17.10.1997

Kaukasische Pipelinenetze und politische Knotenpunkte

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Kaukasische Pipelinenetze und politische Knotenpunkte

RUSSLAND und Tschetschenien haben sich am 9. September 1997 vertraglich geeinigt, daß Erdöl aus Aserbaidschan künftig über den russischen Hafen Noworossijsk auf den Weltmarkt gelangen darf. Weitere Erdöltrassen, davon eine zu einem georgischen, eine andere zu einem türkischen Hafen, sind geplant. In der Kaukasusregion, Schauplatz zahlloser Konflikte, haben also die weitreichenden Hoffnungen auf Reichtum durch Öl zu einer relativen Ruhe beigetragen. Allerdings bleibt fraglich, ob das schwarze Gold eine verläßliche Grundlage für regionale Stabilität bilden kann. Es steht eine Menge auf dem Spiel, nicht nur für die Anrainerstaaten am Kaspischen und am Schwarzen Meer, sondern auch für Rußland und die Vereinigten Staaten.

Von VICKEN CHETERIAN *

Im Herzen Asiens, von der Schwarzmeerküste bis zur chinesischen Grenze, ist eine Art Grauzone entstanden. In den schwachen Staaten Transkaukasiens und Innerasiens, die zahllose Geschäftsleute, Diplomaten, Berater und vor allem Ölmagnaten mit der Aussicht auf Ruhm und schnellen Reichtum anlocken, ist ein heftiger Konkurrenzkampf im Gange. Die Objekte der Begierde sind das Erdöl im Kaspischen Meer, das Erdgas in Turkmenistan, die Baumwolle in Usbekistan, das Gold in Kirgisistan. Noch sind die Marktanteile und Einflußbereiche nicht genau abgesteckt und die Allianzen wechselhaft, was die Region noch instabiler macht. Die Konfrontation zwischen ausgreifenden westlichen und traditionellen russischen Interessen – von den Medien als das „große Spiel“ bezeichnet – erinnert an die Rivalitäten des 19. Jahrhunderts, als Großbritannien und das russische Zarenreich um die Vorherrschaft in Zentralasien kämpften.

Der transkaukasische Raum hat eine enorme geopolitische Bedeutung gewonnen.1 Die westlichen Firmen betrachten das Gebiet als Brücke zwischen Kaspischem Meer, Zentralasien und den Weltmeeren, die es ermöglicht, den Iran und Rußland zu umgehen. Für Moskau, das sich dem Expansionsdruck der Nato ausgesetzt sieht, ist die Region eines der Tore zum Nahen Osten und zugleich Schutzwall gegen die Ausbreitung westlichen oder türkischen Einflusses an seinen Grenzen nach Süden. Die Türkei und der Iran wiederum sind bestrebt, die neue historische Chance zu nutzen und ihren eigenen Machtbereich auszudehnen.

Können die astronomischen Summen, die für die Förderung und den Transport des Erdöls aus dem Kaspischen Meer aufgewendet werden, die materiellen Voraussetzungen für Stabilität und Zusammenarbeit in der Region schaffen? Die Staaten ohne direkten Zugang zu einem Exporthafen sind letztlich auf ihre Nachbarländer angewiesen, um ihre Rohstoffe zu den offenen Meeren zu transportieren. Die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft könnten den einzelnen Volkswirtschaften Chancen zur Veränderung eröffnen und vor allem dazu beitragen, die von den jüngsten Konflikten heimgesuchten Gebiete wieder aufzubauen. Bislang allerdings ist eher das Gegenteil der Fall: Die Polarisierung verstärkt sich, und zwar entlang der in den letzten Jahren entstandenen Bruchlinien, wobei die Kräfteverhältnisse zwischen den einzelnen Staaten zunehmend durch die wirtschaftlichen Entwicklungen bestimmt werden.

