14.11.1997

Warum die Sowjetunion die Welt faszinierte

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Warum die Sowjetunion die Welt faszinierte

DIE Sowjetunion ist zwar schon fast sechs Jahre aus der Weltgeschichte abgetreten, aber dennoch spielt sie in den Debatten unter Intellektuellen noch eine bedeutende Rolle. Einige Historiker planen sogar – in Anknüpfung an Parolen der extremen Rechten –, einen „Nürnberger Prozeß für den Kommunismus“ zu organisieren, als könne man die Realität der Sowjetunion und des Nationalsozialismus gleichsetzen. Bei allen Gemeinsamkeiten, die Stalin und Hitler als Personen und die von ihnen geschaffenen diktatorischen Regime aufweisen, waren doch die Grundlagen des Dritten Reichs und der Sowjetunion zutiefst verschieden. Jahrzehntelang war die Sowjetunion für Millionen Menschen auf der ganzen Welt der Inbegriff ihrer Träume. Warum?

Von MOSHE LEWIN *

Für den Historiker ist die Rolle Rußlands und sein Aufstieg in der Geschichte des 20. Jahrhunderts höchst ambivalent. Rußland war ein vielschichtiger und unberechenbarer Akteur in diesem „Zeitalter der Extreme“, ja es verkörperte selbst eines der „Extreme“ und hatte einen gewaltigen Einfluß auf die Geschichte unserer heutigen Welt. Alles, was Rußland unternahm, rief auf internationaler Ebene ein Echo hervor. Bei all dem Lärm und Aufruhr, den Rußland auf der internationalen Bühne veranstaltete, war das Land im Grunde nur damit beschäftigt, spezifisch russische Probleme zu lösen – was ihm letztendlich nicht gelungen ist. In gewisser Hinsicht ist Rußland gegen seinen Willen zu einem internationalen Phänomen geworden.

Eine Besonderheit machte seine Geschichte zu einer fundamental russischen Angelegenheit: Es war ein Land, dem die Mittel für sein eigenes Reich fehlten. Schon unter den Zaren verfügte Rußland nicht über die nötigen Ressourcen, um seine imperiale Rolle dauerhaft und umfassend auszufüllen. Es hatte die Fähigkeit eingebüßt, sein eigenes Gebiet zu verteidigen. Im Ersten Weltkrieg hatte die Armee nicht einmal ausreichend Gewehre. Ein merkwürdiges Weltreich.

Sowjetrußland begnügte sich nicht mit dem ererbten Territorium, sondern vergrößerte sein Reich noch, und eine kurze Zeit lang schien der neue Staat der Lage gewachsen. In Rekordzeit gelang es Sowjetrußland, wieder so weit aufzurüsten, daß es Krieg führen und seine Grenzen verteidigen konnte. Doch bald fand es sich wieder in eine komplexe Weltlage „verstrickt“: Es fehlten ihm die ökonomischen Mittel und Technologien, um der Rolle, die ihm zugefallen war, gerecht zu werden. Doch war es stark genug, um – mit beträchtlicher Hilfe des Westens – im Zweiten Weltkrieg den Sieg über Hitlerdeutschland davonzutragen, ja die Technologien der Sowjetunion waren auf einigen Gebieten denen ihrer Gegner überlegen. Wäre die technische Entwicklung weltweit auf dem Niveau der alten Schwerindustrie stehengeblieben, hätte das Land seinen Status als Großmacht gut erreichen und halten können. Entgegen der oft geäußerten Meinung war es nicht der Rüstungswettlauf, der die Sowjetunion ruiniert hat, auch wenn er vielleicht einiges dazu beigetragen hat.

