17.10.1997

Dem Terror widerstehen

zurück

Dem Terror widerstehen

Im algerischen Bürgerkrieg werden die Fronten immer undeutlicher. Während manche Stimmen von einem baldigen Ende des seit 1992 dauernden Konflikts sprechen, ist die grundlegende Auseinandersetzung zwischen den Islamisten und der Ordnungsmacht inzwischen überlagert von nicht minder gewaltsamen Kämpfen innerhalb der feindlichen Lager. Die bewaffneten Islamisten haben sich gespalten: Die Anhänger der Islamischen Heilsfront (FIS), die in der Islamischen Armee des Heils organisiert sind, treten für eine politische Lösung des Konflikts ein und halten seit dem 1. Oktober einen Waffenstillstand. Die Anhänger der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) hingegen wollen eine Fortsetzung des Volkskriegs. Im Lager der Machthaber verschärfen sich die Gegensätze zwischen den Militärs, die für eine politische Verständigung mit den Islamisten eintreten, und jenen, die auf vollständiger Vernichtung des Gegners beharren. Angesichts dieser Spannungen sind wieder einmal Putschgerüchte im Umlauf.

Von BRUNO CALLIES DE SALIES *

SEIT dem Sommer dieses Jahres erlebt Algerien, genauer gesagt, das Kerngebiet des Landes, südlich der Hauptstadt und in ihren Außenbezirken, eine Welle von außerordentlich grausamen Bluttaten, die nicht näher bestimmten „islamistischen Gruppen“ zugeschrieben werden. Nächtliche Gemetzel mit Hieb- und Stichwaffen, durchschnittene Kehlen, immer neue Massaker. Es herrscht ein fiebriges Klima der Barbarei, und die Menschen fliehen verzweifelt aus den kleinen Ansiedlungen und abgelegenen Dörfern. Die Staatsmacht sieht dem in offensichtlicher Hilflosigkeit zu und bleibt erstaunlich untätig. In den Vorstädten von Algier herrscht das Grauen, und immer wieder kommt es zu Panikreaktionen. Aber inmitten des Chaos und der Verzweiflung werden auch provisorische Selbstverteidigungsgruppen gebildet.

Was bedeutet dieser blutige Wahnsinn in einer Gesellschaft, die nach sechs Jahren des Bürgerkriegs glaubte, jede Art des Schreckens bereits durchgemacht zu haben? Allen Beobachtern fiel auf, daß diese entfesselte Gewalt unmittelbar nach dem 18. Juli ihren Anfang nahm, dem Tag, als Abbasi Madani, der berühmte Führer der Islamischen Heilsfront (FIS), nach sechsjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen wurde. Schon am nächsten Tag wurden in verschiedenen Ortschaften in der Region Hadjout (dem früheren Marengo), 50 Kilometer südwestlich von Algier, 56 Menschen verstümmelt und getötet, indem man ihnen die Kehle durchschnitt.

So nahm das grauenerregende mörderische Schauspiel seinen Anfang, das über Wochen dauern und in der Nacht des 28. August zu einem langen Alptraum werden sollte. Damals starben in Sidi Rais, einer Ortschaft bei Algier, etwa 300 Menschen; Frauen, Kinder, Greise und Neugeborene. Man schnitt ihnen die Kehle durch und schlitzte ihnen den Bauch auf, man zerstückelte sie mit dem Beil und verbrannte sie bei lebendigem Leibe. Es war das schlimmste Massaker, das Algerien seit dem Jahr 1991 erlebte.

