmer das Geld, um etwas zu kaufen oder eine Rechnung zu bezahlen. Dieses Geld wird also auf den Gläubiger übertragen, der es auf sein Bankkonto einzahlt. Diese neue Geldeinlage ermöglicht wiederum die Vergabe neuer Kredite und so weiter. Im Gegensatz dazu folgt aus dem Abbau der Verschuldung eine Verminderung der Geldmenge, und damit eine deflationäre Entwicklung und gegebenenfalls eine Rezession. Will man in den modernen Volkswirtschaften die Verschuldung abschaffen, dann will man auch das Geld abschaffen. Aber wenn Schulden unvermeidlich sind, dann bleibt immer noch die Frage, wie sie auf die einzelnen Wirtschaftssubjekte verteilt werden.

Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung können nicht losgelöst von der Form des Wachstums analysiert werden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, den der Staat finanziert hatte, lag ein großer Teil der inländischen Gesamtverschuldung bei der öffentlichen Hand. Im Gegensatz dazu beruhte das starke Wirtschaftswachstum in den dreißig Aufschwungjahren nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem auf privaten Investitionen, die über Kredite finanziert wurden. Diese Verlagerung der Inlandsschulden (vom staatlichen auf den privaten Sektor) hat sich in den ersten zehn Krisenjahren, die auf den ersten „Ölpreisschock“ von 1973 folgten, fortgesetzt. Dies konnte man daran ablesen, daß sich die finanzielle Lage der Unternehmen verschlechterte. Zwischen 1950 und 1985 ging der Anteil des Staates an der inländischen Gesamtverschuldung Frankreichs von 51 Prozent auf 11 Prozent zurück, während sich der Anteil der Unternehmen und der privaten Haushalte im gleichen Maße erhöhte.1

Seit Mitte der achtziger Jahre hat sich die Situation in ihr Gegenteil verkehrt. In der Absicht, die Unternehmen wieder in die Gewinnzone zu bringen, wird unablässig Einfluß darauf genommen, wie die Wertschöpfung auf Profite und Löhne verteilt wird. Die Sparrate der französischen Unternehmen2 ist von 8,2 Prozent 1982 auf 18,1 Prozent 1995 gestiegen, was in den Industrieländern eine Rekordhöhe darstellt. Der relative Rückgang der Löhne hat zu einem Rückgang der Nachfrage geführt und zum Anstieg der Arbeitslosigkeit beigetragen. Dem französischen Wirtschafts-, Finanz- und Industrieminister Dominique Strauss-Kahn ist dies bekannt: „Das bescheidene Ausmaß unseres Wachstums erklärt weitgehend, daß die Arbeitslosigkeit bei uns höher ist als in unseren Nachbarländern. Dieses Wachstumsdefizit hat seine Ursache darin, daß die Beschäftigten bei der Verteilung der Wertschöpfung benachteiligt werden.“3 Gleichzeitig haben die gestiegenen Sozialausgaben und die relativ niedrigen Steuereinnahmen zu einer Verschlechterung bei den Staatsfinanzen geführt, während sich die finanzielle Lage der Unternehmen verbesserte.

Armer Staat verteilt Geschenke

DER Anteil des Staates an der inländischen Gesamtverschuldung ist also gestiegen, und zwar von 11 Prozent 1985 auf 32 Prozent 1996. 1993 wollte Edouard Balladur die Schuldenlast der Unternehmen vermindern – zu einem Zeitpunkt, als sich diese ohnehin in Luft auflöste –, und verschaffte ihnen einen Vorteil von mehreren Dutzend Milliarden Franc5 . Zu diesem Zweck wurde eine kostspielige Anleihe aufgenommen, die die Staatsfinanzen zusätzlich belastete. Der Staat verschuldete sich, um die Gewinne von Unternehmen zu finanzieren, deren Finanzkraft im übrigen seit 1992 den Umfang ihrer Neuinvestitionen übersteigt: 1990 lag die Höhe ihrer Eigenfinanzierung bei 90 Prozent, 1997 liegt er bei 120 Prozent!6 Es ist eine in der Wirtschaftsgeschichte Frankreichs einmalige Situation: Anstatt Kredite in Anspruch zu nehmen, können die Unternehmen Kredite vergeben – zum Beispiel an den verschuldeten Staat.

Es existiert eine direkte Wechselbeziehung zwischen Staatsverschuldung und Wirtschaftswachstum. Wenn das Haushaltsdefizit die laufenden Ausgaben deckt (wie es in Frankreich der Fall war), bedeutet das eine Erhöhung des Inlandsverbrauchs, die über Kredite, das heißt mit den Spareinlagen der Privathaushalte finanziert wird. Diese Sparguthaben werden also für den Konsum aufgezehrt. Wenn es in einer Volkswirtschaft einen Überschuß an Sparguthaben gibt – seit 1992 verleiht Frankreich einen Betrag von etwa 100 Milliarden Franc an das Ausland –, kann ein öffentliches Defizit durchaus segensreiche Auswirkungen haben: Ohne dieses Defizit wäre der Konsumrückgang noch ausgeprägter gewesen und hätte noch negativere Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung gehabt.