Der entscheidende Faktor ist vielmehr in den für das Sowjetsystem typischen „Mechanismen“ zu suchen. Sie vor allem waren dafür verantwortlich, daß sich der Schwerpunkt des Systems vorschnell zum Bereich der technologischen Neuerungen verlagerte, was den nötigen Zuwachs der Mittel behindern mußte, die eine Verbesserung des Lebensstandards und der Kreativität sowohl im Bereich der Konsumgütertechnologie als auch in der kulturellen und politischen Sphäre garantiert hätten. Aufs ganze gesehen war die Sowjetunion in puncto Rüstungswettlauf und Entwicklung der Waffenindustrie sogar relativ erfolgreich. Was sie auf Dauer am Überleben hinderte, war ein „historisches Handicap“, das zahlreiche Bereiche in Mitleidenschaft zog und schließlich zu einer Stagnation des Systems führte, die ohnehin irgendwann – unabhängig von der Intensität des internationalen Wettbewerbs – eingetreten wäre. Es ist offensichtlich, daß der Rüstungswettlauf die Lebensdauer des bestehenden Systems eher verlängerte: Er war die Ursache dafür, daß die Reformer sich nicht durchsetzten, denn die Veränderungen, die sie forderten, hätten für das konservative Zwangssystem unweigerlich das Ende bedeutet.

Die Unterlegenheit, die einst der Stachel im Fleisch des zaristischen Rußland gewesen war, trat also ein halbes Jahrhundert nach der Oktoberrevolution wieder auf: dieses Mal beim sowjetischen Nachfolgemodell des Zarenreichs, das sich zudem in einer wesentlich komplexeren Situation befand. Während das System anfangs „nur“ vor der Aufgabe stand, den Westen einzuholen, fiel es später sogar hinter die Entwicklung anderer Ostblockländer zurück. Jetzt erst wurden die tiefen Risse in den Grundfesten des alten Reiches, allen Neuerungen der Sowjetzeit zum Trotz, offen sichtbar. Das Rußland der neunziger Jahre wiederum, hervorgegangen aus der Sowjetunion, ist heute kaum in der Lage, das deutlich kleinere Territorium zu regieren, das sich nur noch über die alten, slawisch dominierten Kerngebiete erstreckt.

Vom Wechselspiel der Spiegelbilder

DOCH lassen wir das heutige Rußland mit seiner gegenwärtigen Misere beiseite und wenden wir uns der Vergangenheit zu, um die wesentliche Frage zu klären: Wie läßt sich die Faszination verstehen, die die Sowjetunion weltweit ausgeübt hat?

Man kann das Problem als ein „Wechselspiel der Spiegelbilder“ zwischen den Protagonisten dieser Geschichte ansehen und die Bilder in Erinnerung rufen, die zu den unterschiedlichen historischen Zeitpunkten jeweils in den beiden Spiegeln sichtbar wurden.

Die Wiedererstarkung des Westens zwischen 1921 und 1929 spiegelt das Bild eines Sowjetrußlands wider, das sich von den Verheerungen des Bürgerkriegs (1917-1923) erholen muß, ein Staat, der wieder, vielleicht mehr noch als zuvor, in Rückstand geraten ist. Dann aber, gerade als die andere Seite, insbesondere nach dem Börsenkrach von 1929, in Auflösung begriffen scheint, setzt der Aufschwung der ersten Fünfjahrespläne ein.

Dieses Schwanken der ökonomischen Leistungsfähigkeit beider Seiten erklärt die Veränderungen in dem Bild, das sie jeweils voneinander wahrgenommen haben. Die Bilder reflektierten sich wechselseitig, sie spiegelten jeweils bestimmte Seiten der Wirklichkeit, während sie wiederum andere verzerrten – ein historisch unvermeidliches „Wechselspiel der Spiegelbilder“. Die Krise des Westens zwischen 1929 und 1936, die parallel zum sowjetischen Aufschwung ablief, trug entsprechend dazu bei, daß Art und Ausmaß der „Säuberungen“ der dreißiger Jahre und andere Strukturdefekte des Regimes verharmlost, die des Westens hingegen überdimensional wahrgenommen wurden. Und jede Umkehrung der Situation (als die Sowjetunion etwa zum ersten Mal gezwungen war, vom Westen Weizen zu kaufen) zog eine Umkehrung der eingefahrenen Optik nach sich und bewirkte, daß die Errungenschaften der einen Seite idealisiert und die der anderen abgewertet wurden.

