Man muß nicht unbedingt Margaret Thatcher heißen
FINANZIELLE Erschütterungen in Thailand, Unruhe an den Börsen und unkontrollierbare Finanzströme – das internationale Finanzsystem hat in den vergangenen Wochen erneut seine tiefgreifende Instabilität unter Beweis gestellt. Während das Modell Deutschland wankt, werden in Großbritannien mit der Regierungsübernahme von Anthony Blair und in Frankreich mit der von Lionel Jospin die Fragen nach der ökonomischen Strategie neu gestellt. Soll man den Dogmen der vergangenen zwanzig Jahre treu bleiben, die überall zu starken sozialen Brüchen und – wie in Mexiko oder in Rußland – zu erschreckender Verelendung geführt haben? Oder sollte man sich besser einer langfristigen Vision verschreiben, die sich in erster Linie an den Bedürfnissen der Menschen ausrichtet und ihnen die Technologien des Immateriellen dienstbar macht?
Von RENÉ PASSET *
„Wege für ein entschiedenes Vorgehen suchen“1 heißt zunächst, vom Unumkehrbaren auszugehen und die Tragweite der Veränderungen zu ermessen. Unumkehrbar ist der technische Fortschritt – der Computer existiert und kann nicht auf dem Verordnungsweg aus der Welt geschafft werden. Unumkehrbar sind auch die durch ihn ausgelösten Folgeerscheinungen: ein weltweiter Informationsfluß in „Realzeit“, die Prädominanz der Vernetzung, der Wandel in den Regulationsmechanismen der Systeme. Keineswegs unumkehrbar ist jedoch, was der Ideologie entspringt: ungebremste Freizügigkeit des Handels, Deregulierung sowie die Menschenopfer auf dem Altar eines angeblichen Profitdenkens, das nichts anderes ist als reine Habgier.
Die bedeutendste aller vom Immateriellen ausgelösten Umwälzungen ist zweifelsohne die zunehmende Vernetzung und Interdependenz auf allen Ebenen. Alles, was die Menschen unternehmen, hat inzwischen tiefgreifende Folgen – von der Biosphäre bis zu den kommenden Generationen. Damit rückt auch für die Wirtschaft das Problem der Verantwortlichkeit, also eine ethische Frage, in den Vordergrund. Das Argument, die liberale Marktwirtschaft sei neutral, objektiv und universal und somit quasi wissenschaftlich, denn sie lasse der Natur der Dinge ihren Lauf, hält nicht stand; denn entweder bedeutet Freiheit, alles uneingeschränkt sich selbst zu überlassen, und zwar einschließlich einer Rückkehr zum Gesetz des Dschungels, oder aber sie ordnet sich, und das hieraus resultierende System ist nicht „natürlicher“ als alle anderen.
Wer die Alleingültigkeit eines Systems und eines Denkmodells behauptet, ist entweder unlauter oder ignoriert die elementarsten Regeln wissenschaftlichen Vorgehens. Regieren heißt, Entscheidungen zu treffen, und jede Entscheidung setzt den Bezug auf ein Wertesystem voraus. Hieraus ergibt sich der Vorrang der Politik, die sich auf einen Gesellschaftsentwurf stützt: In der Tat ist Politik das Ergebnis einer Entscheidung der Bürger über Fragen des gemeinsamen Interesses, und die Wirtschaft ein bloßes Mittel zu dessen Umsetzung.
