17.10.1997

Vom Leben nach dem Erlöschen der Hochöfen

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Vom Leben nach dem Erlöschen der Hochöfen

Zwanzig Jahre nach der Krise im Stahlsektor stellt Lothringen ein Musterbeispiel dar: Nachdem die traditionelle Industrie verschwunden ist, wird nun japanische Billigware hergestellt. Wie andere europäische Regionen leidet auch Lothringen unter der „Jagd nach Vergünstigungen“. Die Unternehmen werden zunächst angezogen und verlegen ihren Standort ins Ausland, sobald die finanziellen Bedingungen dort günstiger sind. Daß dadurch das Leben vieler zerstört wird, spielt keine Rolle. Dabei war diese Region der Austragungsort einer der härtesten Schlachten der französischen Arbeiterbewegung, und die Erinnerung daran ist noch immer lebendig. Wenn neuerliche Firmenschließungen angekündigt werden, spornt diese Erinnerung zu neuem Widerstand an.

Von PIERRE RIMBERT und RAFAEL TRAPET *

ZWEI Hochöfen schicken in der Ferne noch für einige Monate ihre Rauchfahnen in den Himmel. Im Vordergrund erhebt sich eine riesige, leere Fabrikhalle einsam in einem sonst unbebauten Gelände, aus dem nur ein Wirrwarr von Stahlträgern herausragt. Ein paar Schweißer sind bei den letzten Demontagearbeiten an einer Walzstraße. In Rombas wie im übrigen Ornetal hat man die Fabriken zerlegt, um sie wie Autowracks einzuschmelzen und daraus neuen Stahl zu erzeugen. Oder um sie im Ausland – in China beispielsweise – wieder aufzubauen.

Dringt man tiefer in die Täler Lothringens vor, so mag man an den Bildern aus der glorreichen Stahlvergangenheit zweifeln: diesen Orten voller Rauch, in denen die Feuer der Stahlwerke den Nachthimmel rot färbten; die Industriearbeit, die die Städte prägte und ihnen ein Leben im Dreitakt der Schichtarbeit aufzwang; die Scharen wartender Arbeiter vor den Fabriktoren. Der Landschaft ist die Tragödie dieser Region anzusehen, die sich innerhalb eines Jahrhunderts von Weideland in ein industrielles Eldorado und schließlich wieder zurück in Weideland verwandelte. Vierundsiebzigtausend Stahlkocher, die vor dreißig Jahren noch Arbeit hatten, leben verstreut an diesen „Unorten“, um Thionville, Hagondange und Longwy, Überbleibsel einer vergangenen Epoche. Ein Graffiti von 1994 warnt: „Die Krähen werden auf dem Rücken fliegen, um das Elend der Arbeiter nicht sehen zu müssen.“

Lothringen mit seinen Zechen ist zu Beginn des Jahrhunderts als „Wiege“ der französischen Montanindustrie eine reiche Gegend. Das vor Ort vorhandene Erz wird mit einheimischer Kohle verhüttet und bildet den Löwenanteil der französischen Stahlproduktion. In wenigen Jahren wandeln sich die landwirtschaftlich genutzten Täler der Fensch, Orne und Chiers zu industriellem Schlaraffenland. Hochöfen und Walzwerke besetzen die Ortskerne und prägen die Stadtentwicklung. Die „Stahlbarone“ ziehen ausländische Arbeitskräfte heran, die sich in Zuwanderungswellen in den Tälern niederlassen, um in den Fabriken zu arbeiten. So entsteht der lothringische Spruch: „Woher kommt ein Lothringer? Ein Lothringer steigt aus dem Zug.“ Es ist die Zeit des industriellen Paternalismus der Hüttenbesitzer, denen buchstäblich alles gehört: Städte, Läden und Schulen. Die Arbeitsbedingungen sind hart und die Löhne mittelmäßig, aber diese Einzelheiten sind durch die verklärende Erinnerung an die Vollbeschäftigung verblaßt.

