Die Fluten retten das tschechische Wunder
LANGE Zeit galt die tschechische Regierung als Musterbeispiel dafür, wie man wirtschaftliche Stabilität und sozialen Frieden erreicht, doch in diesem Jahr geriet sie ökonomisch wie politisch in die Krise. Es fehlte nicht viel, und der Kursverfall der Krone hätte zum Sturz der Regierung geführt. Paradoxerweise hat es Premierminister Václav Klaus nun den katastrophalen Überschwemmungen des letzten Sommers – und der dadurch ausgelösten Welle der Solidarität – zu verdanken, daß er mit halbwegs heiler Haut davongekommen ist. Die Krise indes hält an.
Von MARIE LAVIGNE *
Tschechien galt lange Zeit als Musterbeispiel des politischen Übergangs in Osteuropa.1 Auch das Jahr 1997 begann unter den besten Vorzeichen. Mit Stolz konnte die Regierung in Prag auf eine beeindruckende Stabilität der Tschechischen Krone seit 1991 verweisen; des weiteren auf ein Budget-Defizit, das praktisch bei Null lag (0,1 Prozent des Bruttosozialprodukts für 1996), auf eine Inflationsrate, die unter die Zehnprozentmarke gesunken war, und schließlich auf ein ansehnliches Wachstum (4,4 Prozent) – das allerdings von demjenigen Polens (6 Prozent) noch übertroffen wurde. Einziger Makel war das Defizit in der Zahlungsbilanz (8,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts).
Überdies blieb der „soziale Frieden“ erhalten. Obwohl die Regierungskoalition zunehmend gefährdet schien und ihre Popularität laut Umfragen stetig zurückging, blieben die sozialen Konflikte punktuell: Es kam zu Protesten von Eisenbahnern, Ärzten und – allerdings weniger vehement – Lehrern. Dieser wenig enthusiastische, aber auch von sozialen Explosionen freie Konsens läßt sich gewiß mit der niedrigen Arbeitslosenrate (3,5 Prozent 1996) erklären sowie mit den stetig wachsenden Reallöhnen (seit drei Jahren jährlich 8 Prozent im öffentlichen Bereich). So konnte Premierminister Václav Klaus mit Fug und Recht die Ansicht vertreten, daß sein Land am besten auf einen EU-Beitritt vorbereitet sei, und sich überdies den Luxus leisten, hin und wieder die skeptische Frage aufzuwerfen, welche Vorteile Tschechien denn aus einem solchen Beitritt ziehen würde.2
Doch nun haben innerhalb von sechs Monaten zwei Krisen das Land erschüttert. Die erste – ökonomischer und politischer Natur – hat zur Abwertung der Krone geführt und beinahe zum Sturz der Regierungskoalition: Am 10. Juni 1997 überstand sie mit nur einer Stimme Mehrheit einen Mißtrauensantrag. Die zweite – klimatischer Natur – war das Jahrhunderthochwasser in Mähren und Ostböhmen. Paradoxerweise sollte diese Katastrophe die Regierung retten, zumindest für einige Zeit, denn sie brachte wieder Einigkeit in die Koalition und bot einen wunderbaren Vorwand für anstehende Sparmaßnahmen. Doch unter der Oberfläche gärt es weiter.
Václav Klaus, der 1990 Finanzminister der Tschechoslowakei wurde und seit 1992 als Premierminister Tschechiens waltet, hat auf die Ökonomie wirklich gestaltend eingewirkt. Er berief sich stets auf jenen neoliberalen Konservatismus, der jegliches staatliche Eingreifen aufs schärfste verurteilt und die Tugenden des Marktes preist. Seine Haushalts- und Geldpolitik war noch rigoroser, als es der Internationale Währungsfonds (IWF) empfohlen hatte, so daß diesem 1994 vorzeitig ein Teil der Kredite zurückgezahlt werden konnte. Nirgendwo in Mittel- und Osteuropa wurde die Privatisierung so massiv und so rasant vorangetrieben wie hier.
Und dennoch, hinter dieser Fassade gleicht Tschechien weniger dem Großbritannien der Margaret Thatcher als dem Frankreich der neunziger Jahre. Die Rolle des Staates als regulierende Instanz, Eigentümer und Förderer wird zwar heruntergespielt, ist aber nach wie vor bedeutend. Und wenn sich Konservative und Sozialdemokraten auch bekämpfen, so ist doch in ihren Programmen kein klarer Gegensatz auszumachen.
