In Jérémie steht die Zeit still
Von CHRISTOPHE WARGNY *
FÜR die rund 250 Kilometer, die Jérémie, die Hauptstadt des Departements Grande Anse, von Port-au-Prince trennen, benötigt man mit dem Auto gute acht Stunden – sofern die Furten überhaupt passierbar sind. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind unberechenbar. Noch langsamer ist das Schiff, das dem Floß der Medusa gleicht und einmal pro Woche verkehrt: 1993 ist die für dreihundert Personen konstruierte Neptune mit eintausendzweihundert Menschen an Bord untergegangen. Ein weiteres Schiff, die Fierté-Gonavienne, sank am 8. September vor einem Jahr in der Meerenge von Saint-Marc und riß einige hundert Passagiere mit sich. Bleibt das Flugzeug. Maximal dreizehn Personen landen alle zwei Tage auf der mit Schlaglöchern übersäten Piste. Die Flugpreise sind jedoch nichts für den Geldbeutel der Durchschnittshaitianer.
Dreißigtausend Einwohner in Jérémie, eine halbe Million im gesamten Departement Grande Anse, ein enormes Bevölkerungswachstum – ein Tabuthema – und Zerstörungen durch Wirbelstürme tragen das Ihre dazu bei, daß die „Stadt der Dichter“ seit vier Jahrzehnten immer weiter in sich versinkt und immer mehr isoliert ist. Am schlimmsten war allerdings der politische Sturm, der in der Stadt wütete und ihren wirtschaftlichen Abstieg nach sich zog. Die alte Kolonialstadt exportierte erfolgreich landwirtschaftliche Produkte – Kaffee, Kakao, Kochbananen, Mangos, Kartoffeln und Yamswurzeln – weit über Port-au- Prince hinaus und brachte eine Mulattenbourgeoisie zu Wohlstand, die auf schnelle Gewinne aus war und sich besser auf das Import-Export-Geschäft als auf die Entwicklung einer lokalen Verarbeitungsindustrie verstand. Um die Bevölkerung besser kontrollieren zu können, verbot François Duvalier1 den internationalen Handel und beschränkte ihn ausschließlich auf Port-au-Prince. 1964 ließ er die mulattische Oberschicht ermorden: Mehrere Dutzend Einwohner von Jérémie wurden von einem Kommando der Tonton macoutes umgebracht. Damit sollte die handeltreibende Bourgeoisie der Insel eingeschüchtert und eine Förderung der schwarzen Bevölkerung, der sogenannte noirisme, eingeleitet werden. Die Region hat seither nicht mehr zu ihrem ursprünglichen Wohlstand zurückgefunden.
Die Fassaden der Häuser mit ihren Arkaden sind etwas ausgebleicht – an Sonne und Regen mangelt es nicht in dieser Gegend. Aber die zu ruhige, geradezu verschlafene Stadt macht einen properen Eindruck. Es gibt sogar einige Abwasserkanäle, zwar unter freiem Himmel, aber immerhin aus Zement. Mittags, wenn Scharen von Schülern in ihren Uniformen durch die Straßen strömen, belebt sich die Stadt ein wenig. Der Meeresstrand dient als Sammelbecken für Exkremente und als Zufluchtsort der ganz Armen, die dort unter glühendem Wellblech Unterschlupf finden. In das Blau der Karibik mischt sich der Schlamm der Flüsse aus dem Vodroque und der Grande Anse, wertvolles Schwemmland, das von den kahlen Berghängen weggeschwemmt wurde.
Über die mangelnde Stromversorgung – ein Dauerbrenner am Familientisch der Haitianer – beschwert man sich hier weniger, denn die Stadt ist besser versorgt als die Vororte, ganz zu schweigen von den isolierten Hügeln, wo seit fünfzig Jahren vergeblich der Anschluß an das Stromnetz gefordert wird. Abends scharen sich die Schüler um die paar wenigen Straßenlaternen und leiern dort, auf ihren Schulheften kauernd, auf französisch ihre Aufgaben herunter. Stundenlang tragen sie mit lauter Stimme zu dieser Kakophonie von auswendig gelernten Resümees in Geschichte oder Biologie bei, in einer Sprache, die sie nur schlecht verstehen und nie beherrschen werden. Denn der Unterricht in der Sekundarstufe findet in der offiziellen Landessprache Französisch statt, das im Alltag jedoch nicht gesprochen wird und auf Bücher sowie eine kleine Elite beschränkt bleibt. Die Umgangssprache ist Kreolisch.