Ende der sechziger Jahre kommt die Expansion zum Stillstand. Die Stahlproduktion in Europa erzeugt Überschüsse, und die Montanunion erhält den Auftrag, die Produktionskapazitäten der Mitgliedsländer abzubauen. Der Mangel an Investitionen seitens der Stahlbarone, die ihr Vermögen wie Privatiers verwaltet haben, wirkt sich aus. Gleichzeitig mit den Hüttenschließungen folgt eine soziale Krise auf die andere. In den siebziger Jahren verschlimmert sich die Lage durch die Rezession sowie durch das Vordringen neuer Konkurrenten aus Südostasien und Brasilien auf den Markt. Durch eine schrittweise Schuldenübernahme gerät die Montanindustrie zunehmend unter die Kontrolle des Staates, der eine Rationalisierung der Produktion einleitet, die 1987 in der Fusion der beiden Firmen Usinor und Sacilor gipfelt.

Lothringen ist eine monoindustrielle, von Wasserwegen abgeschnittene Region mit geringwertigem Eisenerzvorkommen. Unter sozialen Gesichtspunkten kommt die angepeilte Lösung (Import von Erzen und Kohle aus dem Ausland) teuer. Außerdem leidet die Region unter der Entscheidung, Hüttenwerke auf dem Wasser zu bauen: In Fos-sur-Mer und Dünkirchen entstehen riesige Stahlwerke, deren Importrohstoffe direkt an die Produktionsstelle geliefert werden. Nur die modernsten lothringischen Produktionsstätten überleben. Man wendet sich der Erzeugung von hochwertigem Spezialstahl zu.

Mit voller Wucht wird die Region von Umstrukturierungen getroffen. Als die Linke 1981 an die Macht kommt, entsteht kurz wieder Hoffnung. Aber das politische Zurückweichen 1983 und das Inkrafttreten des fünften „Stahlplans“ im folgenden Jahr lassen Wut hochsteigen. Der Abbau der Industrieanlagen führt zu schweren Konflikten, in deren Folge es den Arbeitern gelingt, ein paar Sozialpläne auszuhandeln und etliche Kündigungen ohne Abfindung zu vermeiden, von denen in erster Linie die ausländischen Arbeitnehmer betroffen sind (siehe unten den Artikel über Longwy).

Supermärkte an Stelle von Fabrikgebäuden

ANFANG der neunziger Jahre wird Bilanz gezogen. Der massive Abbau der Belegschaften ist abgeschlossen – aber um welchen Preis? Lothringen hat zweihunderttausend Arbeitsplätze in der Montanindustrie verloren, davon fünfzigtausend im Bergbau. Zwar hat die Verstaatlichung von 1981 die Erhaltung einer rentablen Stahlindustrie erreicht, jedoch mußte der Staat andererseits 100 Milliarden Franc zur Finanzierung von vierzigtausend Vorruheständlern ausgeben. Jacques Chérèque, ein ehemaliges Führungsmitglied der Gewerkschaft Confédération démocratique du travail (CFDT), davor Präfekt mit Sonderaufgabe neue Industrialisierung, später Minister für Raumordnung und industrielle Umrüstung, verteidigt dennoch die Bilanz der sozialistischen Regierungen: „Durch die Vorruhestandsregelungen wurde auch auf die Notwendigkeit des Stellenabbaus und das Problem der Entlohnung der Arbeiter reagiert. Diese Maßnahmen waren eine offensive, außerordentliche soziale Investition, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt verbessert hat.“

Bernard Campanova, Delegierter der Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT), sieht das deutlich anders: „Frankreich erzeugt heute 17 bis 18 Millionen Tonnen Stahl und verbraucht 23 Millionen. Dieser importierte Stahl hätte in Frankreich produziert werden können. Für die Stahlindustrie waren durchaus Entwicklungsperspektiven vorhanden.“ Er selbst legt das Schwergewicht auf die nationale Produktion und stellt die Weitsicht der damaligen öffentlichen Entscheidungsträger in Frage, räumt allerdings auch ein: „Der Vorruhestand kam den Wünschen der Arbeiter entgegen in Anbetracht der Mühsal der Arbeit, ihres frühzeitigen Eintritts in die Fabrik (mit zwölf oder dreizehn Jahren) und der damaligen wöchentlichen Arbeitszeit (56 bis 57 Stunden).

