17.10.1997

Die unverhoffte Solidarität der Teamster-Gesellschaft

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Die unverhoffte Solidarität der Teamster-Gesellschaft

Von RICK FANTASIA *

POLITIKER, Journalisten und Akademiker schickten sich schon an, einen Nachruf auf die amerikanische Arbeiterbewegung zu verfassen, als sie plötzlich und unerwartet wieder zu neuem Leben erwachte. Nach zwei Jahrzehnten dramatischer Niederlagen wie zum Beispiel der Ausschaltung der Fluglotsengewerkschaft 19811 , nach einer Serie erfolgloser Streiks – bei Caterpillar, Staley, Bridgestone und The Detroit News, um nur einige Fälle aus der jüngsten Vergangenheit zu nennen2 – haben die Mitarbeiter des United Parcel Service (UPS) jetzt einen sensationellen Sieg davongetragen, dessen Auswirkungen sich erst in den kommenden Jahren werden abschätzen lassen.

Der Streik wurde von der Gewerkschaft der Lastwagenfahrer (Teamster) unter der offensiven Führung des Vorsitzenden Ron Carey ausgerufen und dauerte zwei Wochen. Die Firma wandte ausgesprochen „moderne“ Geschäftsmethoden an und kontrollierte 80 Prozent des Markts im Bereich des Paketdiensts. Sie galt allgemein als Modell für ein effizientes und produktives Dienstleistungsunternehmen. Die gesamte Industrie verfolgt seit einiger Zeit eine Strategie der Lohnkostenreduzierung durch eine Revision der Errungenschaften, unabhängig davon ob es sich dabei um stillschweigende Verlängerungen von Abkommen oder kollektive Tarifverhandlungen handelte. UPS gehörte zu den Urhebern dieser Strategie – und auch zu den Hauptnutznießern. Doch der Sieg der Teamstergewerkschaft hat in dieses Vorgehen eine erste Bresche geschlagen.

Seit einigen Jahren verbucht UPS einen Profit von etwa 1 Milliarde Dollar jährlich. Dieses Ergebnis stand im Zusammenhang mit einer steten Zunahme des Anteils der Teilzeitbeschäftigten an der Belegschaft des Unternehmens. Innerhalb von zehn Jahren war deren Anteil von 42 Prozent auf 60 Prozent gestiegen. Zwar stellt die gesamte amerikanische Wirtschaft mehr und mehr Teilzeitbeschäftigte ein, doch deren tatsächlicher Anteil macht landesweit nicht mehr als 19,4 Prozent der Beschäftigten aus. Während die Vollzeitbeschäftigten bei UPS 19,95 Dollar Stundenlohn erhielten, wurden ihre Teilzeitkollegen mit 9,65 Dollar, also weniger als der Hälfte, abgespeist, wobei sie die volle Zahl der Wochenstunden, zuweilen sogar 50 Stunden pro Woche arbeiten konnten.

Als ob das nicht ausreichte, beschloß das Unternehmen von einem Tag zum anderen und ohne Absprachen, das maximale Gewicht der Pakete, die die Lieferanten tragen mußten, von 32 auf 68 Kilo zu erhöhen, obwohl die Rate der Arbeitsunfälle bereits zweieinhalbmal so hoch lag wie in der Industrie. Schließlich wollte UPS der Teamster-Gewerkschaft die Verwaltung der Rentenbeiträge der Beschäftigten entziehen und selbst übernehmen.

Diese Provokationen führten am Ende zu einem der massivsten Streiks, die die amerikanische Arbeiterbewegung je erlebt hat. Über 95 Prozent der 185000 Beschäftigten von UPS (Fahrer, Sortierer, Verlader) schlossen sich der Aktion an und fanden auch rasch Unterstützung in der Öffentlichkeit. Nach der Wahl eines neuen Führungsgremiums mit wesentlich militanteren Positionen brach der nationale Gewerkschaftsbund AFL-CIO mit seiner fast legendären Passivität und beschloß, sämtliche Sparten des Verbandes zu mobilisieren und alle Mittel der Bewegung den Aktionen der Lastwagenfahrer zur Verfügung zu stellen.

Die Solidaritätsbekundungen waren außergewöhnlich. Wöchentlich gingen fast 10 Millionen Dollar an Spenden und Darlehen bei den Teamstern ein, und jede Gewerkschaft wurde aufgefordert, ihre Mitglieder zu mobilisieren und die Streikposten der Arbeiter von UPS zu unterstützen. Jahrzehntelang hatte die Führung des AFL-CIO die Einzelgewerkschaften bei ihren Auseinandersetzungen allein gelassen, ganz gleich zu welchen Waffen die Arbeitgeber griffen. Dieses Mal nahm der Vorsitzende des Gewerkschaftsbunds, John Sweeney, persönlich an den Streikposten der Teamster teil und erklärte: „Dieser Streik ist auch unser Streik!“