Die amerikanischen Ölkonzerne hatten ihr Interesse am Kaspischen Meer längst entdeckt, bevor das Außenministerium der USA eine kohärente Politik für diese Region formulierte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lag Washington vor allem daran, den Export des „türkischen Modells“ zu fördern und damit die Ausdehnung des iranischen Einflusses zu begrenzen. Allerdings zeigte sich rasch, daß der Einfluß Rußlands so schnell nicht zu reduzieren war, zumal Ankara überhaupt keine Lösungsvorschläge für die Probleme der neuen unabhängigen Republiken anbieten konnte. Über Erdölvertragsverhandlungen konnte Washington sein direktes Interesse an der Region zur Geltung bringen.

Die amerikanische Regierung betrachtet das Gebiet als ergänzenden Energielieferanten für den Fall, daß die Lieferungen aus dem Persischen Golf gefährdet sein sollten. Zugleich strebt sie danach, die ehemaligen russischen Sowjetrepubliken sowohl politisch als auch wirtschaftlich von Rußland zu lösen, um die Bildung einer Union unter der Führung Moskaus zu verhindern. Im Frühjahr 1997 schrieb der ehemalige US-Verteidigungsminister Weinberger: „Sollte es Moskau gelingen, die Oberherrschaft am Kaspischen Meer zu erlangen, so wäre dieser Sieg vielleicht bedeutsamer als die Nato-Erweiterung für den Westen.“2 Eine weitere Priorität der Amerikaner besteht darin, die Ausdehnung des iranischen Einflußbereichs zu verhindern. Als Gegengewicht zur proarmenischen Lobby entsteht in Washington mittlerweile eine proaserische Pressure-group, der mehrere ehemals hochrangige Regierungsvertreter angehören. Sie arbeiten als politische Lobbyisten und sind zugleich als Unternehmensberater für in Aserbaidschan engagierte amerikanische Erdölfirmen3 tätig, obgleich die Bestimmungen des Freedom Support Act von 1992 noch immer in Kraft sind, die eigentlich jede direkte amerikanische Hilfe an die Regierung in Aserbaidschan (wegen der aserischen Blockade gegen Armenien) untersagen.

So erscheint die amerikanische Politik als ein Flickenteppich, der sich zusammensetzt aus den traditionellen innenpolitischen Prioritäten – die den Kongreßmitgliedern nahelegen, ihre amerikanischen Wähler armenischer Herkunft zu hofieren, weshalb Armenien nach Israel den höchsten Pro-Kopf-Betrag an amerikanischer Hilfe bezieht – und den neuen außenpolitischen Imperativen, also einem wachsenden Engagement Washingtons im aserischen Ölgeschäft.

Moskaus Rivalen

AUCH die Europäische Union hat ihr Interesse an der Region verstärkt. Zwischen 1993 und 1995 ging ein Drittel ihrer humanitären Hilfe in die drei transkaukasischen Republiken. Die Union unterstützt auch das Traseca-Projekt für den Bau von Schiffs- und Eisenbahnverbindungen zwischen der georgischen Schwarzmeerküste und Zentralasien. Doch wie so oft fehlt es den Europäern an einer schlüssigen politischen Konzeption. Das deutsche Engagement in Georgien geht vor allem auf das Engagement des damaligen sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse bei der deutschen Vereinigung zurück. Frankreich fühlt sich wegen seiner großen armenischen Gemeinde eher zu Erewan hingezogen. Großbritannien (und British Petroleum) wiederum setzt vor allem auf Aserbaidschan. Kurioserweise sind die heutigen unterschiedlichen Interessen der europäischen Länder ein Spiegelbild der Situation zwischen 1918 und 1920, als die drei transkaukasischen Staaten kurzfristig unabhängig waren.

