17.10.1997

Der lange Marsch der Frauen

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Der lange Marsch der Frauen

ALGERIEN und die Frauen, das ist eine lange Geschichte der Mißverständnisse. Während des Befreiungskampfes in den fünfziger und sechziger Jahren standen sie in vorderster Reihe; man rühmte die „Schwestern“ dafür, daß sie „wie Männer gekämpft“ hatten. Aber mit ihrer relativen Freiheit war es bald vorbei. Bereits 1972 wurden die Schotten wieder dicht gemacht: Im Familienrecht drohte die Bevormundung durch die Männer festgeschrieben zu werden. Erst nach massiven Protesten der Frauen rückte der Revolutionsrat zunächst von seinen Positionen ab. Seit Anfang der achtziger Jahre haben die Befürworter einer patriarchalischen Gesellschaft nun kräftige Unterstützung von seiten der islamistischen Bewegungen erhalten. Und die Auseinandersetzung ist blutig geworden. Malika berichtet.

Von BAYA GACEMI *

„Vor mir war meine Mutter, und nach mir kommen meine Töchter. Ich bin nur ein kurzer Übergang. Die Frauen meiner Generation glaubten, daß sie denen den Weg freigemacht hätten, die nach ihnen kommen. Wir haben uns getäuscht: In drei Generationen haben wir drei verschiedene Weltanschauungen erlebt.“

Malika ist weder enttäuscht noch resigniert, nur „ein bißchen ratlos“, wie sie es ausdrückt, vor allem seit vor nunmehr drei Jahren ihre älteste Tochter begann, sich ins Gebet zu vertiefen. „Ich weiß, daß es nicht nur eine dieser schwärmerischen Phasen ist, wie sie Jugendliche oft durchlaufen. Da steckt noch etwas anderes dahinter.“ Eines Tages hatte sie von ihrer Tochter zu hören bekommen: „Du hältst dich für eine echte Algerierin, aber du bist nichts weiter als die schlechte Kopie einer Europäerin.“ Seither versucht sie, das zu verstehen. Ihrer Meinung nach mußten die Frauen ihren eigenen Weg gehen, das Recht auf Ausbildung und Arbeit war die Voraussetzung für die vollständige Emanzipation. Den Schleier zu tragen, den Malika als „Symbol patriarchalischer Unterdrückung“ bezeichnet, kam natürlich nicht in Frage. Es kam im übrigen auch niemandem in den Sinn.

Nun sieht Malika, wie sich ihre Töchter entwickeln, und ihr wird klar, daß die Wirklichkeit anders ist als ihre Träume. „Ich habe die kulturellen Trägheitskräfte unterschätzt“, räumt sie ein, um dann auf eine der bizarren Folgen der Wirtschaftskrise für die Gesellschaft und vor allem für die Frauen zu verweisen: „Nachdem sie vom Staat nichts mehr zu erwarten hat, stellt sich die Bevölkerung gegen ihn und kritisiert seine Positionen, während sie sich zugleich an das einzige Gut klammert, das ihr ganz sicher bleibt – die althergebrachten Werte.“

Malika, eine lebhafte, sportlich wirkende Frau mit kurzen Haaren, arbeitet in einem Staatsbetrieb. Sie meint, im großen und ganzen habe sie sexuelle Diskriminierung im Beruf nicht erlebt, räumt jedoch ein, daß dabei sicherlich ihre Position als leitende Angestellte eine Rolle spielte sowie ihr energisches und selbstbewußtes Auftreten. Vor der Unabhängigkeit als Kind einer Unterschichtsfamilie geboren, findet sie heute, mit vierundvierzig, daß sie viel Glück gehabt und etwas aus ihrem Leben gemacht habe. Ihr Vater war Fabrikarbeiter, er konnte weder lesen noch schreiben, was ihn nicht hinderte, Gewerkschaftspolitik zu machen. Manche seiner Überzeugungen hält Malika in Ehren, von ihm hat sie ihre Art, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Malika ist geschieden, Mutter von zwei Töchtern im Alter von siebzehn und vierzehn Jahren, eine intelligente Frau, die sich anderen Menschen zuwenden kann. Dennoch macht sie sich den Vorwurf, die Entwicklung nicht bemerkt zu haben, die sich vor ihren Augen vollzog: „Meine Mutter, die Analphabetin war, setzte ihre ganze Hoffnung auf die Schule. Für sie war klar, daß es den Frauen durch die Bildung besser gehen würde ... und durch Boumedienne.“ Damals zweifelte niemand am Sinn der Geschichte, die zur vollständigen Befreiung der Frau führen würde.