Die Freilassung von Abbasi Madani ist wohl das Ergebnis von Geheimverhandlungen zwischen engen Beratern des Präsidenten Zéroual und Vertretern der FIS gewesen, unter ihnen der führende Kopf der Islamistenpartei, Abdelkader Haschani. Offenbar hält der FIS den Zeitpunkt für eine Rückkehr in die politische Arena für gekommen, nicht zuletzt, weil sich die Kräfteverhältnisse immer weiter zu seinen Ungunsten verschieben: Er ist durch interne Auseinandersetzungen geschwächt, seine wichtigsten Aktivisten sitzen im Gefängnis oder sind ins Exil gegangen, Tausende seiner Anhänger wurden getötet, und im sozialen Leben wird sein Platz nach und nach von der Bewegung für eine Gesellschaft des Friedens (MSP), der früheren Hamas, eingenommen. Diese gemäßigt islamistische Partei ist unter ihrem Führer Mahfoud Nahnah eine Allianz mit den Machthabern eingegangen, die ihr einige Regierungsposten eingebracht hat. Schließlich muß der bewaffnete Arm des FIS, die Islamische Armee des Heils (AIS), die vorwiegend im Osten und im Westen des Landes operiert und keine Angriffe auf die Zivilbevölkerung ausführt, immer mehr Rückschläge einstecken und droht sich aufzulösen. Diese Umstände haben den FIS in den letzten Monaten dazu veranlaßt, alle Gewaltakte gegen die Zivilbevölkerung zu verurteilen, nicht nur die Übergriffe der Staatsmacht, sondern insbesondere die Aktionen der Kommandos, die sich den Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) zurechnen.

In den Verhandlungen mit den Machthabern soll der FIS die Freilassung seiner drei wichtigsten Führer verlangt haben: Abbasi Madani, Abdelkader Haschani und Ali Benhadsch. Benhadsch ist noch nicht in Freiheit; man hat seit über einem Jahr nichts mehr von ihm gehört, und der Ort seiner Gefangenschaft ist nicht bekannt. Wegen seiner Unbeugsamkeit wird er der „Savonarola von Algier“ genannt, aber eben darum ist er der einzige FIS- Führer, der noch immer die Achtung radikaler Islamisten genießt, sogar der Extremisten im Umkreis der GIA, die ihn niemals kritisiert oder des Verrats bezichtigt haben. Er wäre folglich auch der einzige, der sie überzeugen könnte, ebenfalls den Weg der Gewalt und des Terrors zu verlassen. War Benhadsch nicht bereit, an den Verhandlungen teilzunehmen, oder haben ihn die Machthaber bewußt ausgeschlossen, weil sie seine Popularität fürchten? Ist er überhaupt noch am Leben?

Jedenfalls scheint der FIS, in der Hoffnung auf eine allmähliche Rückkehr ins politische Leben, die Bedingungen der Machthaber weitgehend akzeptiert zu haben, nicht zuletzt die Forderung, sich einen neuen Namen zu geben. Bevor Abbasi Madani am 1. September wieder unter Hausarrest gestellt wurde, hatte er sich bereit gezeigt, in einer feierlichen Erklärung, die in Rundfunk und Fernsehen übertragen wurde, die Umorientierung seiner Bewegung kundzutun. In dieser Ansprache sollte er seine Ablehnung jeder Form von politischer Gewalt bekräftigen und das Ende des bewaffneten Kampfes und die Auflösung der AIS ankündigen.

Dieses Abkommen mit dem FIS hat zunächst einmal die Strategien der beiden Lager durchkreuzt, die sich seit Januar 1991 feindlich gegenüberstehen. Im Regierungslager, das so undurchsichtig ist wie kaum ein anderes auf der Welt, gab es nun Stoff für die Neubelebung von Rivalitäten zwischen den Fraktionen, die einen Burgfrieden geschlossen hatten.1 Angeblich sind die Verhandlungen mit dem FIS von General Mohammed Betchine geführt worden, dem früheren Chef des militärischen Geheimdienstes, der heute als Berater im Ministerrang (und persönlicher Freund) von Präsident Zéroual fungiert. Er soll im Mai 1997 mit dem „Emir“ Madani Merzak zusammengetroffen sein, dem Führer der AIS. Am 1. Oktober erklärte Merzak einen einseitigen Waffenstillstand seiner Organisation. Dieses Vorgehen wurde wiederum von General Tayeb Derradschi unterstützt, auch er ein enger Vertrauter von Zéroual, dem seit kurzem die Gendarmerie untersteht, eine wichtige Truppe, die im Kampf gegen die islamistische Guerilla eine entscheidende Rolle spielt.