Daher rührt die Anfälligkeit des Marktes und die Notwendigkeit staatlicher Intervention. Denn der Markt will die zahlungsfähige Nachfrage befriedigen, nicht die Bedürfnisse. Er entspricht insofern nur einem Teil der gesellschaftlichen Notwendigkeiten. Ein Privatunternehmen und eine öffentliche Institution können nicht nach denselben Rentabilitätsmaßstäben beurteilt werden, denn ein öffentlicher Dienstleister ist in erster Linie dazu da, die Lücken zu füllen, die das private Angebot läßt, und dessen Defizite und deren gesamtgesellschaftliche Kosten zu korrigieren. Seine Aufgabe ist der Ausgleich, nicht die Festschreibung oder Verstärkung natürlicher Ungleichheiten. Der Gewinn kann nicht, wie einige es gern sähen, das Maß aller Dinge sein: Was wäre beispielsweise aus den Eisenbahnen geworden, hätte sich ihre Entwicklung allein nach ihrer unmittelbaren Rentabilität gerichtet, und was wäre in diesem Fall aus dem Wachstum des Sozialprodukts geworden?
Die Unabhängigkeit der Zentralbanken, durch die die Teillogik eines Instruments über die Logik der Gesamtgesellschaft gestellt wird, ist völlig absurd. Diese zweifache Verkürzung erst des Politischen auf das Wirtschaftliche, dann des Wirtschaftlichen auf das Monetäre, ist jedoch vom monetaristischen Europa abgesegnet worden. Die Wirtschaft besteht aber ebensowenig wie ein Staat allein aus den Interessen irgendeines Einzelakteurs. Beide sind vielfältig und gliedern sich je nach Betrachtungswinkel in unterschiedliche Organisationsebenen: Einzelperson, Unternehmen, Produktionszweig; Wirkliches und Monetäres; Lokales, Regionales, Nationales und Internationales. Über die einander sowohl ergänzenden als auch widersprechenden, unvereinbaren und untrennbaren Einzellogiken muß eine Schiedsinstanz befinden, und diese Rolle steht einzig einer öffentlichen Instanz wie dem Staat als dem organisierten Ausdruck des Volkswillens zu.
Ganz besonders in Zeiten tiefgreifenden Wandels muß die Gegenwart im Zusammenhang mit der sie prägenden langfristigen Entwicklung betrachtet werden. Kurzfristige Entscheidungen fallen anders aus, wenn sie unter einer langfristigen Perspektive getroffen werden. Trotzdem werden Konjunktur und Wirtschaftswachstum hartnäckig miteinander verwechselt, wobei man hofft, aus dem Wachstum werde Vollbeschäftigung resultieren. „Austerität oder Wirtschaftsbelebung?“ heißt die Frage. Sämtliche angeführten Argumente – größtmögliche Deflation, ausgeglichener Haushalt, Senkung der Unternehmerabgaben auf der einen oder Nachfrageförderung nach keynesianischem Muster auf der anderen Seite – folgen jedoch einer Logik, die die Mutationen des Systems nicht in Rechnung stellt.
Die Verfechter der Austerität haben nur das buchhalterische Gleichgewicht im Auge, welches sie durch Ausgabenbegrenzung und erhöhte Abschöpfungen bei den sozial Schwächsten zu erreichen versuchen. Größere Flexibilität bei Abgaben und Lasten für die eine Seite bedeutet für die andere eine zunehmend unsichere Existenzgrundlage und Absicherung. Dabei beweisen die Tatsachen, daß ein erweiterter Reaktionsspielraum für das produktive Kapital nicht zu einer Ankurbelung der Produktion führt, solange die Nachfrage gelähmt bleibt: Wo sind die 400000 Arbeitsplätze, die Yvon Gattaz, seinerzeit Vorsitzender des französischen Arbeitgeberverbandes (CNPF), vor zehn Jahren als Ausgleich für die Abschaffung der amtlichen Genehmigungspflicht von Kündigungen versprach, und wo sind die weiteren 100000, die die Regierung Balladur 1993 bei der Abstimmung über den Fünfjahresplan zur Beschäftigungspolitik ankündigte? Was die 700000 innnerhalb eines Jahres zu schaffenden Stellen angeht, an denen Alain Juppé bei seinem Amtsantritt als Premierminister im Mai 1995 gemessen werden wollte, so wollen wir nicht weiter darüber reden: Das Urteil wurde soeben erst gefällt ...