Usinor pflegt heute das Image eines Konzerns, der mit hochqualifizierten Arbeitskräften hochwertigen Stahl fertigt. Er beschäftigt in Lothringen dreizehntausend Stahlarbeiter, fachlich geringer qualifizierte Arbeit wird an Subunternehmer weitervergeben. Dem 1995 privatisierten Konzern geht es gut. Die liberale Grundregel, Verluste zu vergesellschaften und Gewinne zu privatisieren, ist hier beispielhaft umgesetzt worden. Im letzten Jahr erarbeitete jeder Beschäftigte 25000 Franc Gewinn für die Aktionäre.

Durchfährt man die ehedem von der Stahlindustrie beherrschten Täler der Fensch, Orne und Mosel, fallen die städtebaulichen Strukturen ins Auge. Siedlungen, die von hektargroßen, schlammigen Flächen entzweigeschnitten werden, und andere, die sich kreisförmig um eine „Kunstlandschaft“ oder um ein Einkaufszentrum gruppieren. Die Landschaft spiegelt die wirtschaftliche Realität wider. In Überzahl vorhandene Supermärkte haben im Ortskern den Platz der Fabriken eingenommen. Man geht dorthin wie zum Krämer, um eine Baguette oder ein Sechserpack Milch zu kaufen. Die gigantischen Industriebauten, die die Struktur der Region prägten, sind mit Mann und Maus versunken.

Die 1986 begonnene Umstrukturierung der Industriebranche war brutal und offensichtlich übereilt. In weniger als zehn Jahren wurden 95 Prozent der alten Strukturen aufgelöst. Usinor übertrug einem darauf spezialisierten öffentlichen Unternehmen Bauten und Grundflächen zur Bewertung, „Entsorgung“ (Abriß, manchmal Oberflächensanierung) und Aufforstung im Schnellverfahren und zum abschließenden Weiterverkauf an Kommunen oder – seltener – Unternehmen.1 „Freizeiteinrichtungen“, „Rückkehr zur Natur“, „Gewerbe- und Handelsbetriebe“, „Grund- und Bodenreserve“2 : die zukünftige Bestimmung der Flächen steht oftmals beim Ende ihrer Rekultivierung noch nicht fest.

Warum dann also diese übereilte Homogenisierung der Landschaft? Jean- Pierre Masseret, ehemaliger Senator der Moselprovinz und Bürgermeister von Hayange (zur Zeit Staatssekretär für die Kriegsveteranen), hält folgende Erklärung bereit: „Wenn die Leute jeden Morgen mit dem Blick auf ihre stillstehenden, leeren und verrottenden Fabriken aufwachen, schlägt das auf die Moral, und jede Perspektive ist versperrt. Also schien es unter psychologischem Aspekt notwendig, denjenigen, die dorthin seit Generationen zur Arbeit gegangen waren, den Anblick von einigen dieser Industrieruinen zu ersparen. Heute fragt man sich, ob man beim Abreißen nicht zu weit gegangen ist. Es ist offensichtlich falsch, die Möglichkeit der Erhaltung von Industriedenkmälern nicht mitbedacht zu haben.“

Auf deutscher Seite ist es gelungen, die Spuren eines Jahrhunderts der Schwerarbeit zu erhalten. Das 1986 geschlossene Stahlwerk von Völklingen steht auf der Liste des Weltkulturerbes der Unesco und wurde der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In Hagondange hat die Arbeiterkultur den kürzeren gezogen gegenüber der Freizeitindustrie. Dort, wo sich die Fabrik erhob, wurde 1989 mit großem Pomp von den Herren Laurent Fabius und Jacques Delors der Vergnügungspark „Big Bang Schlümpfe“ eröffnet und von Delors als eines der „Signale des lothringischen Wiedererwachens“ begrüßt. Ein tolles „Signal“: Nachdem es Millionen öffentlicher Subventionen verschlungen hatte, wurde der Park an ein belgisches Unternehmen verhökert.

Die Arbeiteraristokratie lebt von der Stütze

TROTZ einer sanierten Landschaft3 sind die Lothringer eher düster gestimmt, obwohl die Arbeitslosenquote bei 11,5 Prozent einen Punkt unter dem Landesdurchschnitt liegt. Diese Angabe berücksichtigt allerdings die zwanzigtausend Vorruheständler im Stahlbereich ebenso wenig wie die zweiundfünfzigtausend Grenzpendler, die in der Region keinen Arbeitsplatz finden.4 Die Statistik wird zusätzlich durch die abnehmenden Bevölkerungszahlen geschönt.5 „Lothringen ist nicht nur landesweit völlig unattraktiv, sondern die Lothringer selbst kehren ihrer Region den Rücken und gehen dorthin, wo sie sich mehr Arbeitsstellen erhoffen“, räumt ein Mitglied des Regionalrats ein.