Malika war zehn Jahre alt, als die Unabhängigkeit ausgerufen wurde. In ihrem Heimatort Skikda, einer kleinen Stadt an der ostalgerischen Küste, sah sie die Schiffe abfahren, voll mit pieds-noirs1 , und ihre Eltern sagten zu ihr: „Ihr, unsere Kinder, ihr werdet ihren Platz einnehmen. Jetzt gehört uns unser Land, und unsere Töchter werden es gemeinsam mit ihren Brüdern aufbauen.“

So einfach ging es dann natürlich doch nicht, aber insgesamt hat Malika gute Erinnerungen an jene Jahre. Sie wurde Ingenieurin im Fach Informatik, weil sie, wie alle Abiturienten damals, ein Stipendium bekam. Die Agrarrevolution war für sie eine Schule der Selbstlosigkeit und des freiwilligen Einsatzes. „Die Studenten mußten den analphabetischen Bauern zur Seite stehen. Wir waren mit ganzem Herzen bei der Sache... Und dann entstand bei den freiwilligen Einsätzen auf dem Land, im Eintreten für eine gemeinsame Sache, unter den Studenten, Jungen wie Mädchen, auch eine Gemeinschaft, wie wir sie sonst nicht erleben konnten.“ Auch die Eltern hatten gegen diese Formen der Gemeinsamkeit von Jungen und Mädchen nichts einzuwenden. „Das Erstaunlichste damals war die Haltung unserer Mütter. Sie waren ganz traditionell erzogen worden, aber ohne daß sie es bemerkten, hatte sich bei ihnen in sehr kurzer Zeit ein radikal anderes Bewußtsein entwickelt. Bei ihren Töchtern akzeptierten sie, was sie sich selbst niemals zugestanden hätten. Zu Hause allerdings gab es weiterhin eine Reihe von Tabus, die streng beachtet wurden.“

Malikas Mutter hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, wie die Frau der Zukunft aussehen sollte: unverschleiert, gebildet, berufstätig. Die allgemeine Schulpflicht würde es ermöglichen, Algerien auf europäischen Kurs zu bringen; mit Hilfe der Schule konnten die Mädchen es schaffen, sich vom Joch der Familie und der Last der Tradition zu befreien, sich zu emanzipieren und als Erwachsene ihr Leben selbst zu bestimmen. „Wenn ich heute höre, die Schulen seien die Keimzellen des Integrismus gewesen, dann bin ich doch ein bißchen ratlos.“

Schon damals gab es Anzeichen einer beunruhigenden Entwicklung, am deutlichsten in den zahlreichen harten Auseinandersetzungen um die Ausarbeitung eines Familiengesetzes. Aber in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit wurden noch die großen revolutionären Ideale beschworen, Gleichheit und Fortschritt – wer hätte damals geglaubt, daß man sich Sorgen machen müsse? Wie die meisten ihrer Freunde verfolgte Malika die sporadischen Debatten über die rechtliche Stellung der Frau nur mit halbem Ohr. Für sie waren die Forderungen der Traditionalisten nichts weiter als „unbedeutende Nebengefechte, während die Geschichte unaufhaltsam voranschritt“.

Die erste ernste Warnung gab es 1972. In diesem Jahr wurde dem Revolutionsrat, dem damals einzigen Führungsgremium, der Entwurf eines Familiengesetzes vorgelegt, der die Gebräuche einer zutiefst patriarchalisch bestimmten Gesellschaft bekräftigte und kodifizierte: Es folgte dem Prinzip der Vormundschaft des Mannes über die Frau, die als unmündig galt, von der Wiege bis zum Grab. So sollte zum Beispiel ein Ehevertrag nur zwischen dem Ehemann und dem Vormund der Ehefrau, also ihrem Vater, einem Onkel oder ihrem Bruder (selbst wenn er jünger war als sie) geschlossen werden können; gab es keine männlichen Verwandten, so sollte ein Richter sie vertreten. Im Falle der Scheidung hätte die Frau alles verloren, nicht nur das Wohnrecht, sondern auch die Vormundschaft über die Kinder, selbst wenn ihr diese zugesprochen worden waren... Der äußerst rückschrittliche Entwurf wäre beinahe angenommen worden. Nach einer Welle der Empörung ließ man von dem Vorhaben ab, das die traurige Lage, in der sich viele Frauen bereits befanden, gesetzlich festzuschreiben drohte.