Wenn Geldausgeben zur Tugend wird
DIE EU-Gipfel von Maastricht, Dublin und Amsterdam haben den ausgeglichenen Haushalt zum Dogma erhoben (siehe Seite 11). Eine der primitivsten Formen des Liberalismus erhielt so ihre Weihen, denn von nun an ist jegliche Form der Regulierung mit Hilfe des Budgets Tabu. In Deutschland wie in Frankreich läßt das Ergebnis nicht auf sich warten: stagnierende Nachfrage, sinkende Steuer- und Sozialeinnahmen sind die Folge. Unweigerlich wiegt die Einnahmenverminderung die Ausgabenverminderung auf, und das Ungleichgewicht bleibt bestehen. Von einem bestimmten Punkt an richtet die Höhe der Steuern das Steueraufkommen zugrunde.
Die Forderung nach einer Einschränkung der öffentlichen Ausgaben ist zwar in aller Munde, doch gleichzeitig sind die Lohnsteuern noch nie so stark angestiegen wie unter den sogenannten liberalen Regierungen. Man schreckt nicht mehr vor Kunstgriffen zurück, die auch in den Augen ihrer Initiatoren an Häresie grenzen dürften: Beim „Ausverkauf des Tafelsilbers“ – worunter auch die Privatisierungen zu fassen wären – wird zugunsten eines Haushaltsausgleichs Vermögen geopfert, nur weil man irgendwie das Gesicht wahren muß.
Die Anhänger einer Wirtschaftsbelebung sind ihrerseits durch Erfahrungen klug geworden und betrachten den nationalen Rahmen, auf den die Theorie von Keynes abgestimmt war, nicht mehr als ausschlaggebend. In einer Zeit der Globalisierung haben sich die Ankurbelungsmaßnahmen der Regierungen Chirac (1984-1986) und Mauroy (1981-1984) durchaus positiv ausgewirkt – aber im Ausland, was in Frankreich zu einem hartnäckigen Defizit der Außenhandelsbilanz führte. Deshalb ist man neuerdings bemüht, die nationalen Bedingungen bei solchen Maßnahmen sorgfältig mit abzuwägen. Weiterhin jedoch verwechselt man beharrlich einen kurzfristigen konjunkturellen Aufschwung mit langfristigem Wachstum und glaubt, letzteres werde die Rückkehr zur Vollbeschäftigung bewirken.
Anzunehmen, daß eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – um 3 bis 3,5 Prozent, wie es gestern noch hieß, oder nur um 2 bis 2,5 Prozent, wie man heute meint – für einen Rückgang der Unterbeschäftigung ausreichen würde, ist das Ergebnis eines monumentalen methodischen Fehlers: die Übertragung einer für kurzfristige Zeiten gültigen Erkenntnis auf langfristige Entwicklungen. Eine Beschleunigung des BIP-Wachstums ist in der Tat meistens dazu angetan, eine zeitweilige Stabilisierung oder Verminderung der Arbeitslosigkeit herbeizuführen, aber dies gilt nur für einen bestimmten Zeitpunkt, also für einen bestimmten Stand der technologischen Entwicklung, der Organisation des Produktionssystems und der Bevölkerungsstruktur, also wenn die eigentlichen Triebkräfte des Wachstums festgefahren sind, was seinerseits eher als langfristiges Phänomen zu betrachten wäre.
Kurzfristig gesehen und unter der Voraussetzung, daß alle anderen Faktoren gleichrangig sind, variiert der Beschäftigungsstand analog dem Produktionsvolumen. Aber auf Dauer verlaufen BSP- Wachstum und Arbeitslosigkeit parallel: In Frankreich hat sich das BSP seit 1970 verdreifacht und die Arbeitslosigkeit verfünffacht. Ausschlaggebend hierfür ist – doch möchte man vielleicht gerade vor diesem entscheidenden Problem die Augen verschließen – nicht das mehr oder minder starke Wachstum, sondern das Wachstumsmodell und die Gesellschaftsstruktur.