In Ermangelung von Zukunftsperspektiven sucht man Halt in der Vergangenheit. In den Cafés blitzen die Augen, wenn man auf die „glorreichen Zeiten“ zu sprechen kommt. Der Industriemoloch schien damals unanfechtbar, Stahlkocher und Bergarbeiter bildeten die Arbeiteraristokratie. Daher wollte bei Beginn der Umstrukturierung niemand an den Niedergang glauben. Einige Gewerkschaften wagten es trotz Vorahnungen nicht, den Mund aufzumachen: „Wer es wagte, von Schließung zu sprechen, war ein Verräter“, gesteht der CFDT-Delegierte Jean- Louis Maly ein. Doch kaum zwanzig Jahre später ist die Auflösung der Produktionsanlagen vollzogen. Trotz Revolten, Kämpfen und Märschen auf Paris bleibt einem Teil der „Arbeiteraristokratie“ nichts anderes übrig, als von der „Stütze“ zu leben. Dieser Absturz macht bitter und unendlich müde. 1995 war die Resonanz auf den November/Dezember-Streik im Departement Mosel – abgesehen vom SNCF-Eisenbahn-Verteilerzentrum in Woippy – eher schwach.

Angesichts der Stellenknappheit wenden sich nicht wenige Lothringer nach Norden, wo Frankreich an drei Länder grenzt. Jeden Morgen fahren Grenzgänger aus den maroden Becken von Longwy, Thionville, Forbach und Saargemünd nach Luxemburg, Deutschland und Belgien. Überqualifizierte Arbeiter, Ehefrauen und Kinder ehemaliger Stahlkocher üben in Banken oder Großbetrieben niedere, aber durchschnittlich um 30 Prozent besser als in Frankreich bezahlte Tätigkeiten aus. In aller Frühe treffen sie sich auf improvisierten Parkplätzen außerhalb der Ortschaften und versuchen, durch Fahrgemeinschaften den Mangel an öffentlichen Verkehrsangeboten auszugleichen. Jenseits der Grenzen aber beginnt das Manna spärlicher zu fließen, und eine ablehnende Haltung gegenüber den lothringischen „Fremdarbeitern“ macht sich breit. „Wir sind zu den Arabern der Luxemburger geworden“, klagt Frau Brandstaed, die dort als Putzfrau in einer Bank gearbeitet hat.

In Lothringen rührt diese Art von Vergleichen bekannte Saiten an. In der Nachkriegszeit verlief das Zusammenleben zwischen einer ansässigen Bevölkerung, die selbst aus aufeinanderfolgenden Einwanderungswellen hervorgegangen war, und den Neuankömmlingen ohne Zwischenfälle. Der Integrationsmechanismus lief wie geschmiert: Zuerst wurden die Fremdarbeiter in großen, unwirtlichen Unterkünften untergebracht, erarbeiteten sich dann im Verlauf einiger Jahre die Mittel für eigene Wohnungen und räumten sozusagen das Feld für die Nachfolgenden. Doch dieser Kreislauf ist blockiert. Die letzte nordafrikanische Einwanderungswelle bleibt als erstes Opfer des Stellenabbaus in den „provisorischen“ Städten stecken. Und diese Gebiete werden sehr rasch zur Zielscheibe fremdenfeindlicher Phantasien. „Es heißt, sie lassen in ihren Zimmern Gras wachsen, um die Ziegen zu füttern.“

Die Behörden werden verdächtigt, die Ausländer zu begünstigen. Jeder hat dazu ein Geschichtchen parat und nährt damit einen alltäglichen Rassismus, dessen Folgen spürbar werden: In einem Café sind Araber als Gäste unerwünscht; ein Pizzabäcker weigert sich, einen Maghrebiner einzustellen. Man hat vor allem die zweite Generation im Visier, die angeblich den jungen Franzosen „die Arbeit wegnimmt“. In Hayange gesteht die sozialistische Stadtverwaltung ihr Unvermögen ein: „Hier ist die Bevölkerung höchst gemischt: Italiener, Portugiesen, Spanier, Ukrainer, Polen – aus allen werden gute Franzosen. Und heute finden es diejenigen, die von anderswoher gekommen sind, merkwürdig, daß auch andere von anderswoher kommen“, klagt Jean-Pierre Masseret und weist darauf hin, daß seine Mitbürger bei den letzten Präsidentschaftswahlen dem Front National ebenso viele Stimmen gegeben haben wie der Sozialistischen Partei.

