Die Uiguren von Sinkiang sollen zu Chinesen werden
OST-TURKESTAN hieß die an Chinas westlichem Rand gelegene Region Sinkiang einstmals. Das riesige Gebiet, das zum Teil aus Wüste besteht, ist seit einigen Jahren Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen der uigurischen Bevölkerung und der chinesischen Staatsmacht. Auf Sprengstoffanschläge und Attentate antwortet Peking mit harter Hand. Eine Entwicklung wie in jenen zentralasiatischen Staaten, die mit der Implosion der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erlangten, scheint im Falle Sinkiangs ausgeschlossen. Das bedauern vor allem jene Uiguren, die zum Teil schon seit längerem in Kasachstan leben und von einem freien und unabhängigen Land träumen.
Von VINCENT FOURNIAU *
Im Winter 1996 und im Frühling 1997 war Sinkiang erneut, wie schon seit einigen Jahren, Schauplatz mörderischer Anschläge. Die Explosionen forderten zahlreiche Opfer, aber niemand bekannte sich dazu1 . Gleichwohl waren sie ein unübersehbares Anzeichen für Unruhe und Protest, auf die Chinas Machthaber mit einer Welle von Verhaftungen2 reagierten.
Woher kommt die Unzufriedenheit in Sinkiang? Zeigt sich hier ein Phänomen, das sich auf die gesamte Region erstreckt, die recht vage als „Zentralasien“ bezeichnet wird? Oder werden diese Ereignisse überbewertet, wie so oft, wenn es sich um die Volksrepublik China handelt?
Sinkiang, auch bekannt unter dem Namen Chinesisch-Turkestan, ist sowohl China als auch Zentralasien, denn die Region gehört zu beidem (siehe Karte). Doch heute bedeutet Sinkiang weitgehend China in Zentralasien.
In vieler Hinsicht ist China eine Welt der Dauer und Beständigkeit, Zentralasien hingegen eine Region der Brüche und der politischen Unsicherheit. Zudem hatte es nie einen eigenen Staat, durch den seine Grenzen nach außen bestimmt waren, und geriet oft in den Einflußbereich größerer Mächte. Seit es 1757-1759 von den Mandschu-Kaisern erobert wurde, gehört Sinkiang zu China. Doch waren in dem Zeitraum zwischen dieser Epoche und 1949 (Gründung der Volksrepublik) die Verbindungen zu Peking so locker, daß Sinkiang sich mehrmals in einer quasi unabhängigen Situation befand. Heftige Revolten markierten regelmäßig die Beziehung der Provinz zur Zentralmacht.
Doch seit 1949 ist Sinkiang fest an China gebunden, und seit den sechziger Jahren hat Peking dort die Ansiedlung von Han-Chinesen gefördert. In der Folge stieg der Han-Anteil an der Gesamtbevölkerung in der Region von 10 Prozent im Jahr 1955 auf schätzungsweise 40 bis 50 Prozent im Jahr 1994, bei einer Einwohnerzahl von insgesamt 16 Millionen. Für China geht es darum – so der bildliche Ausdruck – „Sand hinzuzufügen“, anders gesagt, „den Zement zu verdicken“3 . Zum ersten Mal wird in Sinkiang die Präsenz des Staates von einer tiefgreifenden Sinisierung begleitet, obwohl doch das chinesische Reich während seiner langen Herrschaft schon in drei verschiedenen historischen Epochen territoriale Vorstöße in das Tarimbecken4 unternommen hatte. Während die staatliche Präsenz Chinas (im 2. Jahrhundert v. Ch., dann im 8. Jahrhundert unter der Tang-Dynastie und kontinuierlich seit 1757) lediglich Spuren in Sinkiang hinterließ, haben die letzten fünfundzwanzig Jahre die Situation von Grund auf verändert.