Die Nationalitätenpolitik, die innerhalb der Sowjetunion verfolgt wurde, war ein weiterer Faktor in diesem Auf und Ab der Image-Konjunktur. Der vielen so attraktiv erscheinende „interne Internationalismus“ war in mancherlei Hinsicht authentisch und real. Die Sowjetunion stellte ein vom zaristischen Rußland ererbtes Reich dar, doch die verschiedenen ethnischen Teilgebiete waren keine Kolonien. Dieser Umstand trug nicht unwesentlich zu einem positiven Sowjetunion-Bild bei, so wie sie sich selbst nach außen präsentierte. (Dieser Internationalismus wird möglicherweise auch in der Zukunft noch eine Rolle für das Bild Rußlands spielen.) In einer Zeit des Rassismus und Chauvinismus bot ein Land, das den Internationalismus predigte und ihn innerhalb seiner Grenzen auch zu verwirklichen schien, einen willkommenen Anblick, auch wenn die Fakten propagandistisch verzerrt präsentiert wurden.

Der propagierte Homo sovieticus fühlte sich als Russe, Usbeke, Tatare oder Georgier, doch sah er sich auch in einem übernationalen Kontext. In der sowjetischen Armee sah man Mandelaugen und Schlitzaugen, dunkle und helle Hautfarben, glattes und krauses Haar, doch es war und blieb eine einzige Armee – eine sowjetische, keine russische. Obwohl Stalin gegen Ende des Krieges rücksichtslos eine „Russifizierung“ des Systems durchsetzen wollte, blieb dieses Phänomen paradoxerweise bis zum Untergang des Systems erhalten. Ungeachtet der Veränderungen im politischen Kurs ist der „Sowjetmensch“ ein Merkmal dieses „internationalen“ Reiches geblieben und gehört gewiß zu den größten Aktivposten, die das System zu verbuchen hat.

Ein weiteres folgenreiches Ereignis, das ohne den industriellen Aufschwung der Fünfjahrespläne vor dem Krieg nie zustande gekommen wäre, war der Sieg über den deutschen Aggressor 1945. Dank dieses Triumphes war es möglich, trotz des umfassenden Terrors und der schweren Fehler der despotischen Sowjetführung die fürchterlichen Untaten des Generalissimus Stalin zu vertuschen. Der Sieg schien den eingeschlagenen politischen Weg zu rechtfertigen, und dies – zumindestens für eine begrenzte Zeit – in den Augen der ganzen Welt. Später, nach Stalins Tod im Jahre 1953, konnte man die Tatsache, daß man mit dem Sputnik den Westen im Wettrennen der Atom- und Weltraumforschung hatte einholen können, als Beweis für die Überlegenheit der Planwirtschaft und als weitere Rechtfertigung der Politik des Regimes geltend machen. Dabei sind diese Leistungen auf gar keinen Fall auf das Konto der Planwirtschaft zu verrechnen.

In Wahrheit war es, um ein weiteres Trugbild auszulöschen, genau umgekehrt: das System war gar nicht in der Lage zu planen. Sonst hätte es ja nicht seinen eigenen Untergang und jene Spirale des Ungleichgewichts „geplant“, die es am Ende in den Abgrund gezogen hat. Die Leistungen, die im Bereich der Weltraumforschung und der Rüstung erzielt wurden, sind allein dem Umstand zu verdanken, daß das System imstande war, seine ganzen Ressourcen per Anordnung auf vorrangige Ziele zu konzentrieren. Das hat allerdings wenig mit Planwirtschaft zu tun. Eine Planwirtschaft, die diesen Namen verdiente, hätte zwar ohne Zweifel im Notfall auch strikte Prioritäten setzen müssen, hätte aber niemals so viele Ziele vernachlässigen dürfen, die in der Sowjetunion als nicht prioritär behandelt wurden (sprich: den größten Teil der Wirtschaft, der die eigentliche Priorität hätte darstellen müssen). Zahlreiche, vielleicht sogar die meisten sowjetischen Leistungen und Errungenschaften waren das Ergebnis einer solchen bestenfalls chaotischen Wirtschaftsführung, die darin bestand, daß man die Prioritäten hin und her jonglierte, mit der Folge, daß immer neue Engpässe entstanden, die neue Korrektivmaßnahmen erforderlich machten.