General Betchine sei „der Mann der Amerikaner“, behauptet die Fraktion, die sich für die „Ausrottung“ der Islamisten stark macht. Deren Führer ist General Mohammed Lamari, Chef des Generalstabs und „Nummer zwei“ des Regimes. Lamari strebt nach wie vor die Einrichtung eines autoritären Staates an.

Ein dritter Clan schart sich um General Tewfik Médiène, den Chef der Geheimdienste, und General Smain Lamari, den stellvertretenden Chef des militärischen Geheimdienstes und Befehlshaber der gefürchteten „Todesschwadronen“, deren Aufgabe die Verfolgung einzelner islamistischer Terroristen ist. Diese Fraktion ist bereit, einer Eingliederung der AIS- Kämpfer in die Armee zuzustimmen, und hat sich neuerdings der Fraktion des Präsidenten angenähert, was einen klaren Vorteil für die Befürworter des Dialogs mit dem FIS bedeutet.

Wie die Kräfteverhältnisse innerhalb des Regimes wirklich aussehen, bleibt offen, aber in Algier machen immer neue Putschgerüchte die Runde. Das Ausmaß der Spannungen zwischen den Clans ist so groß, daß im September General Khaled Nezzar, Initiator des Putsches gegen Schadli Bendschedid und „moralische Autorität“ in der Führungsspitze der Armee, aus Washington, wo er sich wegen eines Gehirntumors behandeln ließ, vorzeitig nach Algier zurückgekehrt ist. Man sieht daran auch, daß der algerische Präsident, obwohl er im November 1995 demokratisch gewählt wurde, seine Macht vor allem seinen Offizierskollegen in den Streitkräften verdankt. Das kunstvoll errichtete politische Gefüge, die neue Verfassung, die Wahlen vom 5. Juni 1997, das alles dient nur, um dürftig genug die wahren Machtstrukturen, die militärische Hierarchie, zu kaschieren.

Im Lager der Islamisten hat das Abkommen des FIS mit dem verhaßten Regime offenbar zu einer Radikalisierung bestimmter Gruppen im Umfeld der GIA geführt. Sie sehen darin einen Verrat und bringen nun aus Rache Dorfbewohner um, die als Sympathisanten des FIS gelten. Andere Gruppen sind inzwischen offenbar zu der Überzeugung gelangt, daß die islamistische Sache endgültig verloren ist, und haben sich scheinbar einer Art „Satanismus“ ergeben: Sie leugnen Gott und begehen die schlimmsten Verstöße gegen die Lehre des Islam.

Die GIA verliert an Terrain

DIE Welle abscheulicher Gewalttaten hat jener Fraktion innerhalb des Machtapparats und der Armee in die Hände gespielt, die darauf hofft, der Terror werde die Bevölkerung dazu bringen, sich von den Islamisten insgesamt abzuwenden. Dies könnte eine Erklärung für die merkwürdige Tatenlosigkeit (wenn nicht gar Komplizenschaft) bieten, die bei den Sicherheitskräften zu verzeichnen ist. Allerdings dürften noch andere Gründe eine Rolle spielen: Jeder Experte weiß, wie schwierig es ist, einen nächtlichen Einsatz durchzuführen, ohne zuvor das Einsatzgebiet zu erkunden und wenigstens einige Informationen über den Gegner, sein Vorgehen und die Zahl der Kämpfer zu besitzen. Man riskiert eine vernichtende Niederlage.

Viele Beobachter halten das Aufflammen der Gewalt für eine Art höllisches Schlußfeuerwerk in einem Krieg, den das Regime weitgehend gewonnen hat. Man kann darin jedoch ebenso einen Ausdruck der Fraktionskämpfe zwischen den Herren des Landes sehen. Jedenfalls ist nicht zu übersehen, daß kurz vor der Freilassung von Abbasi Madani die Gewalt im ganzen Land, mit Ausnahme der Region um Algier, deutlich zurückgegangen war – ein Zeichen, daß die Armee auf dem Kriegsschauplatz die Oberhand gewonnen hatte.