Doch trotz ihrer starken wirtschaftlichen Präsenz spielen die europäischen Staaten bei strategischen Entscheidungen in Energiefragen keinerlei Rolle. So wird in Washington entschieden, daß der Iran als Transitland für eine der „möglichen“ Ölpipelines ausscheidet, obwohl damit eine der kürzesten und sichersten Strecken entfällt. Hingegen befürwortet das Weiße Haus den Erdöltransport von Baku über den russischen Hafen Noworossijsk, die entsprechende Pipeline soll noch vor Ende des Jahres funktionieren. Aber die US-Regierung tritt auch für eine alternative Trasse über den georgischen Hafen von Supsa ein, die bis Ende 1998 fertig sein soll. Schließlich unterstützt sie auf längere Sicht auch – aus ökologischen wie vor allem aus strategischen Gründen – eine Verbindung zwischen dem Kaspischen Meer und dem türkischen Hafen Ceyhan (siehe auch den nebenstehenden Artikel „Eldorado oder Fata Morgana?“).

Eine entscheidende Rolle spielte das Erdöl im Tschetschenien-Konflikt – als Auslöser sowohl für den Beginn als auch für das Ende der Auseinandersetzungen. Als die russische Armee im Dezember 1994 auf Grosny vorrückte, wollte sie damit demonstrieren, daß Rußland die einzigen funktionierenden Pipelines kontrollierte, über die das kaspische Erdöl exportiert werden konnte. Zugleich sollte damit Moskaus Position in den laufenden Verhandlungen über Erdölverträge gestärkt werden. Im August 1996 wiederum mußte dieser „begrenzte Konflikt“ beendet werden, damit die Streckenführung Baku–Noworossijsk nicht aus dem „großen Spiel“ ausscheidet. Allerdings ist der Einfluß Moskaus in der Kaukasusregion durch die Demütigung in Tschetschenien, den zunehmenden Machtverlust in Dagestan und die wachsenden westlichen Interessen in Aserbaidschan deutlich zurückgegangen. Die russische Führung ist sich sehr wohl bewußt, daß ihre schwindende Macht in Transkaukasien die Formierung oppositioneller Kräfte in Tschetschenien wie auch in anderen „autonomen Republiken“ des nördlichen Kaukasus begünstigen könnte.

Der Energiesektor ist die tragende Säule der russischen Konzeption einer verstärkten Integration – noch über die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten hinaus –, von der man in Moskau träumt. Rußland ist nicht nur der wichtigste Erdöl- und Erdgasproduzent, auch die Erdölexporte Kasachstans und Turkmenistans in die Ukraine oder nach Georgien laufen über russisches Staatsgebiet. Kiew muß 90 Prozent seines Erdöl- und 80 Prozent seines Erdgasbedarfs importieren, und Rußland ist sein wichtigster Lieferant.4 Direkte Exporte aus der kaspischen Region in die Ukraine oder in andere GUS- Länder würden deren Abhängigkeit von Rußland verringern.

Der Energiesektor ist für die russische Wirtschaft wie für die Herausbildung ihrer Eliten von herausragender Bedeutung. Gasprom, der Erdgas-Gigant, ist der reichste Konzern und für den Staat der wichtigste Devisenbringer. Das erklärt auch die Beunruhigung Moskaus über die massiven westlichen Investitionen in die Exploration und Förderung der Ölvorkommen im Kaspischen Meer. Denn dadurch könnten im Laufe der Jahre ernsthafte Rivalen entlang der Südgrenzen Rußlands heranwachsen. Vor diesem Hintergrund ist die derzeitige Diskussion im Kreml zu sehen: Soll man die kostspieligen Militärbasen in Georgien und Armenien aufrechterhalten, obwohl der russischen Armee die Finanzmittel ausgehen?

Mit der Änderung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa, die Moskau im Mai 1977 durchsetzen konnte, ist es Rußland gelungen, die Präsenz von zusätzlichen bewaffneten Streitkräften im Kaukasus sowie in der Region von Sankt Petersburg zu „legalisieren“ – ein deutliches Zeichen dafür, daß man sich keineswegs aus Transkaukasien zurückziehen will. Doch wie kann Moskau seinen Einfluß vergrößern? Der Kreml kann die Projekte westlicher Firmen und der transkaukasischen Staaten zwar behindern, doch hat er keinerlei Vorschläge für ein wirtschaftliches und politisches System unter seiner Führung entwickelt.

