17.10.1997

Aristide wäscht seine Hände in Unschuld

zurück

Aristide wäscht seine Hände in Unschuld

VON den großen Hoffnungen, die am 16. Dezember 1990 durch die Wahl von Jean-Bertrand Aristide zum Präsidenten Haitis geweckt worden waren, ist wenig übriggeblieben. Zum einen haben die drei Jahre Militärdiktatur, die auf den Putsch vom September 1991 folgten, die bereits vorher instabile Wirtschaft regelrecht zerstört. Zum anderen haben sich mit der Rückkehr zur Demokratie im Oktober 1994 die Lebensbedingungen der Bevölkerung keinen Deut gebessert. Anstatt mit vereinten Kräften aufzutreten, zerfleischen sich die verschiedenen Gruppierungen des ehemaligen Lavalas-Bündnisses gegenseitig im Kampf um eine „Macht“, die de facto nichts ausrichten kann.

Von BERNARD CASSEN

„Die Lage ist deprimierend und beängstigend. Der Staat ist krank. Haiti liegt am Boden und hat sich nach all der Hoffnung nun offenbar damit abgefunden zu sterben.“1 Mit dieser Meinung stößt die Industrie- und Handelskammer von Haiti an diesem Herbstbeginn in Port-au-Prince auf breite Zustimmung, und zwar selbst unter den Politikern, die sich vornehmlich mit Fragen der Taktik beschäftigen.

Der Taktik, aber nicht der Strategie. Einer Taktik, die die Sicherung oder die (Wieder-)Eroberung der politischen Macht verfolgt, auch wenn diese mittlerweile jegliche Substanz verloren hat. Die strategischen Überlegungen bleiben Washington vorbehalten, wo diejenigen sitzen, die die Fäden ziehen: die US-Regierung und die internationalen Finanzinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, die mit der Regierung gemeinsame Sache machen. Wäre die Situation nicht so tragisch, könnte man diesen Kampf zwischen David und Goliath als surrealistisch bezeichnen: Während die eine Seite entschlossen ihre neoliberale Politik vorantreibt, richtet sich die andere in unzähligen ohnmächtigen Appellen an ein verzweifeltes Volk.

Der Goliath ist die CIA in der amerikanischen Hauptstadt, die im September 1991 ihrem Schützling und Lohnempfänger, General Raoul Cédras, indirekt grünes Licht für seinen Staatsstreich gegen den seit sieben Monaten amtierenden Präsidenten Jean-Bertrand Aristide gegeben hatte. Mit Pater Aristide, dem ersten demokratisch gewählten Staatschef Haitis, schien eine neue Ära angebrochen, die sich nicht mehr auf das seit Jahrzehnten von den lokalen „Eliten“ praktizierte Schema von Herrschaft und Manipulation reduzieren ließ. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit Haitis im Jahr 1804 war das Volk – im vorliegenden Fall die Landbevölkerung und die Bewohner der städtischen Elendsviertel – auf die politische Bühne getreten. Mit der Lavalas-Bewegung2 erlangte das „Land draußen“3 eine staatsbürgerliche Zugehörigkeit, die ihm bis dahin verwehrt geblieben war. Für die Wohlhabenden und ihre amerikanischen Beschützer bedeutete das eine Schmach, ein regelrechtes Trauma, und es gab dem Subkontinent ein ärgerliches Beispiel.