Im Prinzip ist dies ein typisches Merkmal von Kriegswirtschaft. In Schlagworten wie „wichtigstes Glied in der Kette“ oder „vorrangige Ziele“ – in dem ganzen politisch-administrativen Vokabular, das diese Strategie anpries und sich rühmte, eine Wirtschaftsführung zu sein, spiegelte sich – zumindest in der Anfangszeit – diese Auffassung eines gelenkten Wirtschaftswachstums wider. Das Jonglieren mit „vorrangigen Zielen“ zu Lasten des ganzen Rests hatte freilich einen hohen Preis: Unaufhörlich entstanden neue Ungleichgewichte, die alle soziopolitischen und wirtschaftlichen Sektoren untergruben und blockierten, bis die UdSSR Anfang der siebziger Jahre schließlich zu einem echten „System des Ungleichgewichts“ wurde.

Mit anderen Worten: das Land wurde verwaltet, aber nicht geplant, die Fünfjahrespläne waren nichts als ein freistehendes Gerüst aus Indikatoren in Gestalt von Zahlen und bloßen Desideraten. Doch allen Realitäten zum Trotz wurde diese vorgebliche Planung vielfach für bare Münze genommen und spielte für den ideologischen und politischen Aufschwung Sowjetrußlands eine große Rolle.

Der Schlüsselfaktor in diesem weltweiten Aufstieg blieb jedoch die von der Propaganda regelrecht eingehämmerte Idee, das sowjetische System stelle eine in der Geschichte einmalige, konkrete Alternative zum Kapitalismus dar. Diese mehr oder minder überzeugende Propaganda war zunächst an den Westen gerichtet, doch in dem Maße, in dem sie dort unglaubwürdig wurde, ging sie auch in Richtung Osten und Südostasien. Begriffe wie „alternatives System“ und „alternative Kultur“, „Sozialismus“ (ob im Aufbau oder real existierend) und „marxistischer Staat“ – all diese Begriffe, die bis heute im Umlauf sind und die von der Rechten aus naheliegenden Gründen liebend gerne aufgegriffen, von der Linken hingegen zunehmend verworfen wurden, hielten dennoch die westlichen Länder weiterhin in Alarmbereitschaft und boten ihnen in verschiedener Hinsicht „Lehrstoff“. Ohne diesen Faktor wäre das „Wechselspiel der Spiegelbilder“ nicht aufgegangen, denn es beruhte ja auf der weitgehend akzeptierten Vorstellung, daß es zwangsläufig nur zwei Akteure gebe. Tertium non datur. Rußland war die einzig mögliche andere Wirklichkeit – so lautete die Spielregel, die Realität und Folklore des kalten Kriegs zwischen 1947 und 1989 in den Köpfen fixierten.

Auf diese Weise wurden die Wahrnehmungen und Vorstellungen in der weltpolitischen Arena von Fakten und Mythen, Wirklichkeiten und Trugbildern geprägt. In diesem Kontext war es die These vom „sozialistischen Charakter“ des Systems, auf der die Rolle und der wachsende Nimbus der Sowjetunion beruhte. Die Frage, ob sich der Untergang von Mythen gesetzmäßig vorhersagen läßt, muß offen bleiben, doch ganz offensichtlich gibt es eine Gesetzmäßigkeit, die solche Mythen am Leben erhält ...

Daß Rußland (präziser: seine Eliten und gewisse Bevölkerungsgruppen) in gutem Glauben eine emanzipatorische Ideologie des Westens – nämlich einen marxistisch geprägten Sozialismus – übernommen hat, um damit jedoch „auf russische Art“ eine spezifisch russische Aufgabe zu lösen, ist in der Tat kein neues Phänomen in der Geschichte des Landes. Peter der Große (1672-1725) und Katharina II. (1729-1796) sind einschlägige Beispiele: Sie entlehnten bestimmte progressive Ideen und Praktiken aus dem Westen und verschärften die Knechtschaft der Bevölkerung. Diese frappierende „Dissonanz“, die auch für Stalins Herrschaft zutrifft, war (und ist) ein immer wiederkehrendes Thema der russischen Geschichte: Voranschreiten mit zwei Beinen, die in verschiedenen Jahrhunderten stecken.