Trotz bester Voraussetzungen ist es der Türkei bislang nicht gelungen, eine bedeutende Rolle im Gebiet am Kaspischen Meer zu spielen. Höchste Priorität hatte für Ankara die am nächsten gelegene turksprachige Republik: Aserbaidschan, das Tor zu Zentralasien. Bisher allerdings ohne greifbare Ergebnisse. Im Konflikt um Berg-Karabach hat die Türkei immerhin für Baku Partei ergriffen und Aserbaidschan nicht nur diplomatisch unterstützt, sondern auch durch Waffenlieferungen und militärische Ausbildungshilfe. Nach dem Staatsstreich gegen den protürkischen Präsidenten Abulfas Eltschibej, der im Juni 1993 durch das ehemalige Politbüro-Mitglied der Kommunistischen Partei Rußlands, Gaidar Alijew, ersetzt wurde, haben sich die Beziehungen zwischen den beiden Hauptstädten jedoch verschlechtert. Bei einem Besuch in Ankara äußerte sich Alijew kürzlich unzufrieden über die geringe türkische Wirtschaftshilfe. Er beschuldigte sogar einige seiner Gesprächspartner, hinter dem gescheiterten Putschversuch gegen ihn im Mai 1995 zu stehen.5

Bislang hat sich die Türkei um Georgien kaum bemüht, obwohl dieses Land für die Pipeline-Projekte von großer Bedeutung ist. Auch im Verhältnis zu Erewan hat Ankara etliche Gelegenheiten für verbesserte Beziehungen verstreichen lassen. Dabei war Armenien bei Erlangung der Unabhängigkeit bedingungslos zur Aufnahme normaler Beziehungen mit dem Nachbarland bereit, ohne von Ankara zu verlangen, die Verantwortung für den Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg anzuerkennen. Dennoch hat die Türkei stets abgelehnt, diplomatische oder auch nur wirtschaftliche Verbindungen zu knüpfen. Ebenso wie die Regierung in Baku verhängte sie eine Blockade gegen Armenien und forderte den „Rückzug seiner Truppen aus Karabach“.

Die Türkei kann in Transkaukasien und darüber hinaus schwerlich eine geopolitische Rolle spielen und dabei den Russen Konkurrenz machen, solange sich ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Rußland weit besser entwickeln als zu den turksprachigen Republiken der ehemaligen Sowjetunion. 1995 belief sich der Handel zwischen Ankara und Moskau auf 3,5 Milliarden Dollar oder 6 Prozent des gesamten türkischen Außenhandels, und türkische Unternehmen hatten mit Rußland Verträge im Wert von mehr als 10 Milliarden Dollar abgeschlossen.6

Der Iran hat mit seinen nördlichen Nachbarn Verhandlungen auf einer pragmatischen, nichtideologischen Ebene aufgenommen. Damit gelang es der Islamischen Republik, dem wichtigsten Handelspartner Armeniens wie Aserbaidschans, die Mauer zu durchbrechen, mit der die Vereinigten Staaten sie zu isolieren versuchten. Turkmenistan hat Verträge über Erdgaslieferungen in den Nordosten des Iran unterzeichnet, der Iran wird seinerseits 8 Milliarden Kubikmeter Erdgas in die Türkei exportieren. Die 287 Kilometer lange Pipeline nach Turkmenistan, die bis Ende dieses Jahres fertiggestellt sein soll, wird Teheran 160 Millionen Dollar kosten. Zudem hat der Iran Eisenbahnstrecken gebaut, die das eigene Schienennetz über Turkmenistan mit ganz Zentralasien verbinden; die letzten Abschnitte wurden im März 1996 fertig.7

Bedrängt von den Vereinigten Staaten, hat Teheran auch die Allianz mit Rußland gesucht, aus dessen Sicht die Islamische Republik die geographisch günstigste Lösung bietet, um die Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres aus ihrer Enklavensituation zu befreien. Allerdings könnte sich die geopolitische Lage in der Region völlig verändern, wenn zwischen Washington und Teheran ein Dialog zustande käme, wie es verschiedene einflußreiche Politiker der Vereinigten Staaten empfehlen.8 Immerhin hatte Washington keinen Einwand dagegen, daß Turkmenistan und die Türkei einen Vertrag in Höhe von 1,6 Milliarden Dollar über den Bau einer 3200 Kilometer langen Pipeline abgeschlossen haben, die durch iranisches Gebiet verläuft. Dies könnte man als erstes amerikanisches Zeichen des guten Willens gegenüber dem iranischen Präsidenten Mohammad Chatami ansehen.