Frauen an den Universitäten, Angestellte und Gewerkschafterinnen traten mit Nachdruck gegen das Projekt auf. Die Kampagne wurde organisiert von den mudschahidat, den Kämpferinnen aus dem Befreiungskrieg, die immer noch großes Ansehen genossen, und dem Algerischen Frauenverband (UNFA), der zur FLN gehörte, in dem jedoch damals kämpferische Kommunistinnen großen Einfluß besaßen. Zahlreiche Demonstrationen fanden statt, vor allem vor dem Regierungspalast. Die Parole lautete „Für volle Bürgerrechte!“, und außerdem erinnerten die Mudschahidat ihre einstigen Kampfgefährten daran, daß auch sie damals Waffen getragen und Opfer gebracht hatten. Allerdings vertrat die Mehrheit der mudschahidin den Standpunkt, daß nun, nach der Befreiung des Landes, die Frauen genausogut zu Hause bleiben, sich versorgen lassen und sich um die Kinder kümmern könnten.

Ein Parlament gab es nicht, doch den Revolutionsrat zum Einlenken zu bewegen erwies sich als nicht allzu schwierig. Dieses Gremium bezog schließlich seine Legitimität aus dem Befreiungskrieg und wollte es vermeiden, einen Teil der weiblichen Bevölkerung, und gar die Heldinnen des Krieges, gegen sich aufzubringen. Wie in früheren Jahren hob der Revolutionsrat immer wieder den Mut der „Schwestern“ hervor, die „wie Männer“ mit der Waffe in der Hand gekämpft hätten – einen Sitz in der nationalen Führung hatte ihnen das allerdings nicht eingebracht... Einstweilen widerstand der Revolutionsrat also den Vorstößen der Konservativen, aber im Laufe der Jahre verlor diese Haltung an Festigkeit, vor allem weil man für bestimmte Vorhaben (insbesondere die Landreform 1974) auf die Mitarbeit der Konservativen angewiesen war.

Patriarchalisches Familienrecht

ALS es 1975 zu den ersten Demonstrationen von Islamisten kam, war Malika noch Studentin. Sie schenkte diesen Ereignissen keine große Beachtung: „Uns konnten sie keine Angst machen, schließlich stemmten sie sich nur gegen den Gang der Geschichte.“ Ihre Mutter, immerhin eine fromme Frau, nahm die Sache ernster und zeigte sich beunruhigt. Ihr, die Analphabetin war und ihr ganzes Leben im Haus verbracht hatte, gefielen diese aggressiven jungen Leute nicht, die „uns in die Steinzeit zurückversetzen wollen“.

Erst zu Beginn der achtziger Jahre wurde der Druck so stark, daß man das Problem nicht mehr ignorieren konnte. Malika erinnert sich, wie die Islamisten im März 1980 ihren ersten großen Protestmarsch organisierten. Sie versammelten damals fünftausend Anhänger vor der Universität von Algier. Kurz darauf bildeten sich an den Universitäten die ersten feministischen Gruppen, was auch durch die politische Öffnung erleichtert wurde, die Präsident Schadli Bendschedid eingeleitet hatte. Aber trotz aller Bemühungen gelang es diesen Bewegungen nicht, außerhalb der Großstädte Fuß zu fassen. Sicherlich spielte dabei auch der Analphabetismus eine Rolle, der innerhalb eines Jahrzehnts wieder gewaltig zugenommen hat und inzwischen landesweit 40 Prozent der Bevölkerung betrifft.

