12.09.1997

Auf neuen Autobahnen in die neuen Siedlungen

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Auf neuen Autobahnen in die neuen Siedlungen

DIE Enteignung der Palästinenser ging in Etappen vonstatten. Mit der Gründung Israels, 1948, verloren sie zunächst die Hälfte ihres Landes. Fünfzig Jahre später will die Regierung Netanjahu sich nun auch noch die Hälfte von dem einverleiben, was übriggeblieben ist – vom Westjordanland und vom Gazastreifen, die seit 1967 unter israelischer Besatzung stehen. Wo soll aber dann der palästinensische Staat entstehen?

Von JAN DE JONG *

Das Jahr 1997 hat einen Umschwung in der Haltung der Palästinenser zu den Osloer Verträgen gebracht. Die Bevölkerung ist zunehmend der Ansicht, daß eine Fortführung des bisherigen Kurses der palästinensische Autonomiebehörde fatale Konsequenzen nach sich zöge. Die Chancen, die Gebiete zurückzuerhalten, die für den Aufbau des Landes lebenswichtig sind, haben sich verschlechtert. Die Aussichten auf ein Abkommen sind in hohem Maße davon abhängig, wie die Bodenfrage geregelt wird.

Kurz vor Jahresende 1996 wurde Jassir Arafat ein Bericht vorgelegt, der den neuesten statistischen Überblick über das von Israel beschlagnahmte Land im Westjordanland und im Gazastreifen enthielt.1 Die dort genannte Zahl – fast 3000 Quadratkilometer, das heißt 50 Prozent der 1967 besetzten Gebiete – ist schon deshalb ernst zu nehmen, weil sie mit unabhängigen Berechnungen übereinstimmt. Besonders beunruhigend ist, daß nach diesem Bericht 10 Prozent der Konfiskationen – also ein Gebiet, das der heutigen Ausdehnung der Autonomieregion Gaza entspricht – in die Jahre fallen, in denen die Oslo-Verträge in die Wege geleitet wurden. Es geht im wesentlichen um Land in Nachbarschaft einer der dreißig größten jüdischen Siedlungen im Westjordanland.

Man muß hier zwischen drei Arten von Grund und Boden unterscheiden. Zum einen gibt es jene meist bebauten oder bewirtschafteten Grundstücke, deren Eigentümer über einen Eigentumsnachweis verfügen. Die zweite Form ist die der öffentlichen Flächen oder des Gemeindelands, das in der Regel nicht bestellt wird, sondern den Dorfbewohnern als Weidegrund dient – hier bestehen kaum Eigentumstitel.2 Innerhalb dieser zweiten Kategorie haben die aufeinander folgenden Regierungen – die osmanische, die britische, die jordanische und die israelische – eine dritte Form geschaffen: „öffentliches“ Land, auch „Regierungs-“ oder „Staatsland“ genannt. Es wird öffentlich genutzt, zum Beispiel als Naturschutzgebiet.

Von der britischen Mandatsregierung wurden zwischen 1917 und 1947 große Teile des Landes dieser dritten Kategorie zugeschlagen. Man betrachtete die Bürger des Landes als kollektive Eigentümer dieser Gebiete – und 1947 bestand die Bevölkerung zu zwei Dritteln aus palästinensischen Arabern. Die Probleme tauchen auf, wenn, wie vor fünfzig Jahren, die Souveränitätsrechte dieser Bevölkerung in Frage gestellt werden.

Was das Eigentum an Grund und Boden angeht sowie die Möglichkeiten, vom eigenen Land zu leben, hat sich für die Palästinenser seitdem die Situation dramatisch verändert. 1947 gehörten ihnen 93 Prozent des Landes, als öffentliches oder privates Eigentum; die restlichen 7 Prozent waren in der Hand der jüdischen Gemeinschaft. Heute beträgt der Anteil privaten palästinensischen Grundeigentums nur noch 15 Prozent des Territoriums, das 1947 Palästina ausmachte, und 10 Prozent davon entfallen auf das Westjordanland und den Gazastreifen. Vor allem die Ereignisse zwischen 1947 und 1949 bewirkten diesen Rückgang – die Palästinenser sprechen von dieser Zeit als der nekba, der „Katastrophe“.