Umrüstung von alten und Ansiedlung von neuen Industriebetrieben haben eigentlich erst in der Mitte der achtziger Jahre eingesetzt. Die Aufgabe erwies sich als um so schwieriger, als die örtliche Infrastruktur allein auf die Stahlindustrie ausgerichtet war. Doch entwickelte man kein umfassendes Projekt; es ging nur um ein einziges Ziel: Stellenschaffung um jeden Preis. Doch das Resultat war ein chaotisches Durcheinander.

So ermunterte Usinor just entlassene Arbeiter zur Gründung von Kleinunternehmen. Viele ließen sich auf das Wagnis ein, ohne Vorkenntnisse und unter Einsatz ihrer gesamten Abfindung. Sodie, eine Tochtergesellschaft des mit der Umrüstung betrauten Konzerns, half bei Anträgen und gewährte Darlehen zu vorteilhaften Zinssätzen. In einem ungünstigen Wirtschaftsklima entstanden so immer mehr Cafés, Friseursalons, Videoclubs und Autowerkstätten, die durch die Schließungen von Fabriken direkt betroffen wurden. Die meisten verschwanden ebenso schnell, wie sie entstanden waren.

Gleichzeitig versuchte die Region, Unternehmen mit einem hohen Bedarf an Arbeitskraft heranzuziehen. Das Rezept war einfach: Man bot den Investoren staatliche und aus europäischen Fonds fließende Niederlassungshilfen an, machte ihnen ein Minimum an Auflagen, hielt die Gewerkschaften tunlichst im Abseits, besonders bei der Prüfung der Bewerbungsunterlagen. Der 1985 auf den Ruinen der Stahlindustrie entstandene Pôle européen de développement (PED) ist ein weites Gebiet, welches das Becken von Longwy mit Grenzstreifen in Belgien und Luxemburg zusammenfaßt, also drei von Umstrukturierungen betroffene Regionen. In diesem Raum erhalten industrielle Projekte bis zu 34 Prozent des Investitionsbetrags durch öffentliche Fördermittel. Doch die – nicht einmal hochgesteckten – Ziele in Sachen Arbeitsplatzschaffung werden nicht erreicht, obwohl die Projekte am Subventionstropf hängen: Auf französischer Seite sind innerhalb von zehn Jahren allein 40 Prozent der fünftausendfünfhundert vorgesehenen Arbeitsplätze entstanden.

„Im Rahmen des PED haben die örtlichen Verantwortlichen die Vorlagen der Unternehmen einzeln geprüft, ohne ein Gesamtprojekt vor Augen zu haben. In der Anlaufphase durfte man nicht wählerisch sein. Bald stellte sich heraus, daß vor allem ausländische, insbesondere asiatische Unternehmen aus dem Bereich der Metallurgie anklopften. Nachdem man zuvor unter der reinen Ausrichtung auf die Stahlindustrie gelitten hatte, überließ man sich nun der rein metallurgisch ausgerichteten Industrie“, klagt die CFDT-Delegierte von Longwy, Marilyn Quaglia.