Die „diensthabenden“ Offiziere in Washington reagierten mit den Reflexen, die sie sich in der Zeit des Kalten Krieges angewöhnt hatten, obwohl dieser soeben zu Ende gegangen war. Sie wiederholten, was sie zuvor in Guatemala, in der Schweinebucht, in Santo Domingo, Chile, Grenada und anderen Ländern getan hatten. Nach Ansicht des Soziologen Laännec Hurbon hatten sie große Angst, ebenso wie die haitianische Armee und die Bourgeoisie. „Sie haben die vielen Stimmen für Aristide offenbar als eine Art Ende der Zeiten, oder besser, als das Ende ihrer Zeit verstanden.“ Anders ließe sich das Ausmaß der Repression kaum erklären, die in den drei Jahren nach dem Staatsstreich auf das Volk niederging.4 „Die Bourgeoisie bezahlte die Soldaten dafür, der Bewegung das Rückgrat zu brechen, die für den 16. Dezember verantwortlich war. Bis auf einige Ausnahmen stand sie bedingungslos hinter dem Repressionsapparat und arbeitete mit ihm zusammen“, bestätigt der politische Journalist Jean Dominique im Gespräch in den Räumen seines Senders Radio Haiti Inter. Angesichts der Tatsache, daß der im Washingtoner Exil lebende Aristide nach wie vor weltweit als der einzige legitime Vertreter seines Landes anerkannt wurde, setzten sich William Clinton und seine Demokratische Partei nach dem Regierungswechsel in den USA im Januar 1993 ein doppeltes Ziel. Von der „Wiederherstellung der Demokratie in Haiti“ – die unter Mitwirkung ihrer republikanischen Vorgänger zerstört worden war – erhofften sie sich einen sowohl innen- wie außenpolitischen Erfolg. Gleichzeitig wollten sie gewährleisten, daß sich diese Demokratie an den traditionellen Normen orientierte, das heißt ohne eine echte Einbeziehung des „draußen gebliebenen Landes“. Der „Sturzbach“ sollte in seine geregelten Bahnen zurückgelenkt werden, aus denen er nie hätte ausbrechen sollen.

Zu diesem Zweck spielten amerikanische Diplomaten zwei Jahre lang die Vermittlerrolle zwischen der mit den USA verbündeten Militärdiktatur, die mit den reichen Familien Haitis unter einer Decke steckte, und dem isolierten, weil im Exil lebenden Präsidenten. Die Lösung, die angepeilt wurde, sah eine Kohabitation in Port-au-Prince vor, bei der beide Seiten die demokratischen Spielregeln einhalten würden. Dabei sollten sowohl die Interessen der lokalen Großbourgeoisie gewahrt als auch das Abschreckungspotential der Armee – der eine großzügige Amnestieregelung in Aussicht gestellt wurde – beibehalten werden. Die Grundlage für diese Kohabitation sollte eine klassische Strukturanpassungspolitik im Wirtschafts- und Sozialbereich bilden, die der direkten Kontrolle des IWF unterlag. Um von internationalen und nationalen Geldgebern auch nur den geringsten Betrag zu erhalten, mußte sich die zukünftige Führung diesen Bedingungen vorbehaltlos unterwerfen.

So lautete mehr oder weniger das einzige Angebot, das Jean-Bertrand Aristide unterbreitet wurde, damit er noch im Verlauf seiner Amtszeit von fünf Jahren (also vor Februar 1996) nach Haiti zurückkehren könne. Im übrigen mußte sich Aristide auch dazu verpflichten, auf eine Verlängerung seines Mandats um die drei Jahre zu verzichten, die durch sein Zwangsexil während der Militärdiktatur verlorengegangen waren.

Zu jenem Zeitpunkt hatte Präsident Aristide keine andere Wahl, als diese drastischen Bedingungen zu akzeptieren. Als er am 19. September 1994 unter dem Begleitschutz der US-Marine wieder in den Präsidentenpalast einzog, war das folglich keineswegs eine Rückkehr auf das Startfeld, das er am 30. September 1991 verlassen hatte. Allerdings beabsichtigte Jean- Bertrand Aristide, der in der Zwischenzeit seine Priesterschaft aufgegeben hatte, um zu heiraten, das ihm auferlegte Diktat unter Einsatz seiner Beliebtheit und der während seines Exils in der US-Hauptstadt erworbenen intimen Kenntnisse der „Eingeweide des Monsters“5 soweit wie möglich zu korrigieren.

So gelang es ihm, unter Umgehung der zahlreichen wachsamen „Berater“ und sonstigen „Experten“ aus den USA, die laut Kommentar eines Diplomaten „völlig überrumpelt“ waren, alle Offiziere kaltzustellen – gegen den Willen Washingtons, das lediglich die Beseitigung einzelner bekannter Exponenten der Armee vorgesehen hatte. Damit leitete er die Auflösung der Armee ein, die im April 1995 zu Ende gebracht wurde. Trotz des mit dem IWF im Februar 1995 unterzeichneten Stand- by-Abkommens weigerte sich die Regierung des von Aristide eingesetzten Premierministers Smarck Michel gleichzeitig – wenn auch zugegebenermaßen unter dem Druck der Bevölkerung –, die von den USA geforderten Privatisierungen einzuleiten. Smarck Michel trat im Oktober 1995 zurück. Die laufenden Geschäfte wurden von einer Expertengruppe unter Leitung von Claudette Werleigh übernommen, doch reichte die Zeit nicht, um zwei Monate vor den auf Dezember angesetzten Wahlen zur Nachfolge von Präsident Aristide die geforderten strukturellen „Reformen“ durchzuführen. Bevor Aristide den Präsidentenpalast räumte, drehte er Washington mit der Anerkennung Kubas ein letztes Mal eine lange Nase.