Am 29. November 1947 verabschiedete die UN-Vollversammlung die Resolution 181 über eine Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Bereits damals gab es eine merkwürdige Auslegung des Prinzips der Selbstbestimmung: Auf 86 Prozent des Territoriums, das dem jüdischen Staat zugesprochen wurde, lebten palästinensische Araber, und es bestanden – zumeist öffentliche – palästinensische Eigentumsrechte an Grund und Boden. Zugleich bildeten die Juden in ihrem Staat knapp die Bevölkerungsminderheit. Die Folgen der UN-Entscheidung sind bekannt. Nach zwei Jahren Krieg siegte Israel und eroberte 25 Prozent der Fläche des geplanten arabischen Staates: Der israelischen Herrschaft entzogen blieben das (von Jordanien annektierte) Westjordanland und der Gazastreifen (unter ägyptischer Verwaltung). Zwei Drittel der palästinensischen Bevölkerung wurden zu Flüchtlingen. Von da an gab es in Israel nur noch kleine Gebiete, die nicht unter staatlicher Oberhoheit standen: In Galiläa und im Nordosten von Tel Aviv verfügten Palästinenser über Grundeigentum.

Die zweite Phase der Enteignung begann, als Israel im Verlauf des Sechstagekriegs von 1967 das Westjordanland, Ost- Jerusalem und den Gazastreifen eroberte. Die Regierung nutzte ihre faktische Oberhoheit, um nach Vorbild der Briten und der Jordanier die überwiegend unbewirtschafteten Gebiete zu „Staatsland“ zu erklären; sie ging aber noch weiter: Vor allem in der Gegend von Latrun, in Ost- Jerusalem und in Abschnitten des Jordantals wurden auch große Teile privaten Grundeigentums unter staatliche Verwaltung gestellt.

Zunächst dienten die eroberten Gebiete öffentlichen Interessen. Es wurden neue Wohnsiedlungen am Ostrand von Jerusalem gebaut und landwirtschaftliche Bewässerungsprojekte im Jordantal vorangetrieben. Doch bald entstanden auf dem Terrain, das von Jordanien oder von Israel zu „Staatsland“ erklärt worden war, neue jüdische Siedlungen. Diese waren zwar strategisch und politisch bedeutsam, nahmen aber nur eine geringe Fläche ein – nicht mehr als 5 Prozent des Gazastreifens und des Westjordanlands – und gefährdeten noch nicht das Recht der autochthonen Bevölkerung auf „Staatsbesitz“ – schon die Existenz dieses Begriffs macht klar, daß ein solches bestand.

Das Abkommen, das am 13. September 1993 in Washington unterzeichnet wurde, hat diese Gebiete in Gaza und im Westjordanland zum Gegenstand der Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern gemacht. Aus Sicht der internationalen Gemeinschaft handelt es sich um ein Randproblem, aber für die Verhandlungsparteien bedeutete der Versuch, Vereinbarungen über den endgültigen Status der „umstrittenen“ Gebiete zu erarbeiten, den Eintritt in eine Grauzone. 1947 hatte der Teilungsplan der Vereinten Nationen fast die Hälfte Palästinas unter arabische Souveränität gestellt, und die UNO betrachtet seit 1967 das Westjordanland, den Gazastreifen und Ost-Jerusalem als besetzte Gebiete. Indem die PLO die Oslo-Verträge unterzeichnete, erkannte sie jedoch indirekt die Rechtmäßigkeit israelischer Ansprüche auf dieses Land an und schuf die Grundlage für Verhandlungen über die Aufteilung – obwohl die Palästinenser die Mehrheit der Bevölkerung stellen (87 Prozent) und das strittige Land von ihnen genutzt wird.

Nach vier Jahren Verhandlungen scheint nichts mehr zu gehen.3 Was genau bei den „Endphase“-Verhandlungen herauskommen wird, bleibt offen, aber die israelischen Politiker – aller Parteien – wissen genau, was sie wollen. Die langfristigen Planungsentscheidungen, die der israelische Infrastrukturminister Ariel Scharon Anfang des Jahres getroffen hat, zeigen erneut, wie man sich die Aufteilung vorstellt.

Ein erstes Indiz: In der nächsten Stufe des Entwicklungsplans für die Siedlung Maale Efraim im Jordantal (siehe Karte) ist zunächst eine Verdoppelung des genutzten Bodens vorgesehen – als Fernziel gilt die Ausweitung auf das Sechsfache. Aufschlußreich ist auch die Entscheidung, eine Eisenbahnlinie von Tel Aviv zur Siedlung Ariel, südlich von Nablus, zu bauen; im nächsten Schritt soll dann im Rahmen des israelischen Städtebauplans von 1995 eine Bahnlinie zwischen Tel Aviv und Jerusalem entstehen, die auch die Siedlungen Kirjat Sefer und Givat Ze'ev anbindet. Überdies gab Scharon grünes Licht für den Bau einer Autobahn, die parallel zur Eisenbahn verlaufen soll. Zweck dieser Verkehrsverbindungen ist es, den Großraum Jerusalem-Tel Aviv bis weit ins Westjordanland auszudehnen, so wie es die Richtlinien im Rahmenplan für Wohnungsbau, Straßenbau und Industrieentwicklung vorsehen. Hinzu kommt der beschleunigte Ausbau der dreißig Siedlungen und die Fertigstellung eines Netzes von Umgehungsstraßen (bypass roads) um die großen arabischen Städte.