Als General Liamine Zéroual im Herbst 1994 den Forderungen nach der Aufstellung von Milizen zustimmte, tat er dies bekanntlich gegen den Widerstand einer Reihe von Armeeführern. Letztlich hatte er damit allerdings nur abgesegnet, was überall im Land bereits praktiziert wurde, und mit dieser Legalisierung konnte wenigstens teilweise ausgeglichen werden, daß Armee und Sicherheitskräfte nicht genug Truppen hatten, um die Bevölkerung überall vor den islamistischen Kommandos zu schützen. Die Kommandos versorgten sich in den Dörfern mit Waffen und Lebensmitteln, gelegentlich kam es zu Übergriffen.

Im Laufe des Jahres 1995 hatten Einheiten der Armee mit großem Aufwand bestimmte Gebiete durchkämmt, um die wichtigsten Widerstandsorganisationen zu zerschlagen. Wenn die regulären Einheiten wieder abzogen, um andernorts eingesetzt zu werden, führten die Milizen den Kampf weiter, und ihre Erfolge zeigten, daß sie dem Feind gewachsen waren. Gemeindewächter und Selbstverteidigungsgruppen – inoffizielle Milizen, die von der Staatsmacht nur geduldet wurden – vernichteten die islamistischen Kämpfer oder kleinen Gruppen, die entkommen waren und nun versuchten, sich wieder zusammenzuschließen. Das Vorgehen erwies sich als wirksam und führte im ganzen Land zu einem deutlichen Rückgang der bewaffneten Überfälle. Auf diese Weise konnten hinreichende Sicherheitsbedingungen für die Durchführung der Präsidentschaftswahlen vom November 1995 geschaffen werden.

Die wachsende Stärke der Gemeindewächter und der „Gruppen für legitime Verteidigung“, wie sich die Selbstverteidigungsgruppen inzwischen nennen, hat es in der darauf folgenden Zeit ermöglicht, im ganzen Land, mit Ausnahme der Region um Algier, die Vernichtung von „Terroristen“ fortzuführen. Da die Milizen sich vor Ort auskennen und mit der Gegend und den Bewohnern vertraut sind, können sie verhindern, daß sich die bewaffneten Islamisten neu formieren. Inzwischen werden die Armeekräfte nur noch eingesetzt, um starke gegnerische Verbände zu bekämpfen oder umfassende Operationen durchzuführen. Indem sie den Einsatz ihrer Mittel und vor allem die Truppenstärke der Sicherheitskräfte der Situation anpaßte, konnte die Staatsmacht einiges erreichen, was sie als Erfolg verbucht: So wurde Ende Juli bekanntgegeben, daß Mustapha Akkal, der Führer der GIA in Westalgerien, und drei seiner Unterführer getötet worden seien.

Anfang 1995 zählten die Gemeindewächter etwa 15000 Mann, inzwischen sind es ungefähr 100000. Diese Milizen werden zwar von der Armee ausgebildet und ausgerüstet, aber nur in ihrer jeweiligen Heimatgegend eingesetzt, zumeist unter dem Befehl der Gendarmerie. Ihre Zuständigkeitsbereiche regelt ein Dekret vom August 1996. Dank steigender Einnahmen aus dem Erdölgeschäft kann der Staat auch weitgehend die Kosten für diese Hilfstruppen tragen: Die Milizionäre erhalten nicht nur einen nennenswerten Sold, sie werden auch mit Geländefahrzeugen (die aus dem Ausland kommen), Ersatzteilen und leichten Waffen ausgestattet. Aus einer Munitionsfabrik bei Algier, die für ausreichenden Nachschub bei den Sicherheitskräften sorgt, werden, in bescheidenerem Umfang, auch die Milizen versorgt.