Das Ergebnis war ein Sieg fast auf der ganzen Linie. Bei Abschluß der Verhandlungen erklärte sich UPS einverstanden, sofort 10000 Teilzeitstellen in Vollzeitstellen zu verwandeln und über 80 Prozent der 10000 Vollzeitstellen, die im Rahmen der geplanten Expansion des Unternehmens geschaffen werden sollen, den Angestellten vorzubehalten, die gegen ihren Willen nur eine Teilzeitarbeit haben. UPS wollte seine Zahlungen in die gewerkschaftlich verwaltete Rentenkasse einstellen, statt dessen mußte das Unternehmen seine Beiträge erhöhen. Damit nicht genug: Eine Anhebung der Löhne und Gehälter aller Beschäftigten steht bevor, und die Differenz zwischen dem Stundenlohn der Vollzeit- und dem der Teilzeitbeschäftigten wird abgebaut. Schließlich muß UPS mit den Gewerkschaften das Höchstgewicht der Pakete aushandeln. Die einzige Konzession, die die Unternehmensführung erzielen konnte, ist die Verlängerung der Gültigkeitsdauer dieser Tarifvereinbarungen auf fünf Jahre anstelle der von der Gewerkschaft gewünschten drei.

Erfolglose Spaltungsversuche

DIESER Streik war nicht nur für die Arbeiter von UPS wichtig, sondern ebenso für die gesamte amerikanische Arbeiterschaft: durch die Fragen, die er aufwarf, sowie durch seine Protagonisten. Zum einen ist es bemerkenswert, daß es einer amerikanischen Gewerkschaft gelungen ist, gegen einen Dienstleistungsriesen wie UPS eine nationale Bewegung zu mobilisieren, obwohl die überwältigende Zahl der Teilzeitangestellten und die Ungleichheit der Bezahlung von Natur aus jede Solidarität in dem Unternehmen unmöglich zu machen schienen.

Doch die Leitung der Teamster hatte sich seit fast einem Jahr auf den Streik vorbereitet. Durch ihre systematischen Bemühungen, jedes einzelne Gewerkschaftsmitglied durch eine Darstellung der besonderen Lage der Teilzeitbeschäftigten zu sensibilisieren, ist es ihr gelungen, der UPS die Karte zu nehmen, auf die sie am meisten gesetzt hatte, nämlich die Spaltung. So haben sich Beschäftigte, die einen Stundenlohn von fast 20 Dollar hatten, für diejenigen eingesetzt, die weniger als die Hälfte verdienten. Es stimmt freilich, daß UPS im Unterschied zu anderen Unternehmen die Beschäftigten nicht mit der Drohung einer Verlagerung des Betriebs zu einer Wiederaufnahme der Arbeit zwingen konnte. Es wäre auch sehr riskant für das Unternehmen gewesen, auf dieselbe gewerkschaftsfeindliche Strategie zurückzugreifen, die es andernorts mit Erfolg eingesetzt hatte, nämlich Aussperrung der Streikenden und ihre dauerhafte Ersetzung durch „Gelbe“.

Der Bereich der Paketzustellung hängt stark von den persönlichen Kontakten ab, die zwischen den Fahrern bzw. Auslieferern und ihren Kunden geknüpft werden. Schließlich besteht UPS für die meisten Amerikaner in erster Linie in dem „freundlichen Fahrer“ (the friendly UPS driver), den sie gut kennen, der jeden Tag seine Runde macht, der seine berühmte dunkelbraune Uniform trägt und einen Lieferwagen derselben Farbe fährt. Wenn das Unternehmen das Risiko eingegangen wäre, Streikbrecher einzustellen, wären diese ohne Zweifel von den Stammkunden sehr schlecht aufgenommen, eventuell sogar zur Rede gestellt worden. Die Achillesferse einer „Modernisierung“ nach Arbeitgebervorstellungen auf dem Dienstleistungssektor liegt möglicherweise in den persönlichen Kontakten zwischen Mitarbeitern und Kunden. Die neue Arbeitsorganisation, die verstärkt auf „Just-in-time-Lieferung“ und die „Nulllagerhaltung“ setzt, macht die Transportindustrie – und im weiteren Sinne damit die gesamte Wirtschaft – für einen ausgedehnten sozialen Konflikt sehr anfällig.4 Den meisten Schätzungen zufolge hätte eine Fortsetzung des Streiks die Wachstumsquote in den Vereinigten Staaten um ein Fünftel reduzieren können.