Die Konversionsbemühungen nahmen gleichwohl zu. Es ließen sich Unternehmen nieder, die die Großzügigkeit der öffentlichen Hand und eine günstige geographische Lage ausnutzen wollten. Dank seines Zugangs zu einem Markt von siebzig Millionen Verbrauchern im Umkreis von 300 Kilometern ist Lothringen, was die Ansiedlung von ausländischen Unternehmen angeht, Spitzenreiter unter den französischen Regionen.6 Drei Industriebranchen kristallisieren sich heraus: die Automobilindustrie, die Elektronik und – in geringerem Umfang – die Kunststoffverarbeitung. Anfang der sechziger Jahre waren sie noch inexistent; jetzt beschäftigen sie nahezu vierzigtausend Lohnabhängige und expandieren weiter. Allerdings bleiben viele dieser teuer erkauften Arbeitsplätze ungesichert. Der ansonsten durch und durch liberal eingestellte Regionalrat muß eingestehen: „Lothringen hat zwar etliche Produktionsstätten, aber wenige Entscheidungszentren anwerben können, so daß es stärker dem Risiko von Unternehmensverlegungen ins Ausland und andernorts beschlossenen, auf die Globalisierung reagierenden Unternehmensstrategien ausgesetzt ist.“ Die Konkurrenz zwischen den einzelnen europäischen Regionen verringert die den Investoren als Gegenleistung für Prämien abverlangten Garantien im übrigen auf ein Mindestmaß.

Auf der Jagd nach Subventionen

DIE zweihundertdreiundvierzig Angestellten von JVC in Villiers-la-Montagne bekamen dies zu spüren. Der Konzern hatte 1988 für einen symbolischen Franc die Anlagen von Thomson erworben und für seine Niederlassung 30 Millionen Franc an öffentlichen Subventionen kassiert – bei einer Gesamtinvestition von 80 Millionen Franc. Acht Jahre später beschloß das Unternehmen, die Produktion nach Schottland zu verlagern, wo eine Niederlassungsprämie, um 30 Prozent niedrigere Lohnkosten und höhere Flexibilität winkten. Beim Umtrunk mit der Belegschaft erging sich die Unternehmensführung in „beruhigenden“ Parolen: „Sie werden sehen, auch in Schottland wird es schiefgehen, denn eigentlich will der Konzern ohnehin nach Malaysia.“7 Die Fertigungsstätte landet schließlich in China.

Die Jagd nach Subventionen erfordert eine Mobilität, in der einige multinationale Konzerne Meister sind: eine niedrige Investitionssumme pro geschaffenen Arbeitsplatz und leicht abbaubare Fabrikkonstruktionen aus Fertigteilen. Die eher niedrigpreisigen und schnellebigen Produkte werden, wenn sie in die Auslaufphase geraten, nicht durch neue ersetzt, da es keine Entwicklungszentren gibt, die Marktchancen einschätzen könnten. So wird die Fabrik geschlossen. Diese Erfahrung machen gerade die Arbeiter des Videogeräte-Werks von Panasonic – ebenso wie JVC eine Tochter des Matsushita- Konzerns. Unter dem Vorwand eines Technologiewandels hat die Unternehmensleitung die Produktion ins Ausland verlagert.

Wenn sie denn ihren Zusagen nachkommen, lassen die Unternehmen dennoch eine zeitlich begrenzte Ausnahmeregelung zur Selbstverständlichkeit werden: den Transfer öffentlicher Gelder in den Privatsektor im Austausch gegen die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Industriemagnaten begnügen sich nicht mehr damit, die Lohnarbeit auszunutzen, sondern verlangen dafür auch noch staatliche Hilfe. „Das Kräfteverhältnis ist günstig für die Investoren, denn wir sind die Bittsteller. Wir sind auf die Subventionssysteme angewiesen, damit sie kommen“, erklärt Gérard Longuet, der Vorsitzende des lothringischen Regionalrats, und gesteht so die Unzulänglichkeiten einer von ihm ansonsten mitgetragenen und verteidigten ultraliberalen Politik ein. Da sie sich allenthalben in Europa eingebürgert haben, reichen Niederlassungshilfen als Köder für Unternehmen nicht mehr aus. Und Longuet ist der Ansicht, die Arbeitnehmer selbst müßten ein Einsehen haben: „Die Globalisierung ist unvermeidlich, und man muß sich ihr anpassen. Unsere Lohnkosten sind im Vergleich zu unseren Nachbarn – insbesondere den Briten – viel zu hoch. Arbeit ist eine Ware wie jede andere: Ist sie zu teuer, kauft man sie nicht. Gehaltsverluste müssen durch wachsende Flexibilität aufgefangen werden.“

Für Jacques Chérèque, den Vorsitzenden einer Vereinigung zur Industrialisierungsförderung in den Becken von Pompey und Pont-à-Mousson, sind die Vergünstigungsjäger nur „einzelne schwarze Schafe“. Lieber spricht er von dem Netz an mittelständischen Handels- und Industrieunternehmen und den langfristigen Investitionen ausländischer Firmen in Lothringen. Einige Konzerne haben sich in der Tat zur Ansiedlung von umfassenderen und dauerhafteren Unternehmenszweigen entschlossen, ohne deswegen die Jagd auf die Finanzhilfen zu vernachlässigen.