Noch vor wenigen Jahren wurden die Bewohner des Kaukasus von den westlichen Medien als „primitiv“ und die neuen Republiken als „zerrüttet“ qualifiziert. Seit zwei Jahren jedoch präsentieren sie Aserbaidschan als „neues Kuwait“, loben die Stabilisierung in Georgien und die Wirtschaftsreformen in Armenien. Die Erdölprojekte, vorneweg die Pipelines, werden als Chance zu einem Eldorado wahrgenommen, das die Landschaft des Kaukasus verwandeln wird. Dennoch wurden vier kaukasische Staaten, die sich für autonom erklärt haben, international nicht anerkannt, obwohl sie de facto unabhängig sind. Man kann sich schwerlich vorstellen, daß Berg-Karabach, Abchasien, Südossetien und Tschetschenien bereit sind, auf die hart erkämpfte Autonomie zu verzichten – und ebensowenig, daß Aserbaidschan, Georgien oder Rußland gewillt sind, den Verlust dieser Gebiete zu akzeptieren.9 In dieser unklaren Situation zwischen Krieg und Frieden folgt der wirtschaftliche Druck der inneren Logik der Konflikte. Die Erdölfrage ist daher auch oder sogar vorwiegend unter politischen Aspekten zu betrachten.

Ein Geflecht von Allianzen

BEI seinen jüngsten Besuchen in Moskau und Washington – den ersten in beiden Ländern – standen für Präsident Gaidar Alijew zwei Themen im Vordergrund: das Erdöl im Kaspischen Meer und der Konflikt um Berg-Karabach. In den Vereinigten Staaten unterzeichnete er mit US-Unternehmen Verträge in Höhe von 10 Milliarden Dollar, in Rußland sprach er mit Verteidigungsminister Igor Sergejew über rechtliche Probleme der russischen Stationierung von Frühwarnsystemen in Gaballa, ohne daß es jedoch zu einem Vertragsabschluß gekommen wäre. Die vierhundert Spezialisten in Gaballa sind die letzten verbliebenen Vertreter des russischen Militärs in Aserbaidschan. Präsident Alijew warf Moskau vor, Armenien mit Waffen zu versorgen und die aserbaidschanischen Dissidenten nicht nach Baku ausgeliefert zu haben, wie noch zu Zeiten des ehemaligen Präsidenten Ajas Mutalibow.

Mit dieser „Erdöldiplomatie“ hatte der aserbaidschanische Präsident Alijew beachtliche Erfolge, denn Vertragsabschlüsse mit den wichtigsten interessierten Mächten haben den Einfluß seines Landes vergrößert. Bis zur Unterzeichnung des ersten Vertrages in Baku im Jahre 1994 war Aserbaidschan sowohl von Europa als auch von den Vereinigten Staaten ignoriert worden. Inzwischen hat sich das Land ehrgeizige Ziele gesetzt: Mit den Petrodollars will man seine wirtschaftliche Unabhängigkeit absichern, man will auf Distanz zu Moskau gehen, und man will das internationale Interesse so stark auf sich lenken, daß Berg-Karabach zurückgewonnen werden kann – durch Verhandlungen oder mit Waffengewalt.