1400000 Mitglieder hat die größte amerikanische Arbeiterorganisation, die nun ihre Mittel für den Kampf gegen die Teilzeitbeschäftigung eingesetzt hat. Der Leiter der Teamstergewerkschaft kennt diese Auseinandersetzung aus seiner Zeit als Fahrer bei UPS in New York und später aus seiner dreißig Jahre dauernden Tätigkeit als Beauftragter der Gewerkschaft und Vertreter der Arbeiter des Unternehmens. 1991 wurde Ron Carey bei den ersten durchsichtigen Wahlen, die die Teamster seit Jahrzehnten durchführten, zum Vorsitzenden der nationalen Gewerkschaft gewählt. Den wesentlichen Teil seines Lebens als aktiver Gewerkschafter hatte er mit einem Kampf an zwei Fronten verbracht: gegen UPS und gegen eine nationale Gewerkschaftsführung, die für ihre Korruptheit und ihre reaktionäre Haltung berüchtigt war und sich an der Schaffung der jetzt herrschenden Arbeitsbedingungen in dem Unternehmen intensiv beteiligt hatte.5

Seit 1991 versucht Ron Carey, die Gewerkschaftsbürokratie zu reformieren, die zum Teil immer noch der Kontrolle der alten Garde untersteht. Letztes Jahr gewann Carey die Wahl ganz knapp vor einem Vertreter dieser Fraktion, die häufig im Verdacht stand, Verbindungen mit der Mafia zu unterhalten. Sein Gegenspieler James P. Hoffa war niemand anderes als der Sohn des legendären Vorsitzenden der Teamster, Jimmy Hoffa6 , der 1975 verschwand und wahrscheinlich aus nie geklärten Gründen umgebracht wurde. Im nächsten November finden neue Wahlen statt, nachdem die Wahlen des letzten Jahres kurz nach dem Sieg der Arbeitnehmer von UPS per Gerichtsbeschluß für ungültig erklärt wurden. Der Streikerfolg ist keine Garantie dafür, daß die Galionsfigur des Streiks ihre Position behält.

Lange Zeit haben die amerikanischen Unternehmen ihre Strategien in aller „Freiheit“ entwickeln können. Geht diese Periode nun allmählich zu Ende? Innerhalb des AFL-CIO und der Teamstergewerkschaft treten die Veränderungen in der ideologischen Orientierung und der organisatorischen Kapazität deutlich zutage. Diese können das soziale Kräftegleichgewicht nicht nur in Frage stellen, sondern auch verändern. Der Streik bei UPS hat einen kurzen und verblüffenden Einblick in die Möglichkeiten gewährt, die sich eröffnen, wenn sich die Gewerkschaften wieder behaupten und die Propheten ihres Untergangs Lügen strafen.

dt. Esther Kinsky

* Professor für Soziologie am Smith College, Northampton (Massachusetts), Autor des Buches „Cultures of Solidarity“, (University of California Press) 1988.

Fußnoten: 1 Im August 1981 entläßt Präsident Ronald Reagan 12000 Streikende, die mit ihrer Aktion den Luftverkehr lahmlegen. Sie werden durch andere Arbeitnehmer ersetzt, und da der Streik beendet wird, ohne daß auch nur eine der Forderungen der Gewerkschaft erfüllt worden ist, werden sie nicht wieder eingestellt. 2 Siehe Thomas Frank und David Mulcahey: „Ces dures grèves des ouvriers américains“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996. 3 Bei dem Fluglotsenstreik 1981 befürworteten 51 Prozent der Amerikaner den Standpunkt von Präsident Reagan. Bis zum letzten Jahr fand die Haltung der Arbeitgeber in einem Arbeitskonflikt die Unterstützung der Öffentlichkeit (die Medien spielten dabei auch ihre Rolle). Seither hat sich die Situation umgekehrt: Zwei Drittel der Amerikaner unterstützen die Forderungen der Gewerkschaften. Dieses Verhältnis galt auch während des Streiks bei UPS. 4 Vgl. Bruno Lefebvre: „Espaces professionnels et flux tendus“, Actes de la recherche en sciences sociales, Nr. 114, September 1996. 5 Die Korruption, die lange Zeit unter den Teamstern verbreitet war (Erpressung, atemberaubende Gehälter der Vorsitzenden, üppige Konferenzen in Seebädern), wurde von den Arbeitgebern und den Medien immer wieder dazu genutzt, die Gesamtheit der amerikanischen Gewerkschaften in Verruf zu bringen. Die Situation war deshalb besonders paradox, weil die Teamster nicht nur lange Zeit gar nicht Mitglieder des AFL-CIO waren, sondern im Wahlkampf auch regelmäßig die Kandidaten der Republikaner unterstützten (in den Jahren 1980, 1984 und 1988 zum Beispiel Reagan und Bush). 1982 unterzeichnete der damalige Vorsitzende der Teamster, Roy Williams, kurz bevor er in einem staatlichen Gefängnis landete, ein Tarifabkommen, das UPS gestattete, seinen Teilzeitbeschäftigten einen Stundenlohn von 8 Dollar zu zahlen. 6 In dem Film „F.I.S.T. – Ein Mann geht seinen Weg“ (dt. 1978) von Norman Jewison wird Hoffa von Sylvester Stallone gespielt.

Le Monde diplomatique vom 17.10.1997, von RICK FANTASIA