Auch die Selbstverteidigungsgruppen – Vereinigungen von „Patrioten“ – sind inzwischen auf 100000 Mann angewachsen. Anfangs von den Machthabern nur geduldet, wurden die meisten von ihnen Ende 1996 unter der Bezeichnung „Gruppen für die legitime Verteidigung“ (GLD) neu organisiert. In einem Dekret von Anfang 1997 ist festgelegt, daß die Bildung solcher Gruppen auf Antrag der Einwohner vom Präfekten genehmigt wird, der zuvor Rücksprache mit den Sicherheitskräften nimmt. Seit April 1997 stehen die Gruppen unter zentraler Leitung durch eine Stelle des Innenministeriums. Ihre Aufgabe ist es, an der Seite der Gemeindewächter in den Kampf gegen die bewaffneten islamistischen Kommandos einzugreifen, wobei sie zumeist nur mit ihren eigenen Jagdgewehren und Selbstverteidigungswaffen ausgerüstet sind.

Die Truppenstärke der Nationalen Volksarmee (ANP) beträgt zur Zeit zwischen 150000 und 180000 Mann. Nur während der Wahlen hatte man sie durch eine Verlängerung des Militärdienstes und die Einberufung eines Teils der Reservisten vorübergehend erhöht, um die Sicherheit beim Urnengang zu gewährleisten. Vermutlich sind 40000 bis 60000 Mann ständig im Kampfeinsatz, während die übrigen Kräfte die Aufgabe haben, die militärische Infrastruktur und die Erdölanlagen zu schützen und die Grenzen zu überwachen. Außerdem müssen Waffen und Fahrzeuge gewartet werden. Und schließlich brauchen die Soldaten nach Kampfeinsätzen eine gewisse Ruhezeit.

Die kämpfenden Einheiten verteilen sich auf die verschiedenen Militärzonen, die sich wiederum in Bezirke und Unterbezirke gliedern. Es geht dabei vor allem um den Schutz der Hauptverkehrsrouten und die Unterstützung der verschiedenen Milizen. In jeder Zone sind auch einige Reserveeinheiten stationiert, die die Sicherheitskräfte im Kampf gegen die zahlreichen und beweglichen bewaffneten islamischen Gruppen unterstützen sollen. Falls starke gegnerische Verbände auftauchen, können, auf Befehl des Generalstabs in Algier, noch weitere Einheiten eingesetzt werden. Um die stärksten Gruppierungen von „Terroristen“ zu zerschlagen, werden überdies umfassende militärische Operationen durchgeführt. Für die Sicherheit in den Städten ist die Polizei zuständig, eine Truppe von etwa 60000 Mann, die bei schwierigen Einsätzen unterstützt wird von Spezialkampfeinheiten, den sogenannten „Ninjas“.

Seit Anfang letzten Jahres haben die GIA-Kommandos schwere Verluste erlitten. Sie kämpfen seither unter sich ständig verschlechternden Bedingungen ums Überleben. Es wird immer schwieriger, unter den jungen Arbeitslosen in den Vorstädten Anhänger zu rekrutieren, und einige Kämpfer, wenn auch nicht sehr viele, legen die Waffen nieder, um in den Genuß des Amnestiegesetzes zu kommen, das seit 1995 in Kraft ist. Von den früheren Mudschaheddin aus dem Krieg in Afghanistan, die am Beginn der Auseinandersetzungen in Algerien eine wichtige Rolle spielten, lebt wahrscheinlich kaum noch einer. Jedoch scheinen die Untergrundkämpfer nach wie vor einen sehr begrenzten Zulauf aus dem Ausland zu haben.

Nach Angaben aus einigen Quellen sollen die Sicherheitskräfte während der Kämpfe, die 1996 im Westen des Landes geführt wurden, Gefangene gemacht haben, die nicht das regionale Arabisch sprachen – angeblich muslimische Kämpfer aus dem ehemaligen Jugoslawien, die sich nun dem algerischen Untergrund angeschlossen hatten. Diese Behauptungen sind letztlich nicht zu erhärten, obwohl es natürlich denkbar ist, daß trotz Küstenwache und Abriegelung der Landgrenzen durch die Streitkräfte immer noch Waffen und Kämpfer ins Land gelangen.2