So betreibt die südkoreanische Firma Daewoo in Lothringen ein Montagewerk für Fernsehgeräte, das von einer Bildröhrenfabrik beliefert wird, die sich ihrerseits bald bei einer konzerneigenen Glasherstellungsfirma eindecken kann.8 Diese kostenintensiven Investitionen (1,2 Millionen Franc pro Arbeitsplatz für das letztgenannte Werk) lassen auf eine gewisse Langlebigkeit schließen. Bis zum Jahr 2000 soll der um ein Forschungs- und Entwicklungszentrum erweiterte Komplex dreitausend Arbeitnehmer beschäftigen.

Vor Ort erfreut sich der Konzern trotz eingehaltener Stellenzusagen keines guten Rufes. Man kreidet ihm sein Gebaren im Sozialbereich, die angespannten Beziehungen zu den Gewerkschaften und die Arbeitsbedingungen an den Maschinen an, die lange Zeit den Sicherheitsnormen nicht entsprachen. Nach dem Tod eines Arbeiters wurde die Werkleitung der Fabrik von Mont-Saint-Martin am 1. Mai dieses Jahres wegen „fahrlässiger Tötung aufgrund vorsätzlicher Nichtbeachtung einer Sicherheitsvorschrift“ verurteilt und unter gerichtliche Aufsicht gestellt.9 Infolge von Vorfällen vor einigen Jahren stellt man dort auch keine „Jugendlichen aus Krisenvierteln“ mehr ein: Allen Warnungen der Gewerkschaften zum Trotz hatte die Unternehmensleitung seinerzeit den Großteil der Belegschaft dort rekrutiert und junge, der Disziplin abgeneigte Arbeiter unter die Aufsicht einer unzureichenden Anzahl von kaum älteren, unerfahrenen Werkmeistern gestellt.

Dort, wo es ihnen gelingt, Fuß zu fassen, treffen die Gewerkschaften auf ein sehr ungewohntes Verhältnis zwischen Unternehmensleitung und Arbeiterschaft. So weigert sich eine Dolmetscherin, dem Direktor einen Teil der Lohnverhandlungen zu übersetzen, aus Angst, ihn zu kränken. „Man hatte sie lediglich gebeten zu sagen, daß die Fabrik ohne motivierte Arbeiter weniger leistungsfähig sei“, erinnert sich Marilyn Quaglia. Bei Daewoo ist die kultische Verehrung des Chefs Pflichtprogramm. Letztes Jahr erhielten die lothringischen Angestellten des Konzerns zu Weihnachten die Selbsthagiographie des Konzerngründers Kim Woo-Choong mit dem bescheidenen Titel „Der Eliteunternehmer“. Auf diese Weise konnten sie die Wertschätzung, die die Unternehmensleitung ihnen entgegenbringt, anhand der Lektüre einer Parabel ermessen, in der ein Grundbesitzer und ein Landarbeiter ihren Auftritt haben. Der eine „ist kreativ, stellt sich Herausforderungen und platzt vor Willenskraft“, der andere „entzieht sich manchmal der Arbeit und fragt sich, warum er etwas tun muß, was andere nicht zu tun gezwungen sind“.

Hauptziel nach zehn Jahren industrieller Umstrukturierung bleibt, den Bestand an industriellen Arbeitsplätzen wieder aufzufüllen. „Heute neige ich zu der Annahme, daß die Stahlindustrie eine ganz normale Branche geworden ist“, wagt Jean-Louis Malys zu sagen. Die Stabilisierung der Belegschaftszahlen und die siegesfrohe Ankündigung, Sollac, eine Usinor-Tochter, werde dreihundertsiebzig Jugendliche einstellen, scheinen ihm recht zu geben. Trotzdem „setzt man den Abbau fort, wenn eine Vollzeitstelle neu besetzt werden soll“, erklärt Bernard Campanova. Und Chérèque meint, daß ohnehin „die Folgegeneration nach den Stahlarbeitern die Leidtragende ist. In dieser Region gibt es mehr Stellen, mehr neue Berufe, aber auch mehr Sozialhilfeempfänger.

Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bilanz weist mithin große Unterschiede auf. Einerseits hat die Technopole von Nancy mit ihren Universitätsausbildungen und Ingenieursschulen das Entstehen eines für Investoren günstigen Umfelds gefördert: Bezogen auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Anzahl von Projekten und die Höhe der Investitionen ist Lothringen die dynamischste der französischen Regionen. Die industriellen Strukturen sind jedoch nicht stabil, wie an den kürzlich angekündigten Schließungen der Werke von JVC, Panasonic und der Walzstraße von Longwy abzulesen ist. Da die mittelständischen Unternehmen schwach ausgeprägt sind, ist die Region weiterhin von der Strategie der großen Industriekonzerne abhängig, vor allem von der Automobilindustrie. So wurde die ambitionierteste Investition der letzten zwei Jahre (2,5 Milliarden Franc, zweitausend direkte und indirekte Arbeitsplätze) von Mercedes und Swatch für die Herstellung des Kleinwagens Smart getätigt. Schon tauchen aber auch Sorgen hinsichtlich der Absatzchancen eines solchen Autos auf. Zwanzigtausend Arbeitsplätze hängen direkt von einem Sektor ab, der einen wichtigen Absatzmarkt für die Stahlindustrie darstellt. „Usinor-Sacilor werden durch den Druck geschwächt werden, den künftige Umstrukturierungen im Automobilsektor auf die Preisgestaltung der Zulieferer ausüben“, betont Campanova.

In der letzten Stahlbastion „Fensch Vallée“ sorgt sich Masseret: „In Hayange verbleibt ein leider homogener Komplex aus Kokerei, Stahlwerk und Hochöfen. Kommt einer dieser Bestandteile zum Stillstand, folgen die anderen nach. Unsere Kokerei ist zwölf Jahre alt. Wenn sie eines Tages ausfällt, wird sie nicht erneuert werden. Dann müssen wir einen Schlußstrich unter die Stahlindustrie ziehen.“

Baron Ernest-Antoine Seillière de Laborde, Erbe der Hütteneigner und derzeitiger Vizepräsident des französischen Arbeitgeberverbands (CNPF), hat dies längst abgehakt. Seine Investitionen haben mit Stahl nichts mehr zu tun. Und in Anbetracht der 1,3 Milliarden Nettoergebnis aus der Holding, der er vorsitzt, zählt er wohl nicht zu den Opfern der Umstrukturierungen.

dt. Margrethe Schmeer

* Journalisten

Fußnoten: 1 Das „öffentliche“ Unternehmen kann mit diesem Grundvermögen nichts anfangen, es kostet Millionen an Steuergeldern und bringt nichts ein. 2 „Geschichte einer Mutation. Rekultivierung der Industriebranche“ (in französischer Sprache), Dokument de Établissement public de la métropole lorraine, Pont-à-Mousson, 1995 3 Von den 3500 Hektar Industriezone (Grund und Bauten) sind 3000 „entsorgt“ worden. 4 Auf weniger als eine Million Erwerbstätige, also 5,5 Prozent 5 Zwischen 1990 und 1995 hat Lothringen 21400 Einwohner, das heißt 1 Prozent der Bevölkerung, verloren, während diese im Landesdurchschnitt im gleichen Zeitraum um 2,6 Prozent zunahm. 6 In Lothringen gibt es 341 ausländische – davon 44 Prozent deutsche – Unternehmen mit 46000 Beschäftigten. 7 Turbulences, Longwy, Nr. 24, November/Dezember 1996. 8 Die in Mont-Saint-Martin (Meurthe-et-Moselle) gelegene Fabrik dürfte Ende 1997 in Produktion gehen und vor Ende des kommenden Jahres 600 Stellen schaffen.

9 Die Unternehmensleitung ist in Berufung gegangen mit dem Argument, das Urteil sei „in diplomatischer Hinsicht zu kritisieren“, insofern als „das Unternehmen zu den größten ausländischen Investoren in Frankreich gehört und Vertrauen nötig ist“.

Le Monde diplomatique vom 17.10.1997, von PIERRE RIMBERT und RAFAEL TRAPET