In bezug auf die Sowjetzeit könnte man diese Metapher noch zuspitzen und sagen: Rußland ist ins 20. Jahrhundert eingetreten, um die ererbten Probleme aus dem 19. Jahrhundert mit Methoden des 18. Jahrhunderts zu lösen. All diese Jahrhunderte hindurch haben die westlichen Ideen eine ausschlaggebende Rolle gespielt, allerdings immer gefiltert durch die Humusschicht der russischen Geschichte, wodurch diese Ideen entweder einfach verschluckt oder stark abgewandelt wurden.

Eine Interpretation der Modernisierung Rußlands ist nur möglich, wenn man sich rückblickend den historischen Weg klarmacht, den das Land im 20. Jahrhundert eingeschlagen hat. Muß man diese Modernisierung letzten Endes als Fortschritt oder als Verzögerung, oder aber als einen Umweg sehen?

Die These von der Verzögerung der Modernisierung muß, soll sie auf die „kommunistische“ Periode zutreffen, eine Bedingung erfüllen: Sie muß nachweisen, daß das zaristische Rußland bereits im Sinne anerkannter westlicher Konzepte auf dem Weg der Modernisierung war. Man könnte eher sagen, daß die „verspätete Modernisierung“ bereits zur Zarenzeit die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft kennzeichnete, die schließlich für den Untergang des Systems verantwortlich waren. Dabei darf man allerdings nicht die tatsächlichen Fortschritte leugnen, die das zaristische Rußland auf einer Reihe von Gebieten aufzuweisen hatte: Krisenerscheinungen treten häufig dann auf, wenn bestimmte gesellschaftliche Sektoren und Schichten eine starke Dynamik an den Tag legen, während große Teile der Bevölkerung und der Tätigkeitsbereiche hinterherhinken und in einem anderen Entwicklungsstadium „leben“. Die Konsequenzen solcher Mißverhältnisse können in der Regel nur sehr starke politische Systeme bewältigen. In Rußland hingegen war das Regime selbst eines der archaischsten Elemente der Gesellschaft, es stellte also ein historisches Problem und nicht dessen Lösung dar. Daher eignen sich die realen oder fiktiven Hinweise auf eine bereits in Gang gekommene Modernisierung nicht als Instrument zur Bewertung der Leistungen des nachfolgenden Regimes.

Moderne Industrie und Staatsabsolutismus

WER an eine sozialistische Perspektive in Rußland glaubte, muß die sowjetische Erfahrung möglicherweise als einen Fehlschlag ansehen. Doch eine pessimistischere Einschätzung des Potentials, über welches Rußland 1917 verfügte, hätte zu einer realitätsnäheren Bewertung der Situation führen und die „russische“ Lösung vorhersehen können: einen Staat mit Allmachtsambitionen, der ein hybrides und unterentwickeltes soziales Gefüge lenkt. Und eine solche Bilanz würde folgerichtig ganz heterogene Erscheinungen auf einen Nenner bringen. Trotz der undurchschaubaren Handlungsweisen des Staates gelang es dem Regime, das Land aus einer bereits vorangeschrittenen Krise und damit vor seiner Auflösung zu retten, eine Industrie aufzubauen, den Krieg zu beenden, das unermeßlich große Territorium zu verwalten, der Bevölkerung eine Schul- und Hochschulbildung zu garantieren – lauter Faktoren, die einen erheblichen Fortschritt gegenüber dem alten Rußland belegen. Aus der Gegenwart betrachtet scheint Rußland in seiner Orientierungslosigkeit siebzig Jahre an ein bloßes „Experiment“ vergeudet zu haben. Betrachtet man die Sache jedoch mit dem Blick des Historikers, also von der Vergangenheit und deren Fortentwicklung aus, stellt sich Sowjetrußland in vielerlei Hinsicht als eine mächtige und einflußreiche Wirklichkeit dar, die mit all ihren Höhen und Tiefen zur Geschichte unseres Jahrhunderts gehört.