Seither sind im Verhalten von Jean- Bertrand Aristide große Widersprüchlichkeiten zutage getreten, die mittlerweile innerhalb der Lavalas-Bewegung in eine offene Krise gemündet und sogar zu Konfrontationen ausgeartet sind und eine schwere Belastung für den Versuch Haitis darstellen, Widerstand gegen die von den USA gewünschte Normalisierung zu leisten. Der kleine David bricht zusammen... „Aristide hat die Beschneidung seines Mandates als Beraubung und persönliches Drama erlebt“, erklärt Jean Dominique. In der Folge hat er sich bewußt oder unbewußt geweigert, die Legitimität seines Nachfolgers, treuesten Gefolgsmannes und „Zwillingsbruders“ René Préval anzuerkennen. „Im Wahlkampf vom Dezember 1996 hielt er sich bis zuletzt völlig im Hintergrund und rechtfertigte damit schon im voraus die außerordentlich hohe Stimmenthaltung von 72 Prozent.“ Diesem geschwächten Präsidenten kam nun die schwierige Aufgabe zu, die unvermeidlichen Neuverhandlungen mit dem IWF und den Kreditgebern zu führen. Aristide konnte diesbezüglich seine Hände in Unschuld waschen und sich ungestört auf einen „Marsch durch die Wüste“ vorbereiten. Zeitweise sah es danach aus, als könnte dieser vorzeitig beendet werden durch den willkommenen Rücktritt seines Nachfolgers vor den für Dezember 2000 vorgesehenen Wahlen.

Zur persönlichen Frustration kam noch ein Grundsatzstreit mit dem harten Kern der Lavalas-Bewegung, der Politischen Organisation Lavalas (OPL), hinzu. Diese Gruppe besteht aus einem Bündnis von fünf Strömungen, die von den kirchlichen Basisgemeinden über die Bauernbewegung bis zu den inhaltlich orientierten „Aristidisten“ reichen. Unter anderem auf Initiative marxistischer Intellektueller wie Gérard Pierre-Charles, Suzy Castor und Rosny Smarth, die in der Duvalier-Zeit im lateinamerikanischen Exil gelebt hatten, hatte sie sich als Partei konstituiert. Dieser Prozeß wurde durch die außerordentlich breite Massenbewegung begünstigt, die vor und unmittelbar nach dem Putsch im Umfeld des „Phänomens“ Aristide entstanden war. So stand auf der einen Seite der charismatische Führer, der in engem Kontakt zur Bevölkerung steht und eine tiefe Abneigung gegen jede Art von dazwischenstehendem „Apparat“ hegt und der OPL vorwirft, sich wie ein Kuckuck in das von ihm gemachte Nest zu setzen. Auf der anderen Seite hingegen eine zahlenmäßig unbedeutende, aber gut organisierte Kraft mit Aktivisten und Kadern, Kongressen, einem Programm und einer kollektiven Leitung, der jede Personalisierung der Macht widerstrebt.

Mit dem Amtsantritt von René Préval, der hauptsächlich von ehemaligen Aristide-Anhängern umgeben war, kam ein hartes Tauziehen zwischen dem neuen Präsidenten und der OPL in Gang, die im Parlament die Mehrheit stellt und die Personalentscheidungen des Präsidenten bestätigen muß. Zentraler Streitpunkt war die Nominierung des Ministerpräsidenten, dem die Verfassung von 1987 eigene Kompetenzen einräumt. René Prévals bevorzugter Anwärter war Ericq Pierre, ein hoher Beamter der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), den Aristide in Washington kennengelernt hatte und der aus seinem Bekenntnis zum Neoliberalismus keinen Hehl macht. Der OPL gelang es, mit Rosny Smarth einen Vertreter aus den eigenen Reihen durchzusetzen, doch weitere Schlüsselpositionen in der Regierung blieben ihr versagt. „Wir mußten die Verantwortung für die Amtsübergabe tragen, ohne über die politischen Mittel zur Umsetzung unseres Programms zu verfügen“, erklärt Gérard Pierre-Charles, Koordinator der OPL.