Bedeutet die tschechische Krise eine Bankrotterklärung der offiziellen liberalistischen Doktrin? Einer Politik, der es zwar gelungen ist, die Wirtschaft zu stabilisieren, die jedoch keine Anstöße für deren Umstrukturierung gegeben hat, weil dies ja als Sache des Marktes galt? Oder handelt es sich um die Krise eines Schwellenmarkts ähnlich der mexikanischen oder der thailändischen? Diese letzte Hypothese könnte plausibel erscheinen, sofern man allein die unmittelbaren Ursachen der Krise und ihre kurzfristigen Folgen betrachtet.
Solidarisierung in der Not
ALLES begann Ende Mai 1997, als die Krone Gegenstand von Währungsspekulationen wurde. Die Ursachen lagen im Ausland (eine Flucht von Portfolioinvestitionen, ausgelöst von amerikanischen Investoren und europäischen, insbesondere deutschen Banken), aber auch im Inland (Konvertierung von Unternehmensguthaben und – in geringerem Umfang – von Guthaben privater Haushalte in Devisen). Die Zentralbank versuchte, den Geldverfall, der sich in London stärker als in Prag bemerkbar gemacht hatte, zu bremsen: Sie hob die Zinssätze an und gab in wenigen Tagen 3 Milliarden Dollar für Kursstützungen aus (was ihre Reserven um ein Viertel, auf nunmehr 9 Milliarden Dollar, zusammenschrumpfen ließ). Nachdem sie eine Woche lang einer Abwertung der Krone entgegengearbeitet hatte, entschied die Regierung am 26. Mai, die tschechische Währung ohne jede Kontrolle floaten zu lassen, woraufhin sie sofort um 10 Prozent fiel. In der Folge gingen die mitteleuropäischen Börsen zurück, der polnische Zloty erlitt eine Abschwächung.
Doch diese Reaktionen waren nur von kurzer Dauer. Nach der Abstimmung über den Mißtrauensantrag am 10. Juni hat sich die Krone erneut stabilisiert, der Börsenindex stieg am 12. Juni wieder um 0,1 Prozent (nachdem er seit Anfang März 24 Prozent eingebüßt hatte). Zwischen Mitte Juni und Ende August ist der Wechselkurs der Tschechischen Krone zur Deutschen Mark stabil geblieben, gegenüber dem Dollar sank sie um 7 Prozent. Auch blieb ein dauerhafter negativer Effekt auf Mitteleuropa aus. Kurz, Tschechien ist nicht zu einem osteuropäischen Mexiko geworden.
Man muß also auf die erste Hypothese zurückgreifen. Angesichts der Bedrohungen für das wirtschaftliche Gleichgewicht gab Václav Klaus der Stabilität den Vorrang – also einem Sparkurs. Dies zeigen die beiden „Reformpakete“. Mitte April nahm die Regierung ein Dringlichkeitsprogramm an, das eine Verringerung der Haushaltsausgaben vorsah, insbesondere eine auf 7,3 Prozent begrenzte Erhöhung der Löhne im öffentlichen Sektor (also weniger als die erwarteten 8 Prozent Inflationsrate) und eine Verringerung der öffentlichen Investitionsausgaben. Auch war eine Beschränkung des Imports von Konsumgütern vorgesehen, der für das wachsende Handelsbilanzdefizit verantwortlich gemacht wurde. Gedacht war an eine sechsmonatige, zinslose Einlage auf einem Sperrkonto, und zwar in Höhe von 20 Prozent des Gegenwertes der eingeführten Ware. Diese Maßnahme wurde allerdings nach Protesten der Europäischen Kommission im August zurückgenommen. Darüber hinaus „bat“ die Regierung die Zentralbank, ihre Zinssätze zu senken, um so das Wachstum anzukurbeln. Schließlich verpflichtete sie sich, das Tempo der Privatisierungen zu beschleunigen – insbesondere im Bankenbereich – sowie den Finanzmarkt zu regulieren.
