17.10.1997

Bibi, was hast du getan

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Bibi, was hast du getan

Das Attentat vom 4. September in Jerusalem hat acht Todesopfer gefordert. Darunter Smadar Elhanan, eine Jugendliche im Alter von vierzehn Jahren. Ein grausames Paradox: Ihr Großvater, General Mattityahu Peled, einer der Strategen des Blitzsiegs Israels im Jahr 1967, war danach zum Pazifisten geworden und zählte zu den Pionieren des israelisch-palästinensischen Dialogs. Ihre Mutter, Nurit Peled-Elhanan, bleibt dem Engagement ihres Vaters treu und klagt an: nicht die Palästinenser, sondern die Regierungspolitik von Benjamin Netanjahu.

Von NURIT PELED-ELHANAN *

MEINE vierzehnjährige Tochter Smadar wurde in der Blüte ihrer Jahre getötet, durch das Attentat in der Ben- Yehuda-Fußgängerzone in Jerusalem, am 4. September um 15 Uhr. Sie war mit ihrer Freundin Sivan losgezogen, um ein Buch zu kaufen. Ich hatte ihr geraten, das Stadtzentrum zu meiden, um der Gefahr eines Attentats zu entgehen. Sie hatte geantwortet: „Mach dir keine Sorgen, Mutter, es wird schon nichts passieren.“ Und nach einer Pause: „Was für ein Glück, Eltern wie euch zu haben! Der Vater meiner Freundin Lulu läßt sie nicht im Zentrum herumlaufen. Die Ärmste.“ Das waren die letzten Worte, die ich von ihr hörte. Smadar ist tot, ebenso wie ihre Freundin Sivan. Lulu kommt oft zu uns und weint.

Wenige Stunden nach dem Attentat habe ich meine Tochter im Leichenschauhaus gesehen. Eine Seite ihres Gesichts war völlig verbrannt. Ihr Mund war weit aufgerissen, wie in einem durchdringenden Schrei erstarrt, unerträglich und erschreckend. Solange ich lebe, werde ich dieses Bild vor mir haben. Smadar, der Stolz unserer Familie, Quelle unserer Freude, ist nicht mehr unter uns.

Immer wieder hat man mir in der Vergangenheit eine provokative Frage gestellt – mir, der Tochter von Matti Peled, dem Kämpfer für den Frieden, der die Fronten gewechselt und die Tabus gebrochen hat, um zu einer historischen Versöhnung zwischen dem palästinensischen und dem israelischen Volk beizutragen1 . „Was würden Sie sagen, wenn Ihre Tochter oder Ihr Sohn bei einer terroristischen Aktion der Palästinenser getötet würde?“ Und ich habe immer geantwortet: „Ich würde weiterhin meinen, daß die katastrophale Politik, die die Palästinenser in die Verzweiflung treibt, die Ursache für dieses Unheil ist. Wenn ein solches Unglück mich treffen sollte, würde es mich in der Überzeugung bestärken, daß nur die Koexistenz beider Völker die Spirale der Gewalt und des Todes Unschuldiger stoppen kann.“

Und nun ist es da: Die schlimmste aller Ungeheuerlichkeiten hat unser Haus getroffen. Also wiederhole ich heute, was ich gesagt habe, und zwar mit noch größerer Entschiedenheit, unter Tränen und mit dem verstümmelten Gesicht unserer Smadar vor Augen. Es ist die Politik des Premierministers „Bibi“ Netanjahu, die das Unglück über unsere Familie gebracht hat.

„Bibi“ war mein Schulkamerad und Jugendfreund. Wir unterhielten jahrelang freundschaftliche Beziehungen, selbst nachdem er mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten ausgereist war. Als er mich am Abend jenes verhängnisvollen Donnerstags anrief, um mir zu kondolieren, habe ich ihn gefragt: „Bibi, was hast du getan?“ Er hat versucht, sich zu rechtfertigen. Vergebens. Für mich trägt seine Regierung eine indirekte Schuld am Tod meiner Tochter und all derer, die unter ähnlichen Umständen ihr Leben gelassen haben. Seine Politik ist eine ständige Provokation für das palästinensische Volk. Sie hat die Selbstmordattentäter dazu getrieben, diese grauenhaften terroristischen Taten zu begehen, die Unschuldige das Leben gekostet haben, unter ihnen meine Tochter Smadar.