Die Bedeutung, die man dem Haushaltsdefizit beimißt, läßt in Vergessenheit geraten, wie wichtig der Saldo der Zahlungsbilanz ist: Er stellt das einzige Kriterium für das Finanzgebaren einer Volkswirtschaft dar. Belgien verweist zum Beispiel darauf, daß sich seine Staatsverschuldung zwar auf 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beläuft – was das Doppelte der in den Maastrichter Konvergenzkriterien festgelegten Obergrenze ist. Diese Staatsverschuldung wird aber fast vollständig durch inländische Spargelder abgedeckt, während der ausländische Anteil daran nur 12 Prozent des BIP ausmacht. Für Italien gilt das gleiche. Im Gegensatz dazu liegt die deutsche Quote gegenwärtig bei 61 Prozent des BIP und der vom Ausland finanzierte Anteil bei 25 Prozent des BIP. Dieser Anteil ist also doppelt so hoch wie in Italien und Belgien.

Diese Zahlen zeigen, daß die größten Defizite in Europa vor allem auf einem inländischen Ungleichgewicht bei der Verteilung der Wertschöpfung auf Gewinne und Löhne und auf einem Überschuß an Spargeldern beruhen. Die deutsche Situation ist paradoxerweise ganz anders, denn dort treffen niedriges Wachstum, Staatsverschuldung und eine unzureichende Sparleistung (abzulesen am Ungleichgewicht der deutschen Zahlungsbilanz seit der Wiedervereinigung) zusammen. Ein Abbau des Haushaltsdefizits ist nur dann sinnvoll, wenn es eine zu geringe Sparleistung und ein überzogenes Konsumverhalten gibt, wie es in den USA – aber nicht in Europa – der Fall ist. In den Maastrichter Verträgen wurde eine Grenze von 3 Prozent des BIP für das jährliche Haushaltsdefizit und von 60 Prozent des BIP für die Gesamtverschuldung festgesetzt, und im Stabilitätspakt noch einmal bekräftigt. Es gibt allerdings eine direkte Beziehung zwischen den beiden Zahlen: Wenn die Verschuldung bei 60 Prozent des BIP liegt, dann erhöht sich durch jedes öffentliche Defizit von 3 Prozent die Gesamtverschuldung automatisch um 5 Prozent (60 plus 5 Prozent von 60 = 63). Unter Berücksichtigung der sehr niedrigen Inflationsrate (1 Prozent in Frankreich) ist also ein Wachstum von 4 Prozent erforderlich, damit die Verschuldung nicht weiter steigt. Mit einem solch außergewöhnlichen Wachstum ist mittelfristig nicht zu rechnen. Wenn die Wachstumsrate aber darunter liegt, wird eine noch restriktivere Haushaltspolitik notwendig.

Die Verminderung des Defizits bremst jedoch das Wachstum, was einen Rückgang der Steuereinnahmen nach sich zieht und damit neue Einsparungen im Haushalt rechtfertigt. Hervé Goulletquer, Wirtschaftswissenschaftler bei der französischen Bank Crédit Lyonnais, hat nachgewiesen, daß „ein anhaltendes geringes Wachstum das Haushaltsdefizit unausweichlich vergrößert“7 . Der Internationale Währungsfonds (IWF) kam zum gleichen Ergebnis. Zwei seiner Experten, John McDermott und Robert F. Wescott, stellen zum Beispiel fest, daß weniger als ein Viertel der untersuchten Pläne zur Haushaltssanierung die erwarteten Ergebnisse gebracht haben.8 Der IWF hat daraus gefolgert, daß „die staatlichen Behörden den Wunsch äußern können, die Sanierung der öffentlichen Finanzen zu verschieben, wenn die konjunkturelle Lage besonders schlecht ist“9 .

Eine solche Schlußfolgerung, die früher ganz selbstverständlich gewesen wäre, bezieht sich auf die zwangsläufig stabilisierende Rolle der Haushaltspolitik, wie sie die Wirtschaftswissenschaftler der Stockholmer Schule in den dreißiger Jahren beschrieben haben: Eine Abschwächung des Wachstums wirkt sich negativ auf die Steuereinnahmen aus und zieht ein Defizit nach sich, das die Wirtschaftstätigkeit stimuliert. Umgekehrt kann ein stabilisierender Haushaltsüberschuß auch eine konjunkturelle Überhitzung zur Folge haben. Diese Anpassungen, die man als antizyklische bezeichnet, führen manchmal zu eindrucksvollen Ergebnissen. In den Vereinigten Staaten lag das Haushaltsdefizit in Rezessionsperioden (1975, 1983, 1992) immer über 4 Prozent des BIP. Aber der bezeichnendste Fall ist sicherlich Schweden. Das Land hatte in zweifacher Hinsicht zu leiden: zum einen unter der Wirtschaftskrise im Westen und zum anderen unter den Auswirkungen, die der Zerfall des Ostblocks hatte. 1992 und 1993 ging die Wirtschaftstätigkeit um jeweils 1 Prozent zurück, die Inflation lag unter 1 Prozent, und innerhalb von zwei Jahren stieg die Arbeitslosigkeit sprunghaft von 5,8 Prozent auf 9,8 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Das Haushaltsdefizit erreichte damals 12 Prozent des BIP. Ein paar Jahre später ist die Rezession vorüber, und das Defizit liegt bei weniger als 3 Prozent des BIP. Die stabilisierende Wirkung der Haushaltspolitik wird jedoch durch die mit dem europäischen Stabilitätspakt einhergehenden Zwänge beeinträchtigt.