Seither blockieren sich die beiden wichtigsten Lager gegenseitig – die anderen politischen Gruppierungen sind zu zersplittert und manche aus der Zeit der Militärdiktatur zu sehr kompromittiert, um ins Gewicht zu fallen. Die OPL, deren Parteistruktur von ihren Gegnern gerne als „stalinistisch“ bezeichnet wird, setzte sich zum Hauptziel, die Demokratie zu verankern, dezentrale Strukturen aufzubauen und einzusetzen, in denen auch die Bauernschaft zu Wort kommen sollte, und somit einen Staat zu rehabilitieren, der im Verlauf der Geschichte nur als Mittel zur Unterdrückung, Beraubung und Korruption in Erscheinung getreten war. Präsident Préval teilt dieses Anliegen selbstverständlich und unterstreicht im Gespräch, welch „enormer Schritt“ mit der Amtsübergabe zwischen zwei demokratisch gewählten Präsidenten getan wurde und wie einmalig die Situation im März 1997 verlaufen sei, als im Parlament die Vertrauensfrage gegen die Regierung gestellt wurde. „Bisher wurden solche Konflikte mit der Waffe ausgetragen.“ Die OPL setzt auf mittel- und langfristige Veränderungen, mußte jedoch vorerst ein Wirtschaftsprogramm absegnen, das ihr von außen aufgezwungen und bereits teilweise umgesetzt worden war. Vor diesem Hintergrund bemüht sie sich um die Schaffung „alternativer Freiräume“.

Heftig umstrittener Aristide

JEAN-BERTRAND Aristide seinerseits hat der Regierung und der Verwaltung schrittweise seine Unterstützung entzogen, obwohl in zahlreichen Ämtern seine Anhänger sitzen – allen voran der allmächtige Leslie Delatour, ein Chicago boy, der das Vertrauen der Geldgeber genießt und von Aristide zum Gouverneur der Zentralbank ernannt worden war. Mit seiner offensichtlich falschen Behauptung, weder in Washington noch nach seiner Rückkehr habe er irgendeinen Vertrag mit dem IWF unterzeichnet, und mit seiner Kritik an der „neoliberalen Politik“ der Regierung ermutigte Aristide verschiedene Basisorganisationen, den Rücktritt von Premier Smarth zu fordern. Im vergangenen März scheiterten die Freunde des ehemaligen Präsidenten nur knapp mit ihrem Versuch, Smarth durch eine parlamentarische Anfrage zum Rücktritt zu zwingen, was den Weg für einen neuerlichen Nominierungsversuch von Ericq Pierre freigegeben hätte.

Würde es im dritten Anlauf gelingen? Am 9. Juni 1997 gab Rosny Smarth seinen Rücktritt bekannt und führte zur Begründung die schweren Unregelmäßigkeiten bei den Teilwahlen zum Senat vom 9. Juni an, die unter anderem von einer Beobachtergruppe der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) festgestellt worden waren und sich zugunsten der Kandidaten der „Familie Lavalas“ ausgewirkt hatten, einer im November 1996 durch Jean-Bertrand Aristide neu gegründeten Partei. Während Préval von Aristide zeitweise indirekt angegriffen worden war, hatte sich die OPL bisher mit direkter Kritik am Präsidenten zurückgehalten. Nun beschuldigte sie Préval, einen „Staatsstreich durch Wahlen“ zu befürworten und sich „für die Machtambitionen des ehemaligen Präsidenten Aristide einspannen zu lassen“. Der Rücktritt von Smarth erlaubte Präsident Préval, am 28. Juli mit Ericq Pierre einen Mann zum neuen Premierminister zu ernennen, der hinter den Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF steht. Die Nationalversammlung sperrte sich jedoch dagegen und weigerte sich in der Sitzung vom 26. August, den Entscheid des Präsidenten zu ratifizieren. So steht es heute...