Auch auf politischer Ebene wurde 1997 ein entscheidender Schritt vollzogen. Im Januar schlossen Michael Eitan, Fraktionsvorsitzender des Likud, und Jossi Beilin, einer der Führer der Arbeitspartei, ein „nationales Abkommen bezüglich der Verhandlungen über die abschließenden Regelungen mit den Palästinensern“. Es folgt derselben Logik wie eine andere Erklärung, die Beilin im März 1996 gemeinsam mit dem palästinensischen Verhandlungsführer Abu Masen (Mahmud Abbas) unterzeichnet hatte. Dort wurde von palästinensischer Seite ein bedeutendes Zugeständnis angeboten: Israel könne das Territorium annektieren, auf dem 70 Prozent der jüdischen Siedler leben, wenn die verbleibenden 94 Prozent des Westjordanlands unter eine palästinensische Verwaltungshoheit mit den äußeren Zeichen der Staatlichkeit gestellt würden; Ost-Jerusalem bliebe unter israelischer Souveränität, aber die Palästinenser dürften ihre Hauptstadt al-Quds in Abu Dis einrichten, einer Vorstadt im Osten Jerusalems.

Daß die Palästinenser sich damit einverstanden erklärten, ein territorialer Kompromiß sei auch bei Fortbestehen der Siedlungen möglich, war ein Meilenstein auf dem Weg zur drastischen Reduzierung der Gebiete, die das Abkommen zwischen Beilin und Eitan vorsieht. Die rechte israelische Regierung fühlte sich daraufhin ermutigt, mehr als 50 Prozent des Westjordanlands und den Erhalt sämtlicher dort gelegener Siedlungen zu fordern.

Kurz darauf veröffentlichte eine Zeitung den Inhalt des sogenannten „Allon- plus-Planes“4 (siehe Karte), den Ministerpräsident Netanjahu angeblich beim amerikanischen Präsidenten Clinton vorgelegt hat, um klar zu machen, welche Gebiete aus Sicherheitsgründen israelisch bleiben müßten. Diese Karte ist eigentlich nur die getreuliche Umsetzung der endgültigen Regelungen, wie sie im Beilin-Eitan-Abkommen vorgesehen sind: „Das Westjordanland wird zur Hälfte unter israelische, zur Hälfte unter palästinensische Hoheit gestellt. Die Städte, die Dörfer und rund 99 Prozent der Bevölkerung sollen von den Palästinensern verwaltet werden.“5

Abgesehen von kleinen Anpassungen, etwa im Gebiet der Siedlungen Elon Moreh und Eli/Shiloh, folgt der Verlauf der Teilungslinie im Allon-plus-Plan genau den Grenzen jener Gebiete, die Israel seit dem Abschluß der Oslo-Verträge enteignet hat. Von den großen Siedlungen bleiben lediglich Kirjat Arba und Talmon von palästinensischem Territorium umgeben – aber die dorthin führenden Umgehungsstraßen sind praktisch fertig. Das bestätigt die Befürchtungen, daß alle Voraussetzungen gegeben sind, um auf der Basis des Allon-plus-Planes eine letzte Welle der Beschlagnahmungen mit katastrophalen Ausmaßen durchzuführen.

dt. Edgar Peinelt

* Geograph, Amsterdam/Jerusalem.

Fußnoten: 1 Die Zahlen stammen aus der Internet-Ausgabe des Palestine Report, 13. Dezember 1996. 2 Auf der nebenstehenden Karte ist der private Grundbesitz der Beduinenstämme nicht verzeichnet. Soweit offiziell eingetragen, beträgt er mehr als 350 Quadratkilometer. Im übrigen sind die meisten dieser Territorien nach 1949 von Israel enteignet worden. 3 Siehe vor allem Alain Gresh, „Der Frieden – eine Zeitbombe?“, Le Monde diplomatique, Dezember 1995, sowie Geoffrey Aronson, „Die gewaltsame Zersiedelung der palästinensischen Autonomie“, Le Monde diplomatique, November 1996. 4 Ha'aretz, 5. Juni 1997. Im Juli 1967 schlug der Vizepremierminister Jigal Allon vor, aus „Sicherheitsgründen“ einen Teil des Westjordanlands, vor allem im Jordantal, zu besiedeln. Er befürwortete eine Aufteilung des Gebiets zwischen Israel und Jordanien mittels eines Friedensvertrags. 5 Abraham Michael Rosenthal, „Israel's Red Line Map“, New York Times, 18. Februar 1997.

Le Monde diplomatique vom 12.09.1997, von JAN DE JONG