Diese historische Mission vollzog sich in einem Land, das zum größten Teil aus einer Landbevölkerung bestand, die nach dem Zweiten Weltkrieg in beispiellosem Tempo urbanisiert wurde. Geleitet wurde dieser grundlegende Wandel von einer Bürokratie, der es ungeachtet gewaltiger Schwierigkeiten gelang, noch vor Stalins Tod ein weitverzweigtes Machtmonopol zu etablieren, das mittels fest verankerter Rechte und hinreichend effektiver Methoden in der Lage war, den Status quo zu dominieren. Und all dies vollzog sich wie gesagt im Kontext der rasanten Urbanisierung einer vorzeitlichen, vorurbanen Wirklichkeit; und es hatte genau dieselbe Erscheinung zur Folge, die wir aus anderen ländlichen und „traditionellen“ Gesellschaften kennen: die Entstehung eines „Super-Staates“, der zwei zutiefst unterschiedliche historische Etappen in einer Art Spagat zusammenzwingen mußte.

Für diese Aufgabe fehlten dem Staat die Mittel, genauer die „historischen Reserven“ (eine Schwäche, der keine Polizei der Welt hätte abhelfen können): Was in der einen Periode gerade noch ausreichte, um den Status quo zu erhalten, langte in der nächsten Periode nicht mehr, und die Unfähigkeit des Systems, sich zu verändern, resultierte in gewisser Hinsicht aus der Geschwindigkeit, mit der sich der große historische Wandel vollzogen hatte. Am Ende stellte sich heraus, daß die Lenkungsfähigkeit dieses Staates nicht ausreichte, um eine urbane Gesellschaft in einem hochdynamischen internationalen Umfeld zu führen (es handelte sich wie gesagt nicht mehr nur darum, den Westen einzuholen). Dieses System, das aus einer mit wehenden Fahnen vollzogenen Industrialisierung hervorgegangen war, basierte auf einer Mischung von Autoritarismus, wie er mit der Errichtung einer modernen Industrie einherging, und der alten russischen Tradition des Staatsabsolutismus. Diesem System fiel als erstes das sozialistische und emanzipatorische Glaubensbekenntnis zum Opfer, das die revolutionäre Erhebung zu Beginn inspiriert hatte. Und ausgerechnet die Dynamik, welche anfangs das neue System ausgezeichnet hatte, war das zweite Opfer.

Ein letzter Aspekt des russischen Einflusses auf den Westen verweist uns auf das Wechselspiel der Beziehungen und gegenseitigen Einflüsse zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert. Die russische Sozialdemokratie war Mitglied der zweiten Internationale, und ihre „kommunistische“ Variante war das Ergebnis einer Reaktion auf das Verhalten der sozialistischen Parteien – allen voran der deutschen Sozialdemokraten – während des Ersten Weltkriegs und danach. Oft genug wurde auf die verhängnisvolle Rolle der Komintern im Schicksal der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) hingewiesen; doch die Art und Weise, wie die sozialdemokratischen Führer ihren eigenen linken Flügel behandelt haben – wobei sie nicht einmal vor dem Einsatz der Freikorps zurückscheuten1 –, war für die deutsche Arbeiterklasse und den deutschen Sozialismus womöglich weit folgenreicher als die Oktoberrevolution, von der man schließlich 1918/19 noch sehr wenig wußte. In gewisser Weise waren die Kader der Kommunistischen Partei ein Produkt dieser Politik.