Der Bruderkrieg hat katastrophale Auswirkungen auf die Bevölkerung, die nach und nach ihre Hoffnungen auf Demokratie endgültig begräbt. Während niemand daran zweifelt, daß Aristide die nächsten Präsidentenwahlen gewinnen wird, hat dieser mit seinem Drängen nach sofortiger Wiedereroberung der Macht viele seiner ehemaligen Anhänger verärgert. Paul Dejean, ein Lavalas-Mitglied der ersten Stunde und Minister für die Auslands-Haitianer in der Regierung Smarth, räumt offen ein, daß „der von seinem maßlosen Machtstreben getriebene ehemalige Präsident hauptverantwortlich für die gegenwärtige angespannte und unsichere politische Lage ist, in der sich Verbrechen und Unordnung breitmachen“. Er stelle zur Zeit „das größte Hindernis für eine Demokratie dar, die er selbst ins Land zurückgebracht hat“.6

Camille Chalmers war der Kabinettschef des exilierten Aristide und lehrt heute an der nationalen Universität von Haiti. Er beklagt „die organische Schwäche der Lavalas-Bewegung, die sehr vage ist und sich um eine Person statt um ein politisches Projekt gruppiert, ohne daß je eine Grundsatzdebatte über ein wirtschaftliches Programm stattgefunden hätte“. Den Widerspruch zwischen den antiliberalen Erklärungen des ehemaligen Präsidenten und seiner Neigung, ausgewiesene Neoliberale mit Schlüsselposten zu betrauen, erklärt er so: „Viele Kader haben sich während ihres erzwungenen Aufenthalts in Washington von der amerikanischen Vorgehensweise beeindrucken lassen.“

Die Verwirrung ist mittlerweile vollständig. Jean-Bertrand Aristide möchte so schnell wie möglich wieder in den Präsidentenpalast einziehen. Doch zu welchem Zweck und mit wem? Für viele Haitianer, insbesondere der Unterschicht, ist er nach wie vor „Titid“, der die Armee abgeschafft hat und der die richtigen Worte findet, um ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Doch die Politisierteren sehen in ihm mittlerweile schlicht einen Berufspolitiker. Der Verantwortliche einer mit Bauern zusammenarbeitenden Basisorganisation versichert, die Aktivisten seien „sehr schlecht auf ihn zu sprechen“ – im Gegensatz offenbar zu einigen der reichen Familien in Port-au-Prince – den Bigios, Brandts, Madsens, Mews, Boulos, Accras, Nadals, Moscosos etc. –, denen der ehemalige Präsident, dessen erklärte Gegner sie gewesen waren, im Namen der „Wiederversöhnung“ einige Zugeständnisse gemacht hat. Nach Ansicht von Jean Dominique sind diese Familien „gegen jede verfassungsmäßige Regierung und werden zunehmend ungeduldig“. Sie könnten Aristide aus taktischen Gründen unterstützen, sofern sie in ihm einen Faktor für die Destabilisierung der Demokratie sehen. Aristide selbst weigert sich, auf die gegen ihn gerichtete Kritik direkt zu antworten, und verkündet: „Aus tiefster Überzeugung rufen wir zu Einheit, Gewaltverzicht und gegenseitigem Respekt auf.“7

Die amerikanische politische Führung, die dem ehemaligen Priester von Saint- Jean-Bosco nie so recht getraut hat, kann dagegen beruhigt sein: Die Männer, die Aristide eingesetzt hat, sind verläßliche Anhänger einer orthodoxen Wirtschaftspolitik. Bleibt nur die Frage, ob das haitianische Volk angesichts des fortschreitenden Elends und der Hoffnungslosigkeit noch lange regierbar sein wird.

dt. Birgit Althaler

Fußnoten: 1 Erklärung der Industrie- und Handelskammer Haitis, veröffentlicht in Le Nouvelliste, Port-au- Prince, 7. Juli 1997. 2 Lavalas heißt Sturzbach, Strom, Flut. 3 Mit diesem Ausdruck bezeichnet die haitianische „Elite“ seit zwei Jahrhunderten die „übrige“ Bevölkerung – also rund 99 Prozent der Einwohner. Vgl. Gérard Barthélemy, „Le Pays en dehors“, Port-au-Prince (Henri Deschamps) 1987. 4 Laännec Hurbon, „Haiti entre la guerre froide et le nouvel ordre mondial“, Les Transitions démocratiques, herausgegeben von Laännec Hurbon, Paris (Syros) 1996. 5 Der Begriff stammt von José Marti, dem kubanischen „Vater der Nation“. 6 Zitiert nach Le Nouvelliste, 27. Mai 1997. 7 Erklärung gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, nachgedruckt in Dial, Dossier 2168, 16.–31. Juli 1997.

Le Monde diplomatique vom 17.10.1997, von BERNARD CASSEN