Die Straße gehört bei Tag und bei Nacht zuallererst den Fußgängern. Manchmal auch den Jungen, die, von Cantona träumend, einem aus Lumpen zusammengebundenen Ball hinterherlaufen. Wie viele Autos kommen auf die dreißigtausend Einwohner? Ein paar Dutzend, und die Hälfte davon gehört den internationalen Organisationen. An manchen Abenden gehört die Straße auch der katholischen Kirche. Eine Prozession von Büßern – hauptsächlich Frauen und Kinder – zieht vom Bischofssitz zur Kathedrale. Vor einem Bild der Heiligen Jungfrau gehend, schließt Monsignore Willy Romélus den Zug ab. Seine Predigt beginnt mit einer Ausführung über den Heiligen Geist und geht nach und nach über in eine Warnung an „diejenigen Bürger, die sich kaufen lassen und sich nicht darüber wundern sollten, wenn sie demnächst selbst verkauft werden“.
Der Bischof von Jérémie, eine Symbolfigur des Widerstandes gegen die Tonton macoutes, ist in erster Linie ein frommer Mensch. Vier Stunden seiner täglichen Arbeitszeit widmet er Messen und Gebeten, wie jemand aus seiner Umgebung betont. Er ist gastfreundlich, aber etwas zurückhaltend, wenn nicht sogar schüchtern, und blickt streng durch seine dicke Brille. Kein Vergleich mit den in Haiti sonst so verbreiteten, mehr oder weniger ernstgemeinten überschwenglichen Freundschaftsbeweisen. Vor der Rückkehr zur Demokratie mußte er diverse Drohungen und Attentate ebenso über sich ergehen lassen wie die unzähligen banalen Zwischenfälle, die jedes Leben zwangsläufig begleiten. Heute ist er an allen Fronten mit dabei, bleibt jedoch realistisch, was die Erwartungen seiner Schäfchen betrifft. „Ob es sich um persönliche oder gemeinschaftliche Probleme handelt, ob man die Schulgebühren nicht bezahlen kann oder die tropischen Regenfälle die Schutzwälle im Viertel weggerissen haben – die Leute kommen immer hierher, zum Bischof. Es gibt niemanden sonst, an den sie sich wenden könnten. Die Leute wissen, daß es den Staat nicht gibt.“
Monsignore Romélus ist die wichtigste Person in der Region und darüber hinaus. Er wurde bereits für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Seit 1977 hat sich der Bischof an allen Kämpfen gegen die jeweilige Diktatur beteiligt. „Fok sa chanj“2 – diese Aufforderung von Papst Johannes Paul II. zur Veränderung hat er beim Wort genommen und sich immer mehr vom ultrakonservativen haitianischen Episkopat entfernt. Nach dem Sturz von Jean-Claude Duvalier im Jahr 1986 lancierte er eine Kampagne unter dem Slogan „Reißen wir den Maniok aus“ und gab damit den Auftakt zum späteren Erfolg der Lavalas- Bewegung. „Übernehmt Verantwortung, beteiligt euch am Wandel, reißt die Wurzeln der Ungerechtigkeit aus“, hämmert der betende Mann seinen Zuhörern unermüdlich ein. Seine ganze Energie und all die bei seinen europäischen Freunden gesammelten Mittel fließen in konkrete Projekte wie die Gründung von Radio Têt ansamn, das dann von der Armee zerschossen wurde, den Aufbau eines regionalen Entwicklungszentrums oder den Bau von Schulen. Nach dem Putsch von General Cédras im September 1991 führte er den Vorsitz der „Kommission für Frieden und Gerechtigkeit“, die Folterungen, Verschleppungen und Morde untersuchte. 1993 entging er beim Verlassen der Kathedrale von Port-au-Prince zum zweiten Mal nur knapp einem Mordanschlag.