Wird Aserbaidschan diese Ziele erreichen? Bevor Alijew das Präsidentenamt übernahm, war das Land von Instabilität und ständigem Machtwechsel gezeichnet. Alijew regiert mit „eiserner Hand“ und verspricht zugleich künftigen Wohlstand – möglicherweise läßt sich das Land auf diesem Wege stabilisieren. Allerdings dürften die Einnahmen aus dem Erdölgeschäft erst in zehn bis fünfzehn Jahren die gewünschte Wirkung zeigen, wenn die volle Förderleistung erreicht ist. Wird man die Hoffnung der Bevölkerung auf eine „bessere Zukunft“ so lange aufrechterhalten können, wenn ein Drittel der Arbeitskräfte keine Beschäftigung hat und der durchschnittliche Monatslohn unter 30 Dollar liegt? Hinzu kommt, daß der Präsident bereits 74 Jahre alt ist; die meisten in Baku akkreditierten Diplomaten erwarten einen heftigen Kampf um seine Nachfolge.

Im Gegensatz zu Baku ist Erewan der große Verlierer im Rahmen der geopolitischen Veränderungen. Armenien steht unter zunehmendem internationalem Druck, die territoriale Integrität Aserbaidschans anzuerkennen und damit auf Berg-Karabach zu verzichten. Genauer gesagt: Das Land soll auf den Kompromiß der Diplomaten aus den Vereinigten Staaten, Frankreich und Rußland eingehen, die den Vorsitz in der Gruppe von Minsk in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) innehaben und in diesem Konflikt vermitteln sollen. Ihre Empfehlung lautet, Berg-Karabach solle weiterhin zu Aserbaidschan gehören, jedoch ein eigenes Wirtschaftssystem und eigene Polizeikräfte behalten. Der Korridor von Latschin, der Berg-Karabach mit Armenien verbindet, soll unter internationaler Kontrolle bleiben. „Aserbaidschan erklärt, Karabach die größtmögliche Autonomie zugestehen zu wollen“, kommentierte im letzten Frühjahr der armenische Präsidentenberater Jirayr Libaridjan. „Wir haben unsere Gesprächspartner gebeten, schriftlich festzuhalten, was sie darunter verstehen, doch haben wir auch ein Jahr später noch keine Antwort erhalten.“

Die Dynamik der armenischen Innenpolitik läßt allerdings kaum erwarten, daß die Konzessionsbereitschaft zunehmen wird. Nach den Wahlen vom September 1996 hat die Opposition den Sieg von Präsident Lewon Ter-Petrosjan angefochten, so daß es zu Unruhen kam, die von der Armee niedergeschlagen wurden. Um sich wieder Legitimität im eigenen Lande zu verschaffen, ernannte er den Präsidenten von Karabach, Robert Kotscharjan, zum armenischen Premierminister. Für die Armenische Nationale Bewegung, die derzeit an der Macht ist, ist eine harte Haltung in der Berg-Karabach-Frage fast ihr einziger politischer Existenznachweis. Und die beiden Institutionen, die dem Regime das Überleben sichern, nämlich die Politiker von Berg-Karabach und die Armee, dürften den vom Westen vorgeschlagenen Kompromiß kaum akzeptieren. So hat der armenische Verteidigungsminister Vasgen Sarkisjan erklärt: „Keinem Staat wird es gelingen, die Interessen von Berg-Karabach den Profiten aus dem Erdölgeschäft unterzuordnen.“10

Auch für Georgien ist mit dem schwarzen Gold ein hoher geopolitischer Einsatz verbunden. Zwar wird der Transit des Erdöls durch georgisches Staatsgebiet keine nennenswerten Einkünfte bringen11 , doch hofft man in Tiflis, das Vertrauen des Westens zu gewinnen und damit den Zustrom ausländischer Investitionen beschleunigen zu können. Das wirtschaftliche Interesse, so kalkuliert man, könnte auch ein politisches Interesse nach sich ziehen, das ein Gegengewicht zur traditionellen russischen Hegemonie bilden würde. Präsident Eduard Schewardnadse wird allerdings von der nationalistischen Opposition und von Flüchtlingsgruppen gedrängt, Abchasien entweder auf diplomatischem Wege oder mit Gewalt zurückzuerobern. Nach Georgi Gogsadse, einem Kenner der politischen Szene in Tiflis, „beruhen die politischen Parteien hier nicht auf sozioökonomischen Interessen. Nur über die nationale Frage ist es möglich, die eigene Popularität zu erhöhen.“