„Bibi“ hat sich im Verlauf seines Gesprächs mit mir über die „Bestialität“ dieser Terroristen ausgelassen. Er ist derart gefangen in seinen eigenen Parolen, daß er seine Verantwortung in diesem tragischen Mechanismus nicht zu begreifen vermag. Schlimmer noch: Nicht nur hat die Regierung durch ihr Vorgehen die Extremisten dazu gebracht, diese Attentate auf normale Bürger zu verüben, die Regierung versäumt es auch, ihre Bürger gegen sie zu schützen. Wer mit dem Feuer spielt, sollte sich zuerst um die Sicherheit seiner Mitbürger sorgen. Ich fühle mich von dieser Regierung völlig verraten.

Seit dreißig Jahren betreibt Israel eine Politik, die für uns wie für unsere Nachbarn gleichermaßen verheerend ist. „Wir“ haben große Gebiete besetzt, Männer und Frauen gedemütigt und beraubt, Häuser und Anpflanzungen zerstört. Die Gegenreaktion war unvermeidlich. Man kann nicht ein ganzes Volk töten, aushungern, in Enklaven einschließen und erniedrigen, ohne daß es eines Tages explodiert.

Für mich gibt es keinerlei Unterschied zwischen dem Terroristen, der meine Tochter getötet hat, und dem israelischen Soldaten, der während der Abriegelung der besetzten Gebiete eine schwangere Palästinenserin nicht ins Krankenhaus fahren ließ, so daß sie schließlich ihr Kind verlor. Ich bin überzeugt, wenn die Palästinenser uns so behandelt hätten, wie „wir“ sie behandeln, dann hätten „wir“ unter ihnen einen Terror verbreitet, der hundertmal schlimmer wäre als der ihre. Wir dürfen nicht vergessen, daß im Konflikt zwischen unseren beiden Völkern während des letzten halben Jahrhunderts in fast jeder palästinensischen Familie ein Angehöriger getötet oder verletzt wurde.

Wie sollte ein Palästinenser reagieren, dessen Haus von den Besatzungstruppen in die Luft gesprengt wurde? Und was sollte ein Bauer tun, dessen Olivenbäume ausgerissen wurden, um einer jüdischen Siedlung Platz zu machen? Vielleicht hat der Selbstmordattentäter, der meine Tochter getötet hat, an seine jüngere Schwester gedacht, die wegen der Blockade hungert?

Zwei meiner Söhne sind eingezogen, einer ist zwanzig Jahre alt, der andere achtzehn – der dritte ist erst fünf. Wie jede Mutter in Israel bange ich um sie, seit sie einberufen wurden. Immer habe ich mit Entsetzen daran gedacht, daß sie im Südlibanon oder in den besetzten Gebieten fallen könnten – für nichts. Doch selbst im schlimmsten Traum hatte ich mir niemals vorgestellt, daß dieses furchtbare, grauenhafte, schäbige Schicksal ausgerechnet Smadar treffen würde, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatte.

Ich erinnere mich, daß sie kurz vor ihrem Tod zu mir kam und mir sehr bescheiden sagte: „Mama, ich bin schon groß, aber ich habe noch keinen Freund. Aber es gibt einen Jungen, der mir gefällt. Ich habe erfahren, daß er im Universitätsbad schwimmen geht. Komm bitte mit mir dorthin.“ Wir sind hingegangen, und Smadar hat gezeigt, wie gut sie schwimmen konnte. Und dann hat sie sich mit ihrem ersten Schwarm unterhalten. Sie hat ihm erzählt, daß sie sich der Jugendbewegung von Peace Now anschließen werde. Eine Woche später ist dieser junge Mann mit einigen Klassenkameraden zu uns gekommen. Er hat lange geweint.

Smadar mochte keine Polemik, doch angesichts einer Ungerechtigkeit konnte sie nicht gleichgültig bleiben. Sie hat sich mit einer Lehrerin ihres Gymnasiums angelegt, die rassistische Reden über die Araber führte. Sie sprach immer ruhig und bestimmt, wie ihr Großvater. Sie wollte dieses Nachbarvolk wirklich kennenlernen und lernte bereits seit zwei Jahren Arabisch: Sie war stolz auf ihre hervorragenden Zensuren – und wir auch.

Bei uns zu Hause gab es oft Diskussionen, über die politische Situation und warum es mit dem Friedensprozeß bergab ging. Auch Smadar hat sich daran beteiligt. Der Dialog ist ein Schlüssel für Verständigung und Versöhnung. Doch nicht der Dialog, wie „Bibi“ ihn versteht: Sein Dialog mit den Kräften des Bösen ist nur eine Aufforderung zu blutigen Gegenschlägen, die wiederum den Extremisten, die bei uns an der Macht sind, ins Konzept passen.

