Frankreichs neue Liebe zur Politik
Von SERGE DEPAQUIT *
HAT sich in den Ereignissen vom Dezember 1995 eine „soziale Bewegung“ artikuliert, oder waren sie nur ein verzweifeltes Aufbegehren? Die Frage ist sehr kontrovers diskutiert worden. Sieht man die Ereignisse als soziale Bewegung, dann geht die Analyse von zwei geschichtlichen Entwicklungen aus, die in diesem Jahrhundert Gestalt angenommen haben: zum einen die allgemeine Verbreitung von Gewerkschaften und Verbänden, zum anderen das Hervortreten des Subjekts, das heißt die Konstruktion des Individuums als gesellschaftlicher Akteur.
In Frankreich tritt die soziale Bewegung in ganz verschiedenen Formen auf, die lange Zeit kaum miteinander verbunden waren. Es gibt auch weiterhin große Unterschiede etwa zwischen einer Bewegung für Volksbildung, den Umweltschutzvereinigungen, den Ausländerorganisationen, den großen Gewerkschaften oder den neuen Gewerkschaften wie zum Beispiel SUD. Aber heute gibt es immer mehr Berührungspunkte und eine wachsende Zahl gemeinsamer Aktionen. Die Gewerkschaften betrachten die anderen Organisationen nicht mehr als eine zu vernachlässigende Größe, und diese sehen in den Gewerkschaften nicht mehr nur Bollwerke zur Verteidigung von Privilegien. Es zeigen sich, wenn auch bisher in bescheidenem Maße, Möglichkeiten, trotz fortbestehender Divergenzen bei der Analyse der gesellschaftlichen Realität nach gemeinsamen Werten zu suchen.
Um die soziale Bewegung in einem übergreifenden Sinn zu erfassen, muß man sämtliche Existenzformen eines Akteurs in Betracht ziehen. Steht ein solcher Ansatz, wie Alain Touraine behauptet, im Gegensatz zur traditionellen marxistischen Klassenanalyse? Man kann an die Frage auch weniger kategorisch herangehen: Gesellschaftliche Klassen und Gruppen existieren nun einmal. Und sie bilden die Grundlage zahlreicher gesellschaftlicher Bewegungen, selbst wenn viele dieser Bewegungen sich sehr viel offener definieren. Grundlegend ist die Rolle des Handelnden, also des Individuums, die bislang in der theoretischen Diskussion fast vollständig übergangen worden ist.
Die Krise des Systems der Interessenvertretungen, die viele entwickelten Gesellschaften erfaßt hat, verlangt nach einem neuen Demokratieverständnis. Man kann feststellen, daß in Frankreich in den letzten 25 Jahren ganz unmerklich ein neues Kapitel aufgeschlagen worden ist. Man hatte geglaubt, mit dem aktiven politischen Handeln sei es vorbei, und nun ist es mit oft neuartigen Formen und Praktiken zurückgekehrt. Es trifft aber auch zu, daß nur wenige Beschäftigte Mitglieder einer Gewerkschaft sind (etwa 8 Prozent), und viele der großen Verbände haben einen Teil ihrer aktiven Mitglieder verloren, weil diese sich vorwiegend auf den öffentlichen Dienst konzentrierten, statt sich Aktivitäten zu widmen, die für ihre Identitätsbildung bedeutsamer gewesen wären. Wie sind die Grenzverschiebungen zu verstehen? Wo verlaufen die Linien zwischen den gesellschaftlichen Kräften, die eine Erneuerung des staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Engagements herbeiführen können?
Der Kampf der Belegschaft von „Lip“1 ist oft als einer der letzten großen Konflikte dargestellt worden, bei dem es noch um Fragen der Produktion ging – eine Art Schlußstrich unter die dreißig Aufschwungjahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Kampf symbolisierte tatsächlich das Ende einer Epoche, er rief noch einmal die bereits verblaßte Erinnerung an eine Zeit des Aufschwungs und der Vollbeschäftigung wach. Aber gleichzeitig wurde klar, daß die traditionellen Formen zur Austragung sozialer Konflikte sich verbraucht hatten und neue, von antiautoritärem Gedankengut und von der Idee der Selbstverwaltung geprägte Formen Gültigkeit erlangten. Diese Aktionsformen waren nach dem Mai 1968 aufgetaucht und stellten die Themen der „neuen sozialen Bewegungen“2 ins Zentrum – Ökologie, Ablehnung des Profitdenkens, Feminismus, Regionalismus, Kampf gegen die Atomkraft, freie Radios usw.