„Ohne Rücksicht auf die Verhandlungen droht uns die georgische Führung weiterhin mit einer neuen Invasion“, erklärt der abchasische Außenminister Sergej Shamba. Der selbsternannte abchasische Präsident Wladislaw Ardzinba schlug ein ähnliches Abkommen wie zwischen Rußland und Tschetschenien vor: Die Diskussion um den rechtlichen Status von Abchasien sollte für einige Jahre vertagt werden. In dieser Zeit könnten sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Seiten normalisieren. Diese Idee hat Tiflis abgelehnt.

Unterdessen verstärkt eine Guerillagruppe mit der Bezeichnung „Weiße Legion“ seit einem Jahr ihre Angriffe gegen Ziele in Abchasien und gegen die GUS- Friedenstruppe. In Tiflis heißt es von offizieller Seite, die Gruppe bestehe aus Georgiern, die aus Abchasien vertrieben wurden. Von abchasischer Seite heißt es dagegen, hinter der bewaffneten Truppe stehe der georgische Geheimdienst. In Georgien wurden im Laufe des Sommers die Forderungen lauter, die Kräfte aus Moskau sollten durch „Blauhelme“ der Vereinten Nationen ersetzt werden. Ein solcher Rückzug könnte jedoch zur Konfrontation zwischen georgischen und abchasischen Kräften führen.

Der russische Außenminister Jewgeni Primakow ist am 14. August 1997 zusammen mit dem abchasischen Führer Wladislaw Ardzinba überraschend nach Tiflis gereist. Zwar haben Schewardnadse und Ardzinba den Kern der Frage, nämlich den politischen Status Abchasiens und die Rückkehr der Flüchtlinge, nicht angeschnitten, versprachen jedoch, nach einer friedlichen Lösung des Konflikts zu suchen. Noch ist offen, ob es sich dabei wirklich um ein neues Kapitel in der Geschichte der Beziehungen zwischen Georgien und Abchasien oder nur um eine spektakuläre Geste Primakows handelt, um die nach wie vor maßgebliche Rolle Rußlands in der Region herauszustreichen.

Mit dem Ende des Krieges in Tschetschenien hat der Kaukasus die außergewöhnliche Chance einer relativen Beruhigung erhalten. Fürs erste hat die Diplomatie die Gewalt als Mittel zur Beilegung der Differenzen abgelöst. Selbst wenn dies das Ende der ethnischen und territorialen Konflikte bedeuten sollte, ist damit noch keineswegs eine Ära dauerhaften Friedens ausgebrochen. Die relative Verbesserung der Lebensbedingungen in Armenien, in Aserbaidschan und in Georgien ist bislang nicht auf den massiven Zustrom ausländischer Investitionen, sondern auf die Beendigung des Krieges zurückzuführen. Die politischen Führer in Transkaukasien sehen das Erdöl im übrigen nicht in erster Linie als Grundlage für den Wohlstand in der Region, sondern als eine Waffe. Denn in ihren Vorstellungen hängt die Sicherheit nicht von einem stabilen System in diesem Gebiet ab, sondern von ausländischen Garantien.

Noch nie trugen die ausländischen Mächte eine so große Verantwortung für die Beilegung des Konflikts im Kaukasus. Die internationalen Vermittler haben großen Wert auf das Prinzip der territorialen Integrität der Staaten gelegt und damit die separatistischen Bewegungen in Berg-Karabach, in Abchasien und in Tschetschenien gegen sich aufgebracht, die auf einem anderen Prinzip beharren: der Selbstbestimmung der nationalen Gruppen. Schon Stalin hatte begriffen, daß „halbe Lösungen“ das beste Mittel sind, um Spannungen fortbestehen und den Kaukasus im geeigneten Moment explodieren zu lassen. Die Bildung neuer unabhängiger Staaten erfolgte zu Lasten anderer Minderheitengruppen, wie der Osseten oder der Lesgier. Doch kann man sich kaum vorstellen, daß die Großmächte, deren Interesse am Kaukasus auf das Erdöl konzentriert ist, solchen „Kleinigkeiten“ genügend Aufmerksamkeit schenken.