Diese Region, die größte der Volksrepublik China (ein Sechstel ihres Territoriums), ist vor allem das Land einer nationalen Minorität, der Uiguren (7 Millionen 1994), die überwiegend im Tarimbecken ansässig sind. Die andere große Gruppe (außer den Han-Chinesen) sind die Kasachen (1 Million). Sie leben auf den grasbewachsenen Berghängen der Dsungarei nördlich der Hauptstadt Urumtschi, zusammen mit Kirgisen, Tadschiken, Hui, Sibo usw. Diese Gemeinschaften stellen einige der offiziell anerkannten 55 nationalen Minderheiten (minzu) in der Volksrepublik, für die autonome Verwaltungsstrukturen unterschiedlichen Grades geschaffen wurden. Die höchste Stufe ist die „autonome Region“. Seit 1955 ist Sinkiang eine der fünf „autonomen Regionen“ (zizhiqu) des Landes. Dieser Status berechtigt zu einem eingeschränkten Gebrauch von Nicht-Han-Sprachen – darunter an erster Stelle des Uigurischen – in Schule, Presse und Verlagswesen.
Trotz seines besonderen Status verfügt Sinkiang natürlich über keinerlei politische Autonomie. Dennoch hat China in den fünfziger Jahren, als das „sozialistische Lager“ noch von ewiger Dauer zu sein schien, eine Verknüpfung zwischen ethnisch-kultureller Identität und Territorium hergestellt. Wenn auch ohne jede reale Bedeutung, entspricht diese Verknüpfung gleichwohl einer hartnäckigen Bestrebung der nationalen Bewegungen in aller Welt seit dem 19. Jahrhundert und bleibt auch heute noch für viele von ihnen ein angestrebtes Ziel.
Die Existenz von 15 Republiken im Rahmen der russischen Föderation hat eine friedliche Implosion des Systems ermöglicht. Vor den Toren des postsowjetischen Raums gelegen, wird Sinkiang von Republiken begrenzt, die inzwischen tatsächlich unabhängig sind: Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, ebenso wie die Mongolei im Nordosten, der ehemalige Satellitenstaat der UdSSR. Allerdings kann die ehemalige Sowjetunion der nationalen uigurischen Bewegung nicht direkt als Vorbild dienen, denn China ist keine Föderation. Es versteht sich vielmehr als einheitliche, multinationale sozialistische Republik.
In Sinkiang treten gewissermaßen die allgemeinen Charakteristika der Regionen besonders hervor, die in China von nationalen Minderheiten bevölkert werden. Diese Territorien machen 86 Prozent der strategischen Grenzgebiete aus, verfügen über reiche natürliche Ressourcen, die für die Wirtschaft des Landes erforderlich sind, liegen jedoch mit ihren Einkommen unter dem nationalen Durchschnitt und leiden so unter erheblicher ökonomischer Benachteiligung. Insgesamt lag in China das nationale Pro-Kopf-Einkommen in den ländlichen Gebieten 1994 bei 1220 Yuan. In Sinkiang lag es bei 935 und in Tibet bei 555 Yuan. 44 Prozent der armen Bevölkerung Chinas gehören nationalen Minderheiten an.
Die Wüste Takla Makan dient als unterirdisches nukleares Versuchszentrum. Hier liegen aber auch riesige Erdölvorkommen, die bereits ausgebeutet werden und in Zukunft die wichtigsten Erdölfelder in der Mandschurei und in Shan-dong ersetzen könnten, wenn diese erschöpft sind. Schließlich ist Sinkiang neben Tibet die Region, die am weitesten von den neuen Wirtschaftszonen der Küstenprovinzen entfernt ist, und unterliegt einer doppelten Akkulturation: durch Modernisierung und durch Anpassung an die chinesische Kultur.
Die Existenz großer Minderheiten an der Peripherie des chinesischen Raums, vom Nordosten bis in den Südwesten, erweckt den Anschein einer von oben bestimmten Verteilung. Doch tatsächlich hat jede ihre eigene historische Beziehung zu China. Unter den großen nationalen Minderheiten unterscheiden sich die Uiguren am meisten von den Chinesen. Sie haben China (im Gegensatz zu den Mongolen und den Mandschu) keine einzige Dynastie gestellt, sie teilen mit der chinesischen Kultur weder die Sprache, die Religion, die Architektur noch die Ernährungsgewohnheiten (bei ihnen nehmen Milchprodukte einen großen Raum ein). Vor allem aber hat sich die uigurische Identität in ihren heute vorherrschenden Zügen völlig unabhängig vom chinesischen Reich herausgebildet, das politisch zwischen dem 8. und dem 18. Jahrhundert in diesem Teil Zentralasiens nicht präsent war.