Deutlich zeigen sich hier die Widersprüche der Methoden von Václav Klaus. Das Kabinett empfiehlt und praktiziert eine Sparpolitik, ist aber zugleich besorgt wegen der sinkenden Wachstumsrate: Man rechnete für 1997 (aufgrund des Aufschwungs von 1996) mit einem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes um 4,5 Prozent; im April wurden die Schätzungen nach unten korrigiert – auf 2 Prozent. Daher die Bitte an die Zentralbank, Maßnahmen zur Wiederankurbelung des Wachstums zu ergreifen – welche diese aber wenige Wochen später wieder zurücknehmen muß, um die Krone zu stützen. Und wenn die Regierung sich „verpflichtet“, die Privatisierungen zu beschleunigen, so gesteht sie damit ein, daß hier das freie Spiel des Marktes nicht zum Ziel führt. Indem Václav Klaus bereit ist, eine Kontrolle des Finanzmarktes zu akzeptieren, gibt er allerdings eine seiner Leitüberzeugungen preis, nämlich, daß jedes korrigierende Eingreifen bei den Börsenbewegungen und gegenüber den Börsenmaklern von Schaden sei.
Nach dem Scheitern des ersten Reformpakets gibt der Premierminister am 30. Mai die Abwertung der Krone bekannt und kündigt gleichzeitig eine begrenzte Kabinettsumbildung und Sparmaßnahmen an. Die Wachstumsförderung steht nicht mehr auf der Tagesordnung. Nach Umfragen sinkt die Popularitätsquote der Regierung von 35 Prozent im Mai auf 22 Prozent Ende Juni.
Doch da kommt die Natur ins Spiel und verhilft der Regierung plötzlich zu einem Aufschub. Die verheerenden Überschwemmungen, die im Juli und August weite Teile Mitteleuropas treffen, überfluten auch die östlichen Landesteile Tschechiens. Die Schäden werden auf über 3,5 Milliarden Mark geschätzt, eine Summe, von der die Regierung hofft, sie durch eine nationale Solidaritätskampagne aufzubringen, um (abgesehen von bislang nicht ausgeschöpften Mitteln aus dem Programm PHARE der Europäischen Kommission) sowenig wie möglich auf internationale Hilfe angewiesen zu sein. So hat sich nun die Herbstdebatte über den Haushalt für 1998, die schwierig zu werden versprach, zu großen Teilen entschärft.
Die „Überschwemmungssteuer“ oder auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Anfang September ins Auge gefaßt wurde (zusammen mit einem Einfrieren der Gehälter im öffentlichen Bereich), dürften im Namen der Solidarität leichter akzeptiert werden. Daß das Budget zum ersten Mal seit Jahren nicht ausgeglichen ist, wird den außergewöhnlichen Umständen angelastet werden. Schon bezichtigen die Sozialdemokraten die Regierung, die Naturkatastrophe zu benutzen, um von ihrer gescheiterten Politik abzulenken. Worauf aus Regierungs-, aber auch Präsidentenkreisen zu hören ist, die Beseitigung der Schäden werde der Wirtschaft neuen Auftrieb geben und zur Modernisierung ländlicher Gegenden beitragen.
Dem Aufruf zu nationaler Solidarität war im übrigen ein enormer Erfolg beschieden. Die im August ausgegebenen „Überschwemmungsobligationen“ – mit fünfjähriger Dauer und einem garantierten Zinssatz von 2,5 Prozent über der Inflationsrate – brachten an die 300 Millionen D-Mark zusammen. Präsident Václav Havel und seine neue Ehefrau Dagmar zeichneten die ersten Anleihen. Und in ihrer Nachfolge wollten so viele Kleinanleger diese Wertpapiere erwerben, daß der Bestand in den Banken nicht ausreichte; Anfang September mußten neue Obligationen ausgegeben werden, um die Nachfrage zu befriedigen.
Ist das „tschechische Wunder“ folglich gerettet? Wenn man von den Großereignissen der letzten Monate absieht, so ist eine anhaltende mikroökonomische Schwäche zu konstatieren, gegen die die Regierung von Václav Klaus nie angehen wollte, weil die Mikroökonomie als Sache des Marktes galt. Aber wäre eine andere Politik überhaupt in der Lage, die strukturellen Schwächen zu überwinden?