Ein weiterer beunruhigender Aspekt ist die zunehmende Präsenz militärischer Kräfte in der Region. In diesem Jahr kam es in Moskau zum Skandal, weil Rußland zwischen 1992 und 1996 Waffen im Wert von 1 Milliarde Dollar nach Armenien geliefert haben soll. Erewan wies diese Behauptung zurück und erklärte, daß Aserbaidschan sich in der Ukraine und in der Türkei mit Panzern und Artillerie versorge. Georgien wiederum wünscht sich lieber heute als morgen, daß die Vereinigten Staaten die Armee des Landes wieder aufbauen. Der Iran hat entschieden der Idee widersprochen, im Falle eines Friedensabkommens „ausländische Truppen“ nach Berg-Karabach zu entsenden...

Nach der Beendigung der akuten Konflikte stellt sich der Kaukasus als ein erstaunliches Geflecht von Allianzen dar, wobei jeder den Schutz einer oder mehrerer Großmächte sucht. Als Nachzügler versuchen die Vereinigten Staaten, sich einen guten Platz zu sichern und gleichzeitig die russische Präsenz wie die iranischen Ansprüche zurückzudrängen. Die Russen verfolgen, noch unter dem Schock der Niederlage in Tschetschenien, mit eifersüchtigen Augen die Entwicklung in diesen Gebieten, die für sie noch nicht lange Ausland sind. Demnach ist zu erwarten, daß die nächste Etappe in der Geschichte des Kaukasus einerseits vom wachsenden Einfluß der Amerikaner, andererseits vom Widerstand der Russen geprägt sein wird.

dt. Erika Mursa

* Journalist

Fußnoten: 1 Vgl. Nur Dolay, „Rußland pokert mit kaukasischem Erdöl“, Le Monde diplomatique, Juli 1995. 2 International Herald Tribune, Zürich, 10./11. Mai 1997 3 Zu den Beratern zählen Zbigniew Brzezinski, Sonderberater von Präsident Jimmy Carter für Fragen der nationalen Sicherheit, John Sununu, ehemaliger Stabschef, Richard Cheney ehemaliger Verteidigungsminister, Brent Scowcroft, ehemaliger Sonderberater für Fragen der nationalen Sicherheit, James Baker, Außenminister unter George Bush, sowie Lloyd Bentsen, ehemaliger Finanzminister von Präsident Clinton. Vgl. International Herald Tribune, Zürich, 7. Juli 1997. 4 Jane's Intelligence Review, London, Januar 1997. 5 Turkish Daily News, Ankara, 8. Mai 1997; Sevodnia, Moskau, 12. Mai 1997. 6 Suha Bolukbasi, „Ankara's Baku-Centered Transcaucasia Policy: Has it failed?“, Middle East Journal, Washington, Band 51, Nr. 1, Winter 1997 7 Far Eastern Economic Review, Hongkong, 10. April 1997; International Herald Tribune, Zürich, 28. Juli 1997. 8 Zbigniew Brzezinski, Brent Scowcroft und Richard Murphy, „Differentiated Containment“, Foreign Affairs, New York, Mai/Juni 1997. 9 Vgl. „Kaukasus: Öl plus Nationalismus – eine leicht entflammbare Mischung“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996. 10 Armenpress, Erewan, 17. Juli 1997. 11 Die Einnahmen aus dem Pipeline-Geschäft in Georgien werden auf nur 8 Millionen Dollar jährlich geschätzt. Vgl. Transition, Prag, 14. Juni 1996.

Le Monde diplomatique vom 17.10.1997, von VICKEN CHETERIAN