Der eigentliche Schock kam vier Jahre später – 1984, als ein neues Familienrecht verabschiedet wurde. „All die besonders ungerechten Bestimmungen, die wir 1972 verhindert hatten, waren jetzt Gesetz geworden: Polygamie, Halbierung des Erbanspruchs der Frauen und vor allem die vollständige Unterwerfung der Frau unter ihren Vormund... Das stand in völligem Widerspruch zur Verfassung, die sehr weitreichende Gleichheitsrechte bietet.“ Für Malika war es ein schrecklicher Moment, aber sie versucht, der Sache etwas Positives abzugewinnen: „Wenigstens waren wir gezwungen, unsere Illusionen aufzugeben und einen klaren Kopf zu bekommen. Wir begriffen, daß der Kampf ganz unten anfangen mußte, daß wir Veränderungen nicht von den Machthabern, gleich welcher Couleur, erwarten durften. Auf die Basis, auf die Frauen selbst mußten wir unsere Hoffnung richten.“

Malika hatte sich geschworen, daß ihre Töchter Lamia und Nadia die Rechte und Freiheiten haben sollten, die ihr, trotz ihrer privilegierten Stellung, versagt geblieben waren – vor allem das Recht auf ein Privatleben. Daß ihre Töchter nicht mehr gezwungen sein sollten, zu Hause gegen die Familie und draußen gegen die Gesellschaft anzukämpfen, das war ihr tiefster Wunsch. Und es schien ihr selbstverständlich, daß ihre Kinder diese Erwartung teilen und ihr dafür dankbar sein würden.

Aber dann bekam sie von Lamia, der älteren Tochter – die Architektin werden will –, an den Kopf geworfen, ihre Vorstellungen seien „dekadent und antiislamisch“. Malika war tief getroffen und verwirrt. Mutter und Tochter schienen nicht mehr die gleiche Sprache zu sprechen. „Mama denkt, um modern zu sein, muß man so sein wie sie“, ereifert sich die Tochter. „Hat sie sich jemals gefragt, warum sie selbst nicht so sein will wie ihre Mutter? Und hat sie sich gefragt, was Modernität eigentlich ist?“

Ohne allzu große Überzeugung ist Malika weiterhin dabei, wenn wieder einmal irgendeine Aktion für die Rechte der Frauen gestartet wird. Im Februar dieses Jahres brachte die Organisation „Frauen in Verbindung“, die von der Journalistin Mina Zerrouk geleitet wird, eine Petition auf den Weg mit dem vorsichtigen Slogan „Eine Million Unterschriften für die Rechte der Frau in der Familie“. Aber obwohl der Aufruf jeden Tag in mehreren Zeitungen abgedruckt wurde, sieht es bislang nicht so aus, als käme die erhoffte Million zusammen...

Die Initiative bewirkte, daß die Frauensektion innerhalb der „Bewegung für eine Gesellschaft des Friedens“ (MSP) von Mahfoud Nahnah sofort versuchte dagegenzuhalten. Die Partei, die sich als gemäßigt islamistisch versteht und in ihrem Führungsrat einen Frauenanteil von 17 Prozent aufweist, hat eine Gegenkampagne angedroht: Drei Millionen Unterschriften dafür, „daß die algerischen Frauen ihre Würde als Musliminnen wiedererlangen...“ Inzwischen ist die MSP an der Regierung beteiligt und stellt zahlreiche Abgeordnete im Parlament; fast ein Drittel der Parlamentarier gehören der einen oder anderen islamistischen Gruppierung an. Damit ist klar, daß in der Frage des Familienrechts keine großen Veränderungen zu erwarten sind. Nachdem eindeutig die Konservativen die Oberhand gewonnen haben – zu denen auch einige Strömungen zu rechnen sind, die sich nicht ausdrücklich zum Islamismus bekennen –, wird keine Regierung das Risiko eingehen, mitten in der Krise, die das Land erschüttert, eine weitere Front zu eröffnen. Schon gar nicht eine Auseinandersetzung über die Frauenrechte, denn diese Frage gilt immer noch als zweitrangig.

Seit die politische Landschaft Algeriens von Gewalt geprägt ist, müssen alle anderen Fragen zurückstehen. Von dem Dutzend Parteien, die im Parlament vertreten sind, fordern im übrigen nur die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) und die Vereinigung für Kultur und Demokratie (RCD) eine vollständige Aufhebung der Familiengesetze.