Die deutschen Sozialdemokraten wie die russischen Bolschewiki hatten ihre ursprüngliche revolutionäre Vision aufgegeben: Bei der Sozialdemokratie hatte diese Entwicklung schon vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt, und in Sowjetrußland hatte man – auch wenn man sich weiterhin einer revolutionären Sprache bediente – einen anderen Weg eingeschlagen, der in eine „andere Richtung“ führte. In der Terminologie ihrer gemeinsamen Organisation handelte es sich im einen wie im anderen Fall ganz zweifellos um eine Rechtsabweichung. Daß die Entwicklung in der Sowjetunion nie auf diese Weise beschrieben wurde, hat allein sentimentale oder ideologische Gründe. „Prokommunismus“, „Antikommunismus“ – es war nur zu einfach, sich an die herrschenden Denkkategorien zu halten und sie für bare Münze zu nehmen, auf die Gefahr der eigenen Täuschung hin. Der Versuch einer objektiveren Beschreibung des sowjetischen Systems bleibt wegen dessen hybrider Natur ein äußerst irritierendes Unterfangen: in ihm gab es zwar ein fast „klassisches“ Proletariat, doch dafür fehlte dessen kapitalistisches Gegenstück, nämlich eine Bourgeoisie. Statt dessen gab es eine führende Schicht von Bürokraten (die auf dem besten Wege war, sich zu einer richtiggehenden Führungsschicht zu entwickeln), doch auch die mächtigsten Funktionäre dieser Schicht hatten keinen direkten Besitz an Produktionsmitteln.

Komplexe historische Mechanismen

IM Hinblick auf die beiden Protagonisten Deutschland und Sowjetunion erwiesen sich die Kategorien „rechts“ und „links“ als besonders unzuverlässig, insofern sie von den wechselnden Umständen abhingen und von denen, die sie verwandten. So stand die Sozialdemokratie 1933, als Hitler an die Macht kam, offensichtlich links, was zu Anfang der Weimarer Republik 1919 keinesfalls so klar war. Der Kampf Rußlands gegen Nazideutschland ließ Rußland, zumindest vom Ausland aus betrachtet, im internationalen Kräftespiel ebenfalls als links erscheinen. Sein internes Regime aber blieb auch nach Stalins Tod, allen Veränderungen zum Trotz und selbst wenn es antikolonialistische Bewegungen (natürlich außerhalb seiner Grenzen) unterstützte, in unterschiedlichem Maße konservativ, nationalistisch und zutiefst antidemokratisch – lauter Merkmale, die keineswegs für linke Tradition stehen.

Damit stellt sich aufs neue das Problem der Vergleichbarkeit des sowjetischen Systems mit anderen rechten Staatsgebilden, in erster Linie mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus. Zugegebenermaßen jedoch hat der Rückgriff auf den „Vergleich“ im politischen wie im akademischen Diskurs eher zu methodischen Streitigkeiten als zu einem Fortschritt in der Erkenntnis des Phänomens beigetragen. Es geht hier nicht darum, einen komparatistischen Ansatz in Frage zu stellen, der ein legitimes und oft sehr wertvolles Instrument bei der Analyse historischer Phänomene ist. Stalin und Hitler als zwei Führer, die durch den Kult ihrer Person geradezu „geheiligt“ wurden, fordern einen Vergleich geradezu heraus. Generell setzt jeder Versuch einer Klassifizierung einen Vergleich voraus. Was die Sowjetunion als Diktatur angeht, so muß und kann sie mit anderen Diktaturen verglichen werden.

Jedoch a priori anzunehmen, daß es sich um ein und dieselbe Sache handelt, das Postulat aufzustellen, man habe es mit zwei identischen historischen Phänomenen zu tun – das ist schwerlich legitim. Ein komparatistischer Ansatz muß sich im Grunde nur an ein Postulat halten: Auf beide Untersuchungsgegenstände muß strikt das gleiche Analyseverfahren angewandt werden, ohne daß die Schlußfolgerung von vornherein feststeht. Auch im akademischen Milieu waren die Debatten um die Sowjetunion mehr als in anderen Fällen von Ideologie und Propaganda bestimmt. Zudem gibt es in der Geschichte Sowjetrußlands so viel Schrecken und Grauen, daß man ihr alle möglichen Verbrechen, auch in den unwahrscheinlichsten Dimensionen, zuschreiben konnte, ohne dabei groß an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Der Terror und die Grausamkeiten waren zweifellos eine massiv auftretende Erscheinung, und jede seriöse Forschung muß diese Tatsache betonen und darf sie nicht verschweigen oder herunterspielen. Doch dieselbe „Anständigkeit“ verlangt umgekehrt, daß diese Tatsachen nicht hochgespielt werden.