Austerität oder Wirtschaftsbelebung sind eigentlich keine theologischen Probleme, die man für die Ewigkeit entscheidet, sondern Fragen, die man in ihrem zeitgeschichtlichen Zuammenhang sehen sollte. Es gibt Phasen, in denen technologische Umbrüche tiefgreifende Umstrukturierungen des Produktionsapparats erforderlich machen. Die Zuführung von Kapital als Garant zukünftiger Entwicklungen hat dann Vorrang. Insofern kann der große englische Klassiker der Wirtschaftstheorie, David Ricardo, mit Fug und Recht zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Kapital als Motor allen Wachstums und die Anlage von Sparguthaben als eine Tugend darstellen. Danach kommt aber der Zeitpunkt, an dem sich trotz technologischen Fortschritts die Fragestellung umkehrt und die volle Nutzung der vorhandenen Potentiale in den Vordergrund rückt. Die Entwicklungsmotoren liegen dann nicht mehr im Kapital, sondern in der Nachfrage. Dies hatte Keynes erkannt2 , als er 1936 eine Politik der großen öffentlichen Aufträge und der Kaufkraftförderung anregte, die man insbesondere unter Inkaufnahme eines Haushaltsdefizits umsetzte. Sparen wird dann zum Laster und Geldausgeben zur Tugend.
Allem Anschein nach befinden wir uns augenblicklich in einer dieser Phasen.3 Preisstabilität, Außenhandelsüberschüsse, zurückhaltende Nachfrage, ein Überhang von Investitionsmitteln, die, statt sich in produktives Kapital zu verwandeln, auf die Finanzmärkte strömen: alles drängt nach Wiederaufschwung. Der Moment ist also gekommen, den Maastrichter Kriterien entgegenzusteuern: Man muß den privaten Konsum anregen und produktive Investitionen der öffentlichen Hand in Zukunftssektoren erhöhen. Das von den 15 Mitgliedsstaaten offiziell verabschiedete, aber nie finanzierte Projekt einer großangelegten transeuropäischen Verkehrsvernetzung wäre dafür ein gutes Beispiel. Auch eine Lockerung des Abgabendrucks und eine Vereinfachung der Genehmigungsverfahren, die für unzählige Fehlschläge und die Resignation zahlreicher Unternehmer verantwortlich sind, wäre ratsam. Festgefahren ist das System jedoch insbesondere im Einnahmenbereich. Eine Ankurbelung sowohl des Angebots wie auch der Nachfrage könnte es wieder in Gang bringen. Dann könnte man auch damit rechnen, daß sich durch steigende Steuereinnahmen und Sozialabgaben die Defizite vermindern lassen. Die kleinkrämerische Sparpolitik hat sich bereits selbst ad absurdum geführt.
Ein Konjunkturmanagement allein kann jedoch nicht die Funktion einer Strategie zur tiefgreifenden Umstrukturierung übernehmen. Zwar ist die Globalisierung eine Tatsache, nicht aber die Freizügigkeit des Handels und die Deregulierung – sie liegen nicht etwa in der Natur der Dinge, sondern entspringen einer Ideologie. Nur ein gemeinsames Vorgehen auf internationaler Ebene kann wieder auflösen, was es zuvor aufgebaut hat. Ein solches Vorgehen ist zum einen deshalb unverzichtbar, weil zwischen der globalen Ebene, auf der sich die wirtschaftliche und finanzielle Macht entfaltet, und der nationalen, auf der die staatlichen Kontrollkompetenzen zum Tragen kommen, ein immer größerer Abstand klafft. Andererseits ist ein solches Vorgehen auch deshalb unverzichtbar, da es notwendige Maßnahmen gibt, die keine Nation allein umsetzen kann, ohne Wettbewerbsverzerrungen in Kauf zu nehmen, unter denen sie als allererste zu leiden hätte.