Mit dem Schleier in die Moderne

ZWAR haben die Frauen auf der Ebene der Gesetzgebung noch nichts erreicht, aber in der Praxis sind doch einige erfolgreiche Vorstöße unternommen worden, die außerhalb des Landes kaum zur Kenntnis genommen wurden. Die Frauen haben sich Freiräume erobert, die ihnen vermutlich nicht mehr zu nehmen sind. Daß sie einer Arbeit nachgehen, ob im öffentlichen Raum oder zu Hause, wird nicht mehr als Ausnahme und Randphänomen betrachtet, es gilt inzwischen als normal. Ein kleines, aber deutliches Anzeichen dafür ist die wachsende Zahl von Cafés und Geschäften, die von (jungen und älteren) Frauen betrieben werden – das wäre noch vor fünf Jahren unvorstellbar gewesen.

Die zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zwingt immer mehr Frauen, sich Arbeit zu suchen. So ist ihr Beschäftigungsanteil seit 1987 von 8 Prozent auf fast 14 Prozent gestiegen. Fast ausnahmslos klagen sie jedoch nicht über die harte Belastung, sondern heben hervor, daß sie, ob Ehefrau oder unverheiratet, in ihren Familien an Geltung gewonnen haben. „Wir haben jetzt bei allen wichtigen Entscheidungen ein Wort mitzureden, schließlich sind oft wir diejenigen, die das Geld nach Hause bringen, das unsere Brüder, Väter und Ehemänner brauchen. Sie hängen auf der Straße herum und debattieren, während wir etwas tun. Wir sind jetzt viel weniger angreifbar.“ Aber gerade heute gilt, daß der Schein trügt. Anders als vor zwanzig Jahren macht es vielen arbeitenden Frauen nichts aus, den Schleier zu tragen. Sie tun es zumeist, um ihr Elend zu verbergen, um unerkannt über die Straße gehen zu können und nicht belästigt zu werden. Und das heißt nicht, daß sie sich nicht auch als „moderne“ Frauen ansehen.

„Man müßte endlich einmal klären, was ,modern‘ bedeuten soll“, sagt Lamia, die zur großen Erleichterung ihrer Mutter zur Zeit darauf verzichtet, einen Schleier zu tragen. Die Tochter meint dazu: „Daß ich jetzt diese Entscheidung getroffen habe, heißt noch lange nicht, daß ich aufgehört habe, nach Formen der Authentizität zu suchen.“ Wie alle in ihrem Alter leidet sie unter ihren vielen Widersprüchen, aber sie setzt sich offen damit auseinander. „Ich bin mir einfach nicht sicher, ob der Schleier die richtige Antwort ist. Eigentlich will ich nur vermeiden, daß meine Persönlichkeit sich einseitig entwickelt.“

Lamia wäre zur Wahl gegangen, wenn sie am 5. Juni dafür schon alt genug gewesen wäre. Für wen sie gestimmt hätte, weiß sie zwar nicht so genau, aber „jedenfalls weder für den MSP noch für Ennahda, die beiden islamistischen Parteien“. Warum? Einfach, weil sie allen Politikern mißtraut, „selbst wenn sie sich auf den Islam berufen“. „Der Islam ist eine Kultur, kein politisches Programm“, erklärt sie mit Nachdruck. „Wenn modern zu sein bedeuten soll, daß man seinen Platz in der Gesellschaft einnimmt, dann habe ich nichts dagegen. Aber im Unterschied zu meiner Mutter glaube ich, daß ich meine Persönlichkeit erst noch finden muß. Sie denkt, ich will ihr nur um jeden Preis widersprechen, aber das stimmt nicht. Ich suche meinen eigenen Weg, und ich bin mir sicher, daß ich ihn finden werde. Irgendwo zwischen ihren Vorstellungen und denen der Frauen, die alles genau so machen, wie es ihnen die islamistischen Führer vorschreiben. Für die ist das doch nur Politik.“

dt. Edgar Peinelt

* Journalistin, Algier

Fußnote: 1 Ein „pied-noir“ ist ein in Algerien aufgewachsener Franzose.

Le Monde diplomatique vom 17.10.1997, von BAYA GACEMI