Die GIA sind nicht sehr gut bewaffnet, und ihr Arsenal ist häufig bunt gemischt. Seit dem Beginn der Auseinandersetzungen haben sie sich bei den widerwilligen Dorfbewohnern mit Jagdgewehren und -messern versorgt, aber nachdem die Behörden neue Vorschriften über den Besitz von Waffen, einschließlich Jagdwaffen, erlassen haben, ist die Versorgungslage für die Untergrundkämpfer schwieriger geworden. Nur in Ausnahmefällen gelingt es ihnen noch, Kriegsgerät zu erbeuten, denn inzwischen sind sie zu schwach, um Kasernen anzugreifen oder Abteilungen der Sicherheitskräfte aus dem Hinterhalt zu überfallen, wie sie es in der Vergangenheit taten. Ebenso schwierig ist es, an die Bauteile für Sprengsätze heranzukommen, weil alles relevante Material einer strengen Sicherheitsüberwachung unterliegt. So versuchen sie nun, aus allen möglichen Substanzen Sprengstoff zu fabrizieren. Auch die Zahl der Anschläge durch Autobomben nimmt allmählich ab.

Die bewaffneten Gruppen haben sich an die neue Situation anpassen müssen, um sich weiterhin im Land bewegen und zuschlagen zu können. Wenn sie in ein Dorf eindringen wollen, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen, müssen sie in größerer Zahl antreten, um den Hilfstruppen der Regierung gewachsen zu sein, aber auch nicht allzu zahlreich, um nicht die Aufmerksamkeit der Armee auf sich zu ziehen und vernichtet zu werden.

Die Islamische Armee des Heils (AIS), die vorwiegend im Osten und im Westen des Landes operierte, hat ihre Kampfkraft seit längerem verloren. Sie war kaum noch in der Lage, ihre bevorzugte Strategie der Anschläge auf öffentliche Gebäude und Repräsentanten der Staatsmacht durchzuführen. Wie erwähnt, zielte die Freilassung zweier hochrangiger FIS-Führer, Abdelkader Haschani und Abbasi Madani, darauf ab, mit dieser Untergrundarmee in Verhandlungen über die Einstellung der Kämpfe zu treten.

Im Hochgefühl dieser Erfolge hat die Führung der Streitkräfte den Schluß gezogen, daß man angesichts der militärischen Siege nicht länger Kompromisse mit den Islamisten suchen müsse und daß AIS und GIA inzwischen nur noch ein geringes Sicherheitsrisiko darstellen.

Das könnte sich jedoch als Fehlkalkulation erweisen. Trotz aller Siegesmeldungen ist es der Armee nicht gelungen, den Terrorismus vollständig zu bezwingen, und es bleibt fraglich, ob dies je gelingen kann. Überdies bedeutet das Scheitern der Verhandlungen, daß sich die Rückkehr zur Normalität immer weiter verzögert, und damit sieht sich die Mehrheit der Algerier in ihren Hoffnungen auf Frieden enttäuscht und hat um so mehr Grund zur Verzweiflung. Und nicht zuletzt: Auch wenn die Grabenkämpfe innerhalb des Regimes den grundsätzlichen Zusammenhalt der Offizierskaste sicher nicht in Frage stellen, könnten sie doch die ohnehin schwindende Autorität der Machthaber noch stärker erschüttern.

dt. Edgar Peinelt

* Wissenschaftlicher Leiter des Forschungszentrums der Akademie Coätquidan (CREC).

Fußnoten: 1 Siehe Le Monde, 5. September 1997. 2 Auch Marokko und Tunesien haben Truppenverbände an den Grenzen stationiert, aber in den Weiten der Sahara ist eine lückenlose Überwachung kaum möglich. Dort könnten Menschen und Material eingeschleust werden, allerdings erfordern solche Unternehmungen erheblichen logistischen Aufwand. Nicht zuletzt müssen die verschiedenen Kontrollposten der Armee auf den wenigen Verbindungsstraßen durch die Wüste umgangen werden.

Le Monde diplomatique vom 17.10.1997, von BRUNO CALLIES DE SALIES