Die heutige israelische Regierung hört nicht auf, die Palästinenser zu provozieren: Sie hat die Osloer Verträge gebrochen, den Tunnel in der Jerusalemer Altstadt geöffnet, den niemand brauchte, sie hat den Bau der Siedlung Har Homa mitten in Ost-Jerusalem angestoßen und jetzt noch eine kleine wilde Niederlassung in Ras al-Amud begonnen, inmitten der arabischen Bevölkerung von Ost-Jerusalem. Das ist der Grund, warum so viele Unschuldige bei blindwütigen Attentaten ihr Leben verloren haben. Die Politik der Regierung stachelt die Terroristen auf.

Übrigens hat „Bibi“ selbst die Mentalität eines Terroristen. Sein gesamtes Denken ist auf die Konfrontation gerichtet. Der Frieden ist für ihn ein Trugbild, eine Falle. Für ihn ist der Terrorismus allgegenwärtig. Doch von der Natur dieses Phänomens versteht er absolut nichts. Heute ist er überzeugt, er sei stärker als sein palästinensischer Gegner, den er als einen Feind betrachtet, der zertreten werden muß. Diese katastrophale Politik droht unser Land zu zerstören.

Die ihn persönlich kennengelernt haben, wissen, daß „Bibi“ ein Extremist ist, und ein Mann der Vergangenheit. Wenn er die Worte „Frieden“ und „Versöhnung mit den Arabern“ hört, zieht er die Pistole. Von meinem Vater, der für den Frieden mit den Palästinensern eintrat, hat er behauptet, er sei ein Agent der PLO (oder sogar des KGB). Tatsächlich ist „Bibi“ unfähig zu verstehen, wie sich ein Mann vom Ideal des Friedens, also des Kompromisses, leiten lassen kann.

Bis zu seinem Tod vor zwei Jahren hat mein Vater seine Enkeltochter Smadar grenzenlos geliebt. Kurz vor seinem Ableben, als er schon sehr krank war, sagte er vor versammelter Familie zu ihr: „Smadar, du bist unsere Freude und unsere Hoffnung. Was für ein Glück, dich unter uns zu haben!“ Wenn er noch gelebt hätte, als die Nachricht vom Tod seiner Enkelin eintraf, hätte sein Empörungsschrei die Welt erschüttert. Mit seiner Warnung vor dieser nationalistischen Politik, die die Rechte der anderen Völker leugnet, hat er recht behalten. Hätte man auf ihn gehört, wäre Smadar noch unter uns, bei den Lebenden, und nicht bei ihm, auf dem Friedhof.

An einer Wand unseres Wohnzimmers hängt ein Plakat, das mein Mann Rami, der Grafiker ist, für die Parlamentswahlen von 1988 entworfen hatte. Es zeigt das Foto eines schönen Kindes mit Mandelaugen – unsere Smadar. Der Text lautet: „Smadar verdient mehr, als der Likud geben kann.“ Und weiter: „Die Herrschaft über die besetzten arabischen Gebiete ist eine Gefahr für unsere Kinder.“ Damals wurde dieses Plakat in Zeitungen veröffentlicht. Fast zehn Jahre später war wieder ein Foto von Smadar in den Zeitungen, diesmal schwarz umrahmt. Meine Tochter hatte ein friedliches Leben verdient, doch der Likud ist an der Macht...

Um diesen furchtbaren Kreislauf von Provokation, Haß, Blut und Zerstörung zu durchbrechen, muß man dieser gefährlichen und verantwortungslosen Regierung ein Ende setzen, die mit unserem Leben, mit dem Schicksal unserer Kinder, mit der Zukunft unseres Landes spielt. Wenn man diesem Wahnsinn nicht Einhalt gebietet, werden die Flammen des Krieges noch alles vernichten.

Niedergeschrieben von Amnon Kapeliouk

dt. Miriam Lang

* Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Jerusalem.

Fußnote: 1 Siehe Mattityahu Peled, „Israéliens et Palestiniens côte à côte sur un chemin piégé“ und „Cette guerre qui n'aurait pas dû avoir lieu“, Le Monde diplomatique, Juli 1984 und Juni 1991.

Le Monde diplomatique vom 17.10.1997, von NURIT PELED-ELHANAN