Die Privatisierung durch Coupon-Ausgabe blieb ein eher undurchsichtiger Vorgang und bedeutete keine Umstrukturierung. Die wichtigsten Aktionäre der privatisierten Unternehmen sind institutionelle Großanleger, Investmentfonds und Banken. Es ist schwer herauszufinden, wer letztlich als Eigentümer hinter einer Holding oder Briefkastenfirma steckt, und selbst die Medien kommen nicht hinter dieses „Geheimnis“. Die Wirtschaftskriminalität bleibt sehr verbreitet und wenig kontrolliert, das haben die spektakulären Skandale im Bankenbereich 1996 gezeigt. Das sogenannte asset-stripping – der Verkauf von Firmenaktiva und der Geldtransfer ins Ausland – findet in großem Maßstab statt. Gleichwohl wollte Václav Klaus bis April 1997 nichts von den Möglichkeiten staatlicher Regulierung hören. Obwohl es – zum Beispiel – bei Unternehmen mit ausländischer Beteiligung gang und gäbe ist, Einkäufe beim ausländischen Partner zu hohen Transferpreisen zu tätigen und so die steuerlich relevanten Gewinne gegen null zu reduzieren.
Die privatisierten Unternehmen sind hoch verschuldet – und deshalb in Wahrheit von den Banken kontrolliert, deren Kapital noch überwiegend vom Staat gehalten wird. Die ausbleibende Umstrukturierung und die physische Entflechtung ihrer Guthaben ziehen eine sehr niedrige Produktivität der Industrie nach sich. Die jüngste Abwertung der Krone ist deshalb kaum geeignet, den Export anzukurbeln, sondern dürfte vielmehr zum Anstieg der Preise beitragen.
Dennoch kommt es selten vor, daß privatisierte Unternehmen Konkurs anmelden. Die gesetzlichen Bestimmungen werden nicht angewendet, die Banken als Hauptschuldner beantragen nicht die Konkurseröffnung. Und die laufenden Verfahren bleiben häufig stecken, denn die Konkursverwalter sind sehr schlecht bezahlt. Dies ist durchaus ein Beispiel für den „verschämten Paternalismus“, den die Regierung praktiziert. Denn mit ihrer wohlwollenden Haltung gegenüber den verschuldeten Unternehmen ermöglichen die Banken – und damit letzten Endes der Staat, der die Kosten zu tragen hat – deren Fortbestehen und dadurch wiederum eine hohe Beschäftigungsrate.
Gibt es eine überzeugende Alternative? Wenn die Regierungspartei gespalten ist, so ist die Linke es nicht minder. Die Sozialdemokraten bedürfen der Unterstützung durch die ehemalige Kommunistische Partei, doch wenn es um die Machtfrage geht, würden sie eine Allianz mit den Christdemokraten vorziehen. Miloš Zeman, dem Chef der Sozialdemokratischen Partei (CSSD), fehlt es nicht nur an Charisma, sondern er ist auch, ganz wie sein konservativer Amtskollege Václav Klaus, autoritär und schroff; beide sind ja übrigens aus denselben Wirtschaftskreisen des alten Regimes hervorgegangen.
Welche Ziele würden die Sozialdemokraten verfolgen, falls sie an die Macht kämen? Sicherlich würden sie versuchen, die Wirtschaftskriminalität einzudämmen – eine zwar populäre, aber nicht unbedingt wirksame Maßnahme, denn es geht um nicht mehr und nicht weniger, als eine Kapitalflucht großen Ausmaßes zu unterbinden. Sie müßten ein Programm der wirtschaftlichen Wiederbelebung vorlegen, das inflationistische Folgen zeitigen würde. Es heißt, sie hätten die Absicht, die Privatisierungen zu stoppen, zumindest jene der großen Banken (die drei bedeutendsten sollen in Kürze privatisiert werden3. Angeblich sollen sie sogar, im Namen der Transparenz, die erneute Verstaatlichung von Unternehmen ins Auge fassen, doch befindet sich, wie gesagt, eine Großzahl von ihnen de facto ohnehin – vermittels der Banken – unter staatlicher Kontrolle. Bleibt also die Frage nach dem Handlungsspielraum, den die Sozialdemokraten hätten. Václav Klaus, ein überaus tüchtiger Parteichef, hat alle Schlüsselpositionen mit Vertretern aus den Reihen seiner Demokratischen Bürgerpartei (ODS) besetzt, und zwar auch in den privatisierten Unternehmen. Diese „renovierte“ Nomenklatura dürfte gewiß mit all ihren Kräften der sozialdemokratischen Politik entgegenarbeiten.