In Zusammenhang mit der sowjetischen Geschichte jedoch hat es immer diese Tendenz gegeben, eine Neigung, nur den dramatischsten Perioden der sowjetischen Geschichte Beachtung zu schenken und diese als die einzigen untersuchenswerten Phänomene darzustellen. Unter dem Einfluß dieser Tendenz hat sich eine einseitige Sicht der Dinge herausgebildet, die den komplexen historischen Mechanismus verschleiert. Es ist eine Tatsache, daß die Sowjetunion eine Diktatur war, doch es ist auch ein Faktum, daß ihre Geschichte nicht immer gleichförmig verlief. Die unterschiedlichen Phasen, die Kurswechsel, die tiefgreifenden Veränderungen, die sie durchgemacht hat, machen es erforderlich, nicht von einem, sondern von mehreren sowjetischen Regimen zu sprechen. Und jenseits dieser Regime haben die grundlegenden historischen Entwicklungen mehr Bedeutung als die Einzelfakten und die Handlungen eines beliebigen Staatsoberhaupts der Sowjetunion. Das gilt für jede Gesellschaft, in besonderem Maße jedoch für die russische.

Auf dem postkommunistischen „Markt“ ist die Theorie vom „hüben wie drüben“ sehr verbreitet, die eine Parallele zwischen dem Faschismus (oder dem Nationalsozialismus, da es sich um die Stalinzeit handelt) und dem sowjetischen Regime zieht. Doch auch wenn Stalin und Hitler mehr als nur ein gemeinsames Merkmal aufweisen: kann man von Chruschtschow und seinen Nachfolgern wirklich dasselbe behaupten? Zwei Länder können Tyrannen an der Spitze haben, die sich in einer Reihe von Aspekten gleichen, und doch kann ihre weitere Geschichte völlig unterschiedlich verlaufen.

Vor und nach dem Ersten Weltkrieg standen Rußland und Deutschland keineswegs vor den gleichen historischen Aufgaben. Und auch wenn sie über einen bestimmten Zeitraum hinweg ähnliche Merkmale aufwiesen, darf dies den Blick nicht dafür verstellen, daß ihre unterschiedlichen historischen Entwicklungsgänge auch in eine unterschiedliche Zukunft führen konnten. In dieser Hinsicht kann man sich auf eine einzige Frage beschränken: Wie hätte die Zukunft von Deutschland – und der ganzen Welt – ausgesehen, wenn Hitler den Sieg davongetragen hätte (oder Frieden geschlosssen hätte, ohne daß es zu einer Invasion seines Landes gekommen wäre, oder wenn er durch einen anderen Nazi ersetzt worden wäre)? Hätte ein nationalsozialistisches Staatsoberhaupt eine „Entnazifizierung“ durchgeführt? Und dann mache man sich klar, was in Rußland nach Stalins Tod geschah. Was genau geschah eigentlich nach 1953, und was genau hat aus der Destalinisierung, die den einen zu zaghaft, den anderen zu kühn war, eine unwiderrufliche Realität gemacht?

dt. Esther Kinsky

* Historiker, Autor u. a. von „Gorbatschows neue Politik: Die reformierte Realität und die Wirklichkeit der Reformen“, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1988.

Fußnote: 1 Im Zuge der Niederlage Deutschlands kam es im November 1918 zu einer Revolution, in der die SPD den Unabhängigen Sozialisten (USPD), in deren Reihen auch die Spartakisten und zukünftigen Gründer der Kommunisten Partei Deutschlands (KPD) kämpften, die Führung streitig machte. Aus Furcht vor einer Radikalisierung der Volksbewegung setzte Reichspräsident Ebert nach einer Übereinkunft mit General Hindenburg von Januar bis Mai 1919 gegen die Spartakisten Freikorps ein, die sich aus ehemaligen reaktionären Offizieren rekrutierten. Von solchen Truppen wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 ermordet.

Le Monde diplomatique vom 14.11.1997, von MOSHE LEWIN