Nur gemeinsam kann man die Ursachen des internationalen Produktionswettlaufs in den Griff bekommen. Ohne gemeinsames Handeln muß jedem einzelnen im wohlverstandenen Eigeninteresse daran gelegen sein, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Auf diese Weise betreiben jedoch alle eine Art „Rüstungswettlauf“, der sie gemeinsam dem Untergang entgegentreibt. Eine internationale Harmonisierung des Steuerrechts auf europäischer Ebene hingegen, unter Einbeziehung Kanadas, der Vereinigten Staaten und Japans, könnte ihre Finanzierungsgrundlage von der Arbeit auf die Maschinen verlagern und würde dadurch – ohne den technischen Fortschritt zu lähmen – die auf menschlicher Arbeitskraft beruhenden Bereiche begünstigen. Dadurch würde ganz allgemein der Rückgriff auf den Faktor Arbeitskraft gefördert, im Gegensatz zur Verwendung technischer Geräte. Unter den genannten Bedingungen würde eine Unternehmensbesteuerung nach der Arbeitsproduktivität (Verhältnis zwischen Produktion und der Anzahl der dafür eingesetzten Arbeitskräfte) die Steuerlast im Fall von Kündigungen erhöhen, bei Einstellungen hingegen erleichtern.
Gemeinsam könnte man sich bemühen, Auswüchsen der Finanzmärkte Einhalt zu gebieten, ohne deswegen eine Kapitalflucht hervorzurufen. In diese Richtung ginge etwa die Pflicht zur Hinterlegung eines bedeutenden Anteils von für Spekulationsgeschäfte vorgesehenen Beträgen. Oder die Festsetzung eines Begrenzungsrahmens, innerhalb dessen sich spekulativ tätige Finanzakteure verschulden dürfen. Oder die Aufhebung des Bankgeheimnisses. Eine Abgabe auf finanzielle Transaktionen in empfohlener Höhe von 0,1 bis 0,5 Prozent hätte laut ihrem Initiator Tobin4 zur Folge, daß spekulative Kapitalbewegungen (mit geringen Gewinnmargen, aber bezogen auf beträchtliche, mehrfach bewegte Geldmengen) behindert würden, ohne jedoch Handelsgeschäfte zu erschweren, die zu genau entgegengesetzten Bedingungen getätigt werden.
Der französische Träger des Nobelpreises für Wirtschaft, Maurice Allais, versichert, daß ein den Banken auferlegtes Verbot der Spekulation auf eigene Rechnung die großen internationalen Destabilisierungsbewegungen ausmerzen würde.5 Die Freigabe der Wechselkurse, die das Gegenteil dessen hervorgebracht hat, was man sich erhoffte, müßte durch ein System von festen, jedoch revidierbaren Währungsparitäten ersetzt werden, dessen Sätze an das Gleichgewicht der Handelsbilanzen gebunden wären. Auf diese Weise würde man auf einen Schlag das Problem der Devisenspekulation und die Phänomene des „Wechselkursdumpings“ aus der Welt schaffen.
Gemeinsam wäre man schließlich auch in der Lage, gegen die widernatürlichen Auswirkungen eines auf weltweiter Ebene sehr ungleich gehandhabten Freihandels vorzugehen. Freizügigkeit des Warenaustauschs ist nur sinnvoll zwischen Nationen mit vergleichbarem Entwicklungsstand. Sonst besteht freie Bahn für Wettbewerbsverzerrungen über soziales und ökologisches Dumping und für die Beherrschung der Schwachen durch die Mächtigen. Dieses Argument spricht für die Einrichtung großer, internationaler, homogener und nach außen geschützter Freihandelszonen, für welche die EU, so sie denn ihren verlorengegangenen „Gemeinschafts“-Charakter wiederbekäme, ein ausgezeichnetes Beispiel darstellen würde. Die Respektierung des Grundsatzes der „innergemeinschaftlichen Präferenz“ ist somit eine unverzichtbare Maßnahme, ohne die sich der europäische Zusammenschluß in einer weltweiten freizügigen Geschäftemacherei auflösen und dabei seinen Sinn einbüßen würde.