Angst vor der Zukunft
WEDER Regierung noch Opposition äußern sich sonderlich häufig zur sozialen Krise der tschechischen Gesellschaft, die zwar weniger sichtbar ist als in anderen Übergangsstaaten, aber dennoch besteht. So ist die Zahl der Geburten seit 1989 um etwa ein Drittel zurückgegangen. Und seit 1994 ist die Bevölkerungswachstumsrate negativ. Man kann daraus schließen, daß ein Teil der Gesellschaft Angst vor der Zukunft hat.
Und in der Tat wächst die Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Der Anstieg der Preise für Strom, Gas und Heizung und die Anhebung der Fernsehgebühren und der Mieten zum 1. Juli 1997 bedeuten für Haushalte mit geringem Einkommen einen Ausgabenanstieg von 25 Prozent. Zugleich werden sich die Gesundheitsversorgung und die Situation im Bildungsbereich infolge der Einsparungen weiter verschlechtern. Dennoch ist kaum mit einer Streikwelle zu rechnen, was der sinkenden wirtschaftlichen Relevanz der betroffenen Berufszweige zuzuschreiben ist. Infolge eines Konflikts zwischen den Krankenkassen und den Ärzten begannen diese im Juli erstmals, von ihren Patienten Honorare zu verlangen – die sie allerdings auf Weisung der Ärztekammer zurückerstatten mußten, nachdem mit der Sozialversicherung eine eher annehmbare Regelung getroffen worden war. Die Lehrkräfte verlassen die öffentlichen Bildungseinrichtungen, um einträglicheren Beschäftigungen nachzugehen. Und die Eisenbahnergewerkschaften haben zwar angekündigt, daß sie den Streik ausrufen würden, wenn die Privatisierung wie angekündigt mit einem Abbau von siebzehntausend Arbeitsplätzen einherginge, doch der gescheiterte Streik des letzten Winters hat den Kampfgeist geschwächt.
Die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für die ärmeren Schichten gibt ausländerfeindlichen Haltungen Auftrieb. Die ersten Opfer sind die Roma, deren (sehr bedingte) Integration unter dem alten Regime auf Sozialprogramme zurückging, die längst gekappt sind. Häufig von der tschechischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen4 , zu 70 Prozent arbeitslos und jeder Art von Kriminalität beschuldigt, werden die Roma häufig Opfer von Gewalttaten, die von der rassistischen Ideologie der rechtsextremen Republikanischen Partei (RSČ) des Miroslav Sladek beeinflußt sind. Kein Wunder also, wenn Mitte August eine Sendung des privaten Fernsehkanals Nova, in der das idyllische Leben von Roma gezeigt wurde, die nach Kanada emigriert sind, einen wahren Ansturm von Familien ausgelöst hat, die ihr weniges Hab und Gut verkaufen wollten, um ins „gelobte Land“ auszuwandern. In einigen Fällen gingen städtische Behörden tatsächlich so weit, Flugtickets anzubieten, um sich dieser lästigen Einwohner zu entledigen. In Prag schlug im übrigen der Bürgermeister des größten Stadtbezirks, Zdenek Klausner, jüngst vor, „die asozialen Bevölkerungsschichten in Gebiete außerhalb der Städte umzusiedeln“.5
Daß Tschechien – zusammen mit Polen, Ungarn, Slowenien und Estland – Mitte Juli in den Kreis jener osteuropäischen Länder aufgenommen wurde, mit denen als erste über einen EU-Beitritt verhandelt wird, war letztlich ein Ereignis von geringer Bedeutung. Die tschechische Regierung vertritt schon lange die Position, daß ihr Land gewillt sei, der EU beizutreten, die Union jedoch einer Erweiterung ablehnend gegenüberstehe. Brüssel wiederum hat Tschechien aufgefordert, größere Transparenz in seine Finanzmärkte zu bringen und eine durchsichtigere Führung der Privatunternehmen sicherzustellen. Dies sind die Themen, die auf der Tagesordnung stehen – zweifellos für lange Zeit.
Von woher könnte nun, nach der „Wunderkatastrophe“, der Regierung Gefahr drohen? Gewiß, die Bevölkerung ist gedrückter Stimmung, und die Kosten des Übergangs sind höher als erwartet. Dennoch gibt es viele, die von dem neoliberalen Kurs noch profitieren. Was die anderen betrifft, so sind sie im Lande des braven Soldaten Schwejk daran gewöhnt, alle Schläge mit trauriger Ironie einzustecken.
dt. Eveline Passet
* Forschungsleiterin am Institut de sciences mathématiques et économiques appliquées, Paris.