Da diese Bewegungen relativ isoliert blieben und es ihnen kaum gelang, politische Entscheidungen zu beeinflussen, schlich sich nach und nach ein Gefühl des Scheiterns ein, auch wenn bei bestimmten Gelegenheiten (zum Beispiel gegen den schnellen Brüter von Creys-Malville) viele Menschen mobilisiert werden konnten. Als die Linken 1981 siegten, gelang es ihnen mittels ihrer Versprechen und den in sie gesetzten Hoffnungen, die wichtigsten Kräfte der neuen Generation zu integrieren. Vor Ort bestanden Gruppierungen fort, andere wurden gegründet und im allgemeinen in Abteilungen des öffentlichen Dienstes umgewandelt, die von den Linksregierungen unterstützt wurden. Der Kampf gegen die Marginalisierung gesellschaftlicher Gruppen und für die soziale Wiedereingliederung der Opfer der Krise hatte Vorrang vor Protestaktionen. Gleichzeitig haben große Bewegungen, die sich entweder durch öffentliche Mittel oder durch Spendenaufrufe an die Bevölkerung (oder durch beides zugleich) finanzierten, ihren Beitrag zur Schaffung eines relativ neuen Netzwerkes der Vereinigungen geleistet: Ihnen ging es um humanitäre Aktionen, den Kampf gegen Aids, Antirassismus („Mach meinen Kumpel nicht an“) usw.
So wandten sich in den achtziger Jahren zahlreiche gesellschaftliche Akteure Bürgerbewegungen mit oft karitativem Charakter zu, die eher für ein bestimmtes Anliegen als für weiter gefaßte politische Ziele eintraten. Viele ehemals Aktive fanden Aktionsfelder, die ihren neuen Überzeugungen und einem sozialen Kontext näher standen, in dem sich der Niedergang der neunziger Jahre bereits ankündigte. An ihrer politischen Entwicklung läßt sich sehr deutlich ablesen, wie die Hoffnungen, die man anfangs noch in die Linke gesetzt hatte, immer schwächer wurden. Auch die Gewerkschaftsbewegung mußte in diesem Jahrzehnt einen erheblichen Substanzverlust hinnehmen. Da die Gewerkschaften zwischen ihrer profitablen, aber lähmenden Institutionalisierung und dem zunehmenden Zerfall des sozialen Netzes nicht zu vermitteln verstanden, sanken nicht nur ihre Mitgliederzahlen, sondern auch ihr öffentliches Ansehen.
Seit Beginn der neunziger Jahre haben sich die Ziele und die Aktions- und Organisationsformen der verschiedenen Teile der sozialen Bewegung von Grund auf verändert. Angesichts der ständig wachsenden Arbeitslosigkeit und sozialen Unsicherheit und angesichts des Stimmenzuwachses des Front National entstand ein kämpferisches Potential, das nach Ausdrucksformen suchte. Diese Kräfte zogen die Konsequenz aus der Erfahrung, die man während der beiden Amtsperioden von François Mitterrand machen konnte: daß der Sinn des politischen Handelns innerhalb der Parteien, um es vorsichtig zu sagen, immer fragwürdiger wurde. Der Wunsch, sich von der Parteipolitik abzugrenzen und autonom zu handeln, erwies sich denn auch bald als treibende Kraft neuer Mobilisierungen.
Ein anderer Antrieb war die Einsicht in den grundlegenden Charakter der gesellschaftlichen Krise. Die Marginalisierung wird nicht mehr als ein Phänomen begriffen, das sich gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft abspielt, der es ansonsten relativ gut geht. Da die Politiker offenbar nicht in der Lage sind, die Massenarbeitslosigkeit ernsthaft zu bekämpfen, engagieren sich die Arbeitslosen selbst und werden von anderen Engagierten unterstützt. Auf diese Weise ist neben anderen eine Bewegung wie AC! entstanden, und da sich das Problem der Arbeitslosigkeit im europäischen Maßstab stellt, werden auch die „Märsche gegen Arbeitslosigkeit und Unsicherheit“ europaweit organisiert. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch (vor allem die Reduzierung der Arbeitszeit), aber im wesentlichen geht es darum, die öffentliche Meinung wachzurütteln. Die Stärke liegt im raschen Handeln: Wenn ein bestimmtes Unternehmen Mitarbeiter entlassen will, dann wird es besetzt. Die Bewegungen Droit au logement (DAL/ Recht auf Wohnung) und Droits devant! (Vorrang für das Recht!) besetzen Wohnungen, die seit Jahren leer stehen, um dort Obdachlose unterzubringen.