Ein solcher Rahmen schüfe das notwendige Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten heute und den asiatischen Großmächten morgen. Aus dem Schutz vor den unterschiedlichen Arten des Dumpings könnte ein Hilfsinstrument für die Entwicklung der am wenigsten entwickelten Zonen erwachsen. Maurice Lauré hat zum Beispiel vorgeschlagen6 , die auf die Erzeugnisse dieser Zonen erhobenen Ausgleichsabgaben in einen Entwicklungsfonds fließen zu lassen, aus dem man eine Politik nach dem Muster des Marshallplans finanzieren könnte.
Sicherlich kann per definitionem kein Land allein über Fragen befinden, die eigentlich Gegenstand einer internationalen Übereinkunft wären. Aber jedem Staat ist es anheimgestellt, diese Fragen in die öffentliche Diskussion zu tragen – wie Frankreich es gerade für die Sozialstruktur Europas getan hat – und damit nicht lockerzulassen.
Zwischen Reduzierung der Arbeitszeit und Beschäftigungsstand besteht ein unwiderlegbarer historischer Zusammenhang. Auf den ersten Blick schafft der technische Fortschritt Arbeitsplätze. So ist von 1973 bis 1994 die Zahl der Beschäftigten in Frankreich von knapp 21 Millionen auf 22 Millionen gestiegen7 und in Deutschland von 26,65 Millionen auf 28 Millionen. In derselben Zeit aber sank die durchschnittliche pro Beschäftigtem geleistete Arbeitszeit von 1900 auf 1600 beziehungsweise von 1870 auf 1580 Stunden jährlich. Damit ging die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden in Frankreich von 40 auf 35 Milliarden und in Deutschland von 50 auf 44 Milliarden zurück. Unter Beibehaltung der Arbeitszeiten von 1973 hätte Frankreich im Jahre 1994 drei Millionen und Deutschland vier Millionen zusätzliche Arbeitslose zu verzeichnen gehabt.8
Aufschwung mit Mindesteinkommen
DIE Reduzierung der Arbeitszeit hat also die Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglicht, und diesen Weg gilt es weiterzuverfolgen, anstatt endgültig veralteten Normen nachzueifern. Vom „Robien“-Gesetz zum von Michel Rocard vorgeschlagenen System der Anpassung der Sozialabgaben an die Arbeitszeit, vom Job-sharing, das der ehemalige Beauftragte für den Fünfjahresplan, Michel Albert, anregte, über den „zweiten Scheck“ von Guy Aznar bis zur von Pierre Larrouturou ins Gespräch gebrachten Viertagewoche – der Möglichkeiten gibt es viele, und häufig ergänzen sie sich auch noch gegenseitig.8
Zwei gegensätzliche Grundforderungen müssen miteinander in Einklang gebracht werden: Mit einer Anpassung der Gehälter an die Verminderung der Arbeitszeit würde man der geforderten Wiederbelebung entgegenarbeiten; eine Erhöhung der Selbstkostenpreise hingegen würde die Unternehmen vor die Wahl zwischen geringerer Wettbewerbsfähigkeit oder erhöhten – der Einstellung von Arbeitskräften aber ebenfalls hinderlichen – Produktivitätsanstrengungen stellen. Hier sollte der Staat intervenieren, nicht in Form einer starren, der Unterschiedlichkeit der Einzelsituationen nicht Rechnung tragenden Gesetzgebung, sondern durch die Schaffung von Anreizen oder durch finanzielle Beteiligung.