Die heutige Identität der Uiguren ist durch den Islam bestimmt sowie durch die Tatsache, daß sie eine Turksprache sprechen. Religion und Zugehörigkeit zu den Turkvölkern sind also die identitätsstiftenden Momente. Der Islam kam aus dem Westen über Transoxanien5 , das zu Beginn des 8. Jahrhunderts in das erste arabische Kalifat eingegliedert wurde. Die späteren Migrationen verschiedener Turkvölker dagegen erfolgten aus dem Norden (aus Sibirien und der Mongolei).
Unter den größten islamischen Turkvölkern Zentralasiens liefern die Uiguren das extremste Beispiel von Identitätsbildung oder ausgesprochener Besonderheit. Ungeachtet dessen, daß Sinkiang eine multiethnische Region ist und andere Gruppen hier ebenso heimisch sind, unterliegt die uigurische Identität verschiedenen Arten von innerer Spannung.
Das Ethnonym (der ethnische Name) „Uigur“ wurde, nachdem er mehrere Jahrhunderte verschwunden war, in den zwanziger Jahren wieder eingeführt. Es heißt gewöhnlich, Sinkiangs Oasen seien türkisches Expansionsgebiet gewesen. In Wirklichkeit wurden sie durch zwei mittelalterliche Reiche unterschiedlicher Religion türkisiert6 , von denen das eine muslimisch und das andere manichäisch und buddhistisch war. Den Namen „Uigur“ trug der manichäisch-buddhistische Staat. Er wurde durch das Vorrücken des Islam verdrängt. Die türkisch-islamische Identität entwickelte sich so in ganz Sinkiang und führte im 15. Jahrhundert zum Verschwinden des Buddhismus und der politisch-kulturellen uigurischen Identität, die als Erbe des verschwundenen buddhistischen Reiches fortlebte. Allerdings wurde der Name Uigur durch keine andere föderative Bezeichnung ersetzt und verschwand bis zu seinem Wiederaufleben zu Beginn dieses Jahrhunderts.
Auf einem Kongreß politischer Aktivisten aus den muslimischen und turksprachigen Regionen in Taschkent (Usbekistan) im Jahr 1921 wurde vorgeschlagen, als Bezeichnung für die seßhaften islamisch-türkischen Bevölkerungsgruppen im Tarimbecken wieder den Namen „Uigur“ zu verwenden, zur Verdeutlichung ihrer Identität, die sich seit dem Mittelalter im Zusammenhang mit Mikro-Regionalismus und einem sehr weit gefaßten Zugehörigkeitsgefühl zum Islam und zu den Turkvölkern herausgebildet hatte.
In Sinkiang verbreitete sich diese Bezeichnung rasch, zumal sie in den dreißiger Jahren von dem prosowjetischen Gouverneur Scheng Schisai aufgegriffen wurde. Offiziell wurde sie erstmalig bei der Schätzung der Zahl der Minoritätenangehörigen verwandt. 1949 wurde diese Bezeichnung von der Volksrepublik China bereitwillig akzeptiert, da solche Begriffe für die Einführung der neuen Minoritätenpolitik nützlich schienen.
Bleibt die Frage, wie stark angesichts dieser Umstände die uigurische Identität verankert ist und ob der Islam dabei als stabilisierender Faktor wirkt. Allgemeiner gesagt: welche Aspekte der Geschichte Sinkiangs – der territorialen, ethnisch-kulturellen, religiösen usw. Identität – wollen die Befürworter der Unabhängigkeit7 (deren Zahl sehr schwer abzuschätzen ist) in den Vordergrund stellen? Diese Fragen stellen sich um so mehr, als in dieser Region zur Zeit der Eroberung durch die Mandschu im 18. Jahrhundert kein Staat existierte.