Dieses „Do it yourself“-Prinzip führt bisweilen zu unerwarteten Erfolgen, vor allem was die Unterbringung von Menschen angeht. Ganz neue Bewegungen behaupten sich und machen die Medien auf sich aufmerksam. Sie haben ein Aktionsfeld gewählt, das man als „subinstitutionell“ definieren könnte, und verbinden illegale Aktionen mit einer strikt durchgehaltenen Gewaltlosigkeit und einem bemerkenswerten Verhandlungsgeschick. Mit dem Linksradikalismus von einst ist es vorbei.3 Die Volksbildungsbewegung, die traditionell gut strukturiert und fest in ihrem Umfeld verwurzelt ist, hat begonnen, den Bezug zu der neuen gesellschaftlichen Realität zu intensivieren.4 In weit größerem Maßstab haben die Unruhen vom Dezember 1995 diesen Wandel im Denken deutlich gemacht. Diese Aufbruchsbewegung ist keineswegs eine Sammlung konservativer Standpunkte, sie hat vielmehr gezeigt, mit welcher Macht die Bevölkerung nach den traumatischen Erfahrungen von zwölf Jahren Neoliberalismus ihre Ansprüche geltend machen kann. Auch wenn die Bewegung später von den Gewerkschaften, allen voran der CGT, weitergetragen wurde, so waren es doch „die da unten“, die sie in Gang gesetzt haben. Sie haben damit Geltung als kollektiv Handelnde beansprucht, nach der Logik einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft – ganz anders als es manche Theoretiker und Praktiker der „neuen sozialen Bewegungen“ der siebziger Jahre gedacht hatten.
Auch die Gewerkschaften, die sich auf die großen Erwartungen der Bevölkerung stützen können, haben seit 1995 einen Aufschwung erlebt, der aber von bisweilen herben Rückschlägen begleitet ist. Zugleich haben sich die Konflikte verschärft, bei denen es um Strategien und um die Macht ging und die vor allem in der Gründung neuer Gewerkschaften (SUD, PSU) zum Ausdruck kamen. Ebenso wie die Gewerkschaftsbewegung, die verjüngt und gespalten zugleich ist, öffnet sich der Rest der sozialen Bewegungen immer mehr den neuen Realitäten, leidet aber gleichzeitig unter Zersplitterung. Als gemeinsamer Nenner bleibt für sie die Neubelebung der Demokratie.
Fast überall in Frankreich gibt es Gruppen aktiver Bürger, die oft von vor Ort gewonnenen Erfahrungen ausgehen. Sie greifen in das politische Geschehen ein, vor allem auf Gemeindeebene, und haben zusammen mit den Vereinigungen, die spezielle Ziele verfolgen, einen Freiraum für Reflexion und kollektive Diskussion geschaffen. Landesweit agierende Vereinigungen haben viele Initiativen gestartet mit dem Ziel, der politischen Diskussion wieder einen Sinn zu geben. Eine Koordination in Form eines Netzwerks zeichnet sich ab.5 So werden allmählich die Grundlinien eines neuen staatsbürgerlichen Selbstverständnisses sichtbar, das mehr fordert und der Politik weniger vertraut, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Das ist bei der Bürgerrevolte gegen das Debré-Gesetz im April 1997 ebenso deutlich geworden wie bei der Mobilisierung gegen die extreme Rechte.
Die Sprache zurückerobern, aktiv gegen das Inakzeptable, vor allem gegen die vielbeschriebene „Spaltung der Gesellschaft“, vorgehen, Konflikten mit einem Mehr an gemeinsamer Beratung und weniger Hierarchie begegnen – in diesem Geiste tritt man heute für Veränderung ein. Werden die linken Parteien in der Lage sein, diesen Akteuren nicht nur zuzuhören, sondern sie auch zu verstehen? Die ersten Schritte der Regierung Jospin haben Erwartungen geweckt und sicherlich den zu Anfang reichlich vorhandenen Pessimismus ein wenig gedämpft. Aber die Zweifel, ja, das Mißtrauen, die sich in den letzten Jahren angesammelt haben, bestehen weiter. In einem solchen Kontext können Ausweich- und Abschwächungsmanöver schlimme politische Konsequenzen haben, da heute allen klargeworden ist, daß dringender Handlungsbedarf besteht.
dt. Christian Voigt
* Sekretär der Vereinigung für Selbstverwaltung, lokale Initiativen und eine soziale Wirtschaft (Ailes), Leiter der Initiativen für ein Netzwerk aktiver Bürger (Icare).