Will man die öffentlichen Ausgaben nicht erhöhen, ergibt sich der hierfür zur Verfügung stehende Handlungsspielraum aus der Umschichtung der Sozialabgaben (von Michel Rocard empfohlen) und aus der Reaktivierung von Geldmitteln, die augenblicklich in der Finanzierung der Beschäftigungslosigkeit der Menschen wenig zukunftsträchtig eingesetzt werden. Es handelt sich dabei um beträchtliche Summen: 180 Milliarden Franc allein für das Jahr 1995, unter Einbeziehung der Arbeitslosenhilfe, der Umschulungskosten und der Vorruhestandsgelder; etwa 450 bis 500 Milliarden sind es, wenn man auch noch die indirekten Verluste durch Ausfälle von Steuern, Sozialbeiträgen und so weiter berücksichtigt.
Auf diese Weise würde eine nicht an die geleistete Arbeit gekoppelte Einkommensart allmählich eingeführt, als Vorstufe zu einem „gesellschaftlich garantierten Mindesteinkommen“. Die Idee eines solchen Einkommens taucht, wenn auch mit unterschiedlichen Formen und Begründungen, im Prinzip bei allen Denkschulen auf. Durch die augenblickliche Verstärkung gegenseitiger Abhängigkeiten wird das Sozialprodukt zu einer Art gemeinschaftlichem Vermögen, bei dessen Zustandekommen der Anteil des einzelnen nicht mehr auszumachen ist. Diese Entwicklung rückt die Frage eines solchen Mindesteinkommens ins Zentrum aller Überlegungen über die Zukunft unserer Gesellschaften.9 Wahrscheinlich wird im Zuge dieser Entwicklung ein garantiertes Einkommen nach und nach auf breiter Basis eingeführt werden, angefangen bei den Bedürftigen, bei einigen besonders krisenanfälligen Berufen oder bei denen, die – wie die Kleinbauern mit der Pflege der Kulturlandschaft – eine nicht vergütete gesellschaftliche Funktion erfüllen.
Diese stufenweise Einführung verhindert zunächst einmal, daß über die Frage, ob solch ein Mindesteinkommen als System für alle geschaffen werden sollte, endlos debattiert wird. Zur letztlichen Umsetzung eines solchen Systems aber ist sie ein wichtiger Beitrag. Frühere Hochrechnungen haben nämlich erwiesen, daß sich ein großer Teil der Kosten dieses allgemeinen Einkommens dadurch kompensieren ließe, daß die Sozialversicherungen, die denselben Zweck erfüllen, zunehmend überflüssig werden. Der verbleibende Bruchteil in Höhe von etwa 4 Prozent des BSP würde durch das Wachstum des BSP aufgefangen: Ein mäßiges Jahresplus von 2 Prozent vorausgesetzt, wüchse es innerhalb von zwanzig Jahren um 50 Prozent. In den vergangenen zehn Jahren hat das BIP in Frankreich um 1350 Milliarden Franc zugenommen.
Keine Initiative kann sich jedoch ohne ein günstiges Umfeld entwickeln. Dieses besteht zuallererst aus dem sozialen Netz. Wer Beschäftigungsförderung betreibt, wäre kurzsichtig, wollte er diese Strukturen abbauen: Würde man Gesundheitsfürsorge, Grundlagenforschung und das Erziehungswesen abschaffen, alle nicht unmittelbar rentablen öffentlichen Dienstleistungen, könnte man sehr rasch ermessen, welchen Beitrag sie zum gesellschaftlichen Wohlstand und wahrscheinlich auch zum sozialen Frieden leisten. Man mußte schon Margaret Thatcher heißen, um die soziale Absicherung der Bedürftigen unter dem Vorwand in Frage zu stellen, daß sie für die Gesellschaft einen größeren Kosten- als Einnahmenfaktor darstellen.