Der islamische Faktor
ES ist klar, daß sich die Uiguren zur Unterscheidung von ihren Nachbarn, den muslimischen Turkvölkern in den 1991 entstandenen ehemals sowjetischen Republiken, in einem föderalistischen Gebilde zusammenfinden müssen. Der Zerfall der UdSSR hat die Unterschiede zwischen all diesen Republiken sichtbar gemacht, wie auch ihre Absicht, eine eigenständige Politik zu verfolgen. Daß aufgrund der gemeinsamen Religion und der sprachlichen Verwandtschaft ein Band der Solidarität entsteht, ist nicht selbstverständlich. Selbst die Türkei, die bei ihren Bemühungen, auf die zentralasiatischen Märkte vorzudringen, dieses Band am lautesten beschwört, verfährt langfristig nach anderen Maximen. So ist ihr Hauptgesprächspartner in der Region unbestreitbar Rußland, auf politischer wie auch auf wirtschaftlicher Ebene.
Wie fast überall in der muslimischen Welt stellt sich die Frage nach der politischen Bedeutung des Islam. Tatsächlich erlebt Sinkiang einen Aufschwung politisch gefärbter Religiosität. Sogenannte wahhabitische Gruppen treten immer häufiger auf, ebenso wie Prediger aus anderen muslimischen Ländern wie Saudi-Arabien oder Pakistan; auch ein Wiederaufleben der Sufi-Bruderschaften läßt sich beobachten.
Allerdings nehmen die Uiguren im chinesischen Islam eine Sonderstellung ein und sind zahlenmäßig nicht einmal die stärkste muslimische Gruppe. Man schätzt die Zahl der auf mehrere Nationalitäten verteilten Muslime in China auf 20 Millionen. Die Hui, chinesische Muslime, sind in allen Regionen vertreten, mit einer gewissen Konzentration in Zentralchina. Sie bilden die wichtigste nationale Minderheit unter den muslimischen Völkern, noch vor den Uiguren. Mit Ausnahme von Sinkiang, wo sie 1990 lediglich auf einen Anteil von 0,8 Prozent an einer Gesamtbevölkerung von damals 13 Millionen Einwohnern kamen, sind die Hui die tragenden Kräfte des Islam in der chinesischen Gesellschaft.
Unabhängig von den Verzerrungen, die jede Berufung auf ein Erbe mit sich bringt, erfüllt also die uigurische Identität offenbar jene einigende Funktion, die die Nationalisten von ihr erwarten. Ihr Ziel bleibt die „Selbstbestimmung“, sagt Erkin Alptekin, ein uigurischer Nationalist, der als Flüchtling in der Türkei lebt. Und er fügt hinzu: „Die Uiguren wollen über ihr Schicksal entscheiden können. Wir haben vor der Eroberung durch die Mandschu einen eigenen souveränen Staat gehabt, und wir möchten ihn wiedererstehen sehen. Das könnte im Rahmen einer Föderation geschehen. Ich glaube nicht, daß die Uiguren eine derartige Lösung gänzlich ablehnen würden. Im Augenblick fürchten sie vor allem den Verlust ihrer Identität. Um die Chancen für eine friedliche Regelung zu erhalten, muß die chinesische Regierung dringend Gespräche über das Schicksal meines Volkes aufnehmen.“8
Der Anteil der Uiguren an der chinesischen Geschichte ist gering, die Han- Präsenz in Sinkiang hingegen sehr ausgeprägt. Dieses Ungleichgewicht führt bei den Uiguren zwangsläufig zur Entwicklung eines starken nationalen Ressentiments. Wird sich die chinesische Politik des „Sand hinzufügens“ schließlich zu einer Düne auswachsen, die nach und nach die Uiguren überrollen und verschlucken wird? Oder wird sich eine nationale Bewegung der Uiguren erfolgreich gegen ein solches Phänomen zur Wehr setzen? Das ist, langfristig gesehen, der Hintergrund der Spannungen, die seit einiger Zeit Sinkiang erschüttern.
dt. Sigrid Vagt
* Dozent an der Ecole des hautes études en science sociales (Hochschule für Sozialwissenschaften).