Drei Jahre nach der Rückkehr von Präsident Aristide und mehr als eineinhalb Jahre nach dem Amtsantritt seines Nachfolgers René Préval hat sich nichts Grundlegendes verändert. Die Forderungen sind die gleichen. Zwar wurde ein Delegierter für das Departement ernannt, doch der scheint seine Energie hauptsächlich darauf zu verwenden, im Labyrinth der Bürokratie in Port-au-Prince um Unterstützung zu betteln, die voraussichtlich nie eintreffen wird. Die zwölftausend Einwohner der im äußersten Westen liegenden Ortschaft Anse-d'Hainault warten schon seit Urzeiten auf Trinkwasser. Die Segelpirogen müssen dafür 20 Kilometer zurücklegen, weil sich Lastautos auf der mit schlammigen Löchern übersäten Küstenstraße gar nicht mehr so weit vorwagen. Die Küstenorte sind in noch krasserer Weise abgeschnitten. Um nach Jérémie zu gelangen, muß eine Bergkette überwunden werden. Die unter der amerikanischen Besatzung (1915–1934) angelegte Schotterstraße wurde seit ihrem Bau nicht instand gehalten. So haben also auch hier die tap-tap, die öffentlichen Verkehrsmittel, ihren Betrieb eingestellt.
Weiß man das in Port-au-Prince, wo die meisten Agronomen leben? Glaubt irgend jemand im Ernst, daß es eines Tages einen auch nur ansatzweise dezentralisierten Staat geben wird? Die Aktivisten der Lavalas-Bewegung, die sich 1995 in der Koalition Randévou bo tab la3 zusammengefunden hatten, sprachen immer wieder davon. Heute sind sie geteilt: in die Anhänger der vom ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide gegründeten Lavalas-Familie auf der einen und solche der Politischen Organisation Lavalas (OPL) auf der anderen Seite.
Und wissen die jeweils amtierenden Kulturminister, in welchem Zustand sich die einzige öffentliche Einrichtung der Stadt und des gesamten Departements, die vor über zwanzig Jahren gebaute „Nationalbibliothek“ von Jérémie, befindet? Auf einem Tisch liegen, in gerader Linie und etwas verstaubt, die größtenteils französischen Zeitungen und Zeitschriften aus der Mitte der achtziger Jahre. Daneben besitzt die Bibliothek noch rund fünf- bis sechstausend Bücher, nach einer scheinbar willkürlichen Reihenfolge in Regale eingeordnet, in einem Hinterzimmer, dessen Fenster abhanden gekommen sind. Die Mauern des Gebäudes sind feucht, so daß die Seiten der Bücher in der obersten Reihe mittlerweile einen festen Klumpen bilden. Der Rest ist von Schimmel befallen, und ganz unten bedienen sich nach Herzenslust die Ratten.
Auf der Fahrt durch die Grande Anse sucht man nach irgendeiner Baustelle oder einem Pilotprojekt, aber erfolglos. Nur das Krankenhaus, dem es im übrigen an qualifiziertem Personal fehlt, um schwierige Fälle zu behandeln, wird teilweise renoviert. Darüber hinaus werden nur kleinere Reparaturarbeiten an Straßen vorgenommen, die die nächste Regenzeit nicht überstehen werden. Und schließlich der Bau eines „Terminals“ mit Wartesaal und Toiletten auf dem Flughafen von Jérémie durch die Mission der Vereinten Nationen für Haiti (UNMIH)4 , der im wesentlichen für deren eigene Bedürfnisse bestimmt ist. Der durchschnittliche wöchentliche Lufttransport liegt, wie gesagt, bei unter hundert Passagieren. Nur die ti legliz (Mitglieder der Basiskirchen), die Lokaljournalisten, denen es hier an jeglicher Infrastruktur fehlt, und eine Handvoll entschlossener, aber mittelloser Beamter haben ihren Enthusiasmus bewahrt.
Der eigentliche Regionalchef (oder Präfekt) ist hier der Bischof mit seinen Leuten. Er ist gleichzeitig Sprachrohr, wichtigster Arbeitgeber, Chefplaner und Fürsprecher der Ärmsten, also fast aller. Der Bischofssitz ist fast das einzige mehrstöckige Gebäude. Es überragt die Stadt, die Bucht und die Viertel am Meer, wo sich vorübergehend die braceros niedergelassen haben, die Tagelöhner der Zuckerrohrplantagen, die hier eine andere Art der Hölle vorfanden und nun von Port-au-Prince träumen, wo nichts sie erwartet, von wo sie sich aber alles erhoffen.