Die 3-Prozent-Grenze scheint um so gefährlicher, als die Zinslast für die Schulden 1995 – vor allem wegen der damals sehr hohen Zinsen – in der Europäischen Union durchschnittlich 5,4 Prozent des BIP ausmachte. Um die 3-Prozent-Grenze einzuhalten, müssen die Staaten in Zukunft einen Positivsaldo vor Zinsen von mehr als zwei Prozent des BIP erreichen, was unweigerlich in die Rezession führt. Die laufenden Ausgaben müßten also jedes Jahr reduziert werden, ohne daß man die Steuern senkt. Aufgrund des gegenwärtig niedrigen Zinsniveaus ist glücklicherweise mit einer zwangsläufigen Reduzierung der finanziellen Belastungen zu rechnen. Gleichzeitig kann eine neue Sparrunde vermieden werden, deren negative Folgen für den Arbeitsmarkt absehbar wären.

Natürlich sollte die Defizitentwicklung kontrolliert verlaufen, um haushaltspolitische Spielräume zu bewahren. Das aber funktioniert nur, wenn die allgemeinen Rahmenbedingungen stimmen. Um die Auswirkungen der Haushaltssparpolitik auf das Wachstum zu neutralisieren, muß der private Verbrauch auf Kosten der Spartätigkeit zunehmen. Diese Zunahme macht es dann aber erforderlich, daß die Verteilung der Wertschöpfung spürbar zugunsten der Beschäftigten verändert wird, und zwar entweder durch die Schaffung von Arbeitsplätzen oder durch Lohnerhöhungen, oder durch beides zugleich.

Wenn diese Annahme zuträfe, wenn also die inländischen Finanzen wieder im Gleichgewicht wären, würden die Neoliberalen trotzdem sofort die Frage nach der verlorengegangenen internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stellen. Dann hilft nur noch das allseits bekannte Mittel, das auch von John McDermott und Robert F. Westcott empfohlen wird, nämlich die Abwertung der Landeswährung.

Wenn man die Maßnahmen, die sich aus dem Stabilitätspakt ergeben, zur Richtschnur des Handelns macht, dann führt dies zu einer explosiven Situation. Meistern kann man sie nur, wenn der private Verbrauch durch eine mutigere Beschäftigungs- und Einkommenspolitik angekurbelt wird, die notwendigerweise mit einer Abwertung der Landeswährung Hand in Hand geht. Für Europa ist die Aufwertung des Dollar um 30 Prozent innnerhalb eines Jahres in dieser Hinsicht eine Erleichterung. Weniger begeistert darüber dürften die Anhänger eines „starken Franc“ sein, die sich bereits über eine „Abwertung Europas“ Sorgen machen.

dt. Christian Voigt

* Wirtschaftsexperte

Fußnoten: 1 Yves le Henaff, République, Nr. 2, April 1988. 2 Bruttosparleistung/Wertschöpfung laut „Jahresbericht 1995 des Conseil National du Crédit“, Paris. 3 Pressekonferenz am 21. Juli 1997. 4 „Bulletin de la Banque de France“, Paris, 4. Quartal 1996. 5 Es ging dabei um die Streichung der einmonatigen Verzögerung bei der Rückzahlung der von den Unternehmen überwiesenen Mehrwertsteuer durch den Staat. 6 Bei seiner Pressekonferenz vom 21. Juli hat Dominique Strauss-Kahn festgestellt: „Im letzten Jahr, das heißt im Jahr 1996, lag die Summe der Sparguthaben der Unternehmen um 134 Milliarden Franc über der Summe ihrer Investitionen.“ Er hätte hinzufügen können, daß dieser Überschuß 1,5 Prozent des französischen Bruttoinlandsprodukts entsprach, wodurch die Befürchtungen hinsichtlich der Verschuldung des Landes ein wenig relativiert werden. Das 3-Prozent-Kriterium für das Staatsdefizit berücksichtigt nicht die Existenz privater Überschüsse. 7 Diese Untersuchung wurde am 11. Februar 1997 von der Nachrichtenagentur Reuter verbreitet. 8 John McDermott und Robert F. Wescott, „An Empirical Analysis of Fiscal Adjustment“ – Arbeitspapier Nr. 96/59, Washington (IWF) 1996. 9 „Ajustement des finances publiques: le dosage des mesures est crucial“, Bulletin des IWF, Washington, 3. Februar 1997.

Le Monde diplomatique vom 12.09.1997, von DOMINIQUE GARABIOL