Eine günstige Vorbedingung ist auch das Netz von Nachbarschaftsverbindungen, welches sich durch die Informatik paradoxerweise zur gleichen Zeit intensiviert, wie diese sich weltweit ausdehnt. Standortvorteile wie Ausbildungs- und Forschungsmöglichkeiten, die Existenz eines kulturellen Lebens, die Qualität der Infrastruktur und Umwelt spielen bei der Ansiedelung von Unternehmen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Daraus ergeben sich starke Impulse, durch die manche im Zentrum dieses Beziehungsgeflechts angesiedelte Aktivitäten wie Alphabetisierung, Förderung benachteiligter Stadtbezirke, Instandhaltung der Verkehrswege und des Ökosystems gesellschaftlich produktiv werden. Es müßten systematische Erhebungen über die gesellschaftliche Produktivität dieser Aufgaben durchgeführt werden, nach der sich ein kommunaler Beitrag auszurichten hätte. Dieser Beitrag, der sich durch den sozialen Nutzen dieser Aktivitäten rechtfertigen ließe, könnte einen Ausgleich zwischen der geringen wirtschaftlichen Rentabilität dieser Aktivitäten und der Notwendigkeit herstellen, den Betroffenen einen angemessenen Lebensunterhalt zu sichern.
Ein geeignetes Umfeld bieten schließlich auch alle kleinen und mittleren Unternehmen, die das wirtschaftliche Netzwerk mit Leben füllen. In Frankreich sind es 2300000 an der Zahl, die zwei Drittel der Lohnempfänger im primären und sekundären Sektor beschäftigen, das heißt 8300000 Personen. Finanzdienstleistungen und Landwirtschaft ausgenommen, erzeugen sie die Hälfte der Produktion und tätigen die Hälfte aller produktiven Investitionen.10 Gerade hier entstehen häufig bedeutende Innovationen: Nicht von IBM wurde der Mikroprozessor erfunden, sondern von Intel, damals ein Unternehmen mit 12 Mitarbeitern. Entscheidend ist jedoch, daß sie Stellen schaffen: Von 1983 bis 1993 wuchs die Belegschaftsstärke von Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern um 13 Prozent, während sie in größeren Unternehmen um 30 Prozent schrumpfte.
Erst muß sich jedoch die Kohärenz der von der Jospin-Regierung eingeleiteten Politik abzeichnen, die in einem ersten Schritt einen Gesetzentwurf über die Einstellung von 350000 Jugendlichen im öffentlichen Bereich vorsieht, bevor man über sie urteilen kann. Wird man den Auslöser dieser Krisensituation, bei der alles in die Brüche gehen kann, erfolgreich bekämpfen? Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit, die gegenwärtigen Entwicklungen fortzuführen, was auf die Zerstörung unseres Planeten hinausliefe, auf ein definitives Auseinanderbrechen der Gesellschaft, in der der Wohlstand einiger weniger auf der Verarmung der Mehrzahl beruht, um sich schließlich in einer sozialen Explosion zu entladen. Andererseits ergibt sich die Chance für eine Gesellschaft, in der, bei gesicherter Deckung der Grundbedürfnisse aller, jeder mehr oder weniger Zeit auf seine Arbeit und die Verbesserung seiner Einkünfte verwenden könnte. Produktive Tätigkeiten würden das Leben nicht mehr aufzehren, sondern sich im gesamten Lebensverlauf frei in Einklang bringen lassen mit Freizeit- und Familienaktivitäten und mit der Beteiligung an kulturellen und staatsbürgerlichen Tätigkeiten.11
Haben wir es hier wiederum mit dem ewigen und naiven Traum von einer – allerdings zum Greifen nahen – neuen Welt zu tun? Es ist nicht gesagt, daß die Macht der Ideen letztendlich nicht doch gegenüber die materiellen Kräften die Oberhand behält. Wenn die Dogmen der Wirtschaft mit ihrer materialistischen Logik mit der Produktivquelle Mensch in Konflikt geraten, sollte man die Dogmen ändern, und nicht den Menschen.
dt. Margrethe Schmeer
* Emeritierter Professor an der Universität Paris-I, Verfasser von „L‘Economique et le Vivant“, Paris (Economica) 1996.