Die Kirche hat ein geräumiges Zentrum für Kurse mit mittlerer Laufzeit eingerichtet. Dort wird für alle Landgemeinden Personal für den Gesundheitsdienst, die Schule und die Landwirtschaft ausgebildet. Leute, die die Bevölkerung über das Wichtigste informieren und bei Bedarf eine Krankenschwester oder einen ausgebildeten Landwirt herbeirufen können. Auf einer Musterfarm werden die Bauern dazu ermuntert, sich zusammenzuschließen. Die kleinen Gemeinschaften können dann billig (aber nie gratis) Saatgut oder Schweinepaare – das wichtigste Sparpotential der Bauern – beziehen. Die Bedeutung des Komposts und der Veredelung wird erklärt. Vor allem aber wird jede Hilfe an die strikt kontrollierte Auflage gebunden, die Hänge wiederaufzuforsten.
Die Kirche nimmt so die Stelle des funktionsunfähigen Staates ein. Und das ist schon lange so. Die Schulen sind zu 90 Prozent gebührenpflichtig, und die Eltern sind sogar bereit, große Opfer auf sich zu nehmen, um ihren Kindern einen Ausweg aus der extremen Armut zu ermöglichen. Doch ihr Vertrauen wird häufig mißbraucht, das Niveau der Schulen ist katastrophal. Borlettes werden sie im Volksmund genannt – wie die staatliche Lotterie. Doch in jeder Gemeinde hat die Kirche eine oder mehrere Schulen errichtet: „Sie hätten eigentlich über Schulgeld finanziert werden sollen, und seien es auch nur ein paar Dutzend Gourdes5 pro Grundschuljahr. Doch selbst das war für die Leute unerschwinglich. Wir schicken natürlich niemanden nach Hause. Das Geld, das uns dabei ,entgeht‘, fehlt dafür bei Neuinvestitionen...“, erklärt Monsignore Romélus.
Schwierig ist es auch, junge Menschen auf dem Land zu halten. Nach der Krankenschwesternschule hat die Kirche eine technische Hochschule errichtet. Es gibt unter den Agronomen, die in der Gegend tätig sind, nur wenige, die nicht von der Kirche bezahlt werden. Denn sosehr alle das Prinzip der Dezentralisierung befürworten – das im übrigen in allen Programmen und selbst in der Verfassung aus dem Jahr 1987 festgehalten ist –, so sehr hassen die haitianischen Beamten das Land. Wer hierher versetzt wird, sucht jeden nur erdenklichen Vorwand, um sich in der Hauptstadt aufhalten zu können, wo ja schließlich auch alle Entscheidungen getroffen werden. Die Basisorganisationen von Marché-Léon werfen der Regierung und ihren Beamten „Verantwortungslosigkeit, Verachtung und Lüge“ vor; sie wüßten nicht, wie die Leute leben. Nur einer bleibt von ihrer Kritik verschont, denn er hat ihnen gegeben, was sie für ausschlaggebend halten: Sicherheit. „Nach seiner Rückkehr hat uns Aristide von den Gaunern befreit. Er hat die Armee nicht reformiert, er hat sie abgeschafft. Weg die Armee, weg die Sektionschefs. Ich lebe seit fünfundvierzig Jahren hier, und ich kenne den Preis der Freiheit.“
„Titid, das sind wir. Wir und er sind eins“, heißt es noch immer bei den ti legliz. Trotzdem gehen sie immer seltener wählen: Nur 15 Prozent haben sich an der Wahl von René Préval beteiligt, und im Frühjahr 1997 ließen sich sogar nur 5 Prozent bewegen, im Streit zwischen den verfeindeten Brüdern der Lavalas-Bewegung zu entscheiden. Die Wähler haben diese Art von politischer Demokratie satt, die sie als formal und undurchsichtig empfinden und von der einmal mehr die „Vielfraße“6 profitieren. Im Departement Grande Anse, das insbesondere dank des Gewichtes von Bischof Romélus weniger stark von der Repression betroffen war, setzt man in erster Linie auf Aristide. Denn auch die zufallsgewollte „Theokratie“ stößt an ihre Grenzen, nicht zuletzt finanzieller Natur. Monsignore Romélus und die Kirche haben nicht die Absicht, Fabriken zu bauen. Und welcher Investor wäre so verrückt, sich hier niederzulassen, wo sich niemand um Straßen, Häfen, das Stromnetz und all den Rest kümmert?
dt. Birgit Althaler
* Schriftsteller, Autor mehrerer Bücher über Haiti.