14.11.1997

Der nächste kalte Krieg beginnt in den Köpfen

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Der nächste kalte Krieg beginnt in den Köpfen

UM die hohen Zuwendungen für den US-amerikanischen Geheimdienst, die 1994 bei 26,7 Milliarden Dollar lagen, wie auch eine erneute Erhöhung der Militärausgaben zu rechtfertigen, versuchen einige Experten im Pentagon, immer neue Länder ausfindig zu machen, die in Zukunft die amerikanische Sicherheit gefährden könnten. Nach der Sowjetunion, Libyen, Iran, Irak und Nord-Korea müssen neuerdings Rußland und China als potentielle Gegner herhalten. Doch während manche Militärs in Washington solche Szenarios entwerfen, setzt Amerika seinen eigenen Willen durch, und dies, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen.

Von MICHAEL KLARE *

In der amerikanischen Verteidigungsstrategie vollzieht sich derzeit eine leise Revolution. Bis zum Ende des kalten Krieges befaßten sich die Strategen im Pentagon fast ausschließlich mit der vermeintlichen Bedrohung, die von feindlichen Staaten in der Dritten Welt ausging, mit potentiellen Gegnern also, die in Washington unter der Bezeichnung „Gangsterregime“ laufen. Neuerdings warnen jedoch verschiedene Militärexperten, den Amerikanern könne ein „ebenbürtiger Konkurrent“ erwachsen, der die Vereinigten Staaten auf annähernd gleichem militärischem Niveau herausfordern könnte. Zwar existiert ein solcher Konkurrent bislang noch nicht, doch die Vorstellung allein hat die US-Strategen bereits veranlaßt, auf deutlich andere Weise über das globale militärische Umfeld des anbrechenden 21. Jahrhunderts zu denken und zu sprechen.

Bisher haben derlei Überlegungen die offizielle Verteidigungspolitik in Washington noch nicht beeinflußt. Die höchste Priorität hat nach wie vor der Erhalt einer militärischen Stärke, die ausreicht, um zwei gleichzeitig auftretende „größere regionale Konflikte“1 siegreich zu beenden. Nach Ansicht des Pentagon dürfte eine solche Auseinandersetzung zum einen im Persischen Golf (gegen den Iran oder den Irak), zum anderen in Asien (gegen Nord- Korea) stattfinden. Neuerdings beginnen verschiedene amerikanische Strategen jedoch, ganz andere Planspiele zu entwerfen: über einen Konflikt mit Moskau wegen der Ölvorkommen um das Kaspische Meer2 und über einen Krieg mit Peking wegen der ungehinderten Schiffahrt im Südchinesischen Meer.

Zwar kursieren solche Vorstellungen noch überwiegend in internen Dokumenten und spekulativen Texten, doch die Diskussion dieser Szenarios beginnt zunehmend auch Militärstrategen, Führungskräfte im Geheimdienst und zivile Experten zu interessieren. Diese Leute verfolgen sehr aufmerksam die militärischen Entwicklungen in Rußland, in China und in einigen anderen Ländern, die auf mittlere Sicht zur militärischen Konkurrenz heranwachsen könnten. Der Umstand, daß China ein ganzes Sortiment an modernen Waffen von Rußland erwirbt, wurde in der amerikanischen Presse ebenfalls ausführlich diskutiert.

Auch im amerikanischen Kongreß beschäftigt man sich eingehend mit dem Thema und speziell mit der Frage, welcher Typ militärischer Rüstung für die kommenden Jahrzehnte erforderlich sein wird. Die Anhänger der offiziellen Strategie, die potentielle Auseinandersetzungen mit den „Gangsterregimen“ erwarten, halten das aktuelle Niveau der Verteidigungsausgaben zum Schutz der Vereinigten Staaten für ausreichend. Die Experten hingegen, die eher mit einer Bedrohung aus China oder Rußland rechnen, bestehen auf einer deutlichen Erhöhung des Militäretats. Der Ausgang dieser Debatte wird weitreichende Konsequenzen nicht nur für die USA, sondern für die ganze Welt haben. Wenn die amerikanische Führung davon ausgeht, daß Rußland oder China (oder eine andere größere Macht) im kommenden Jahrhundert eine erhebliche Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA darstellen, wird sie die Militärausgaben beträchtlich erhöhen. Das wiederum könnte zu einer erneuten Polarisierung in den internationalen Beziehungen führen, die in gewisser Weise dem kalten Krieg ähnlich wäre.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion befindet sich die amerikanische Militärführung auf der Suche nach einem neuen Feindbild, an dem man künftig die Taktik und die militärische Ausrüstung orientieren kann. Früher war dies ganz einfach: Die amerikanischen Streitkräfte sollten fähig sein, den Truppen des Warschauer Paktes entgegenzutreten und sie in einer gewaltigen Schlacht auf der europäischen Tiefebene zu besiegen.

Mit der Auflösung des gegnerischen Pakts, dessen ehemalige Mitgliedsstaaten zum Teil der Nato beitreten wollen, muß man in Washington zwangsläufig neue Szenarios entwerfen. Da die in den Militärschulen gelehrten Taktiken jedoch im allgemeinen auf Vermutungen über das militärische Verhalten künftiger Feinde basieren, ist eine effiziente militärische Planung außerordentlich kompliziert geworden, insofern es keinen genau bezeichneten Gegner gibt. Auch die Bewilligung der laufenden Mittel für das Pentagon, über die der Kongreß alljährlich neu entscheidet, wird mehr Mühe machen, denn die Militärausgaben müssen stets erneut mit einer aktuellen oder erwarteten Bedrohung des Landes begründet werden.

So mußte die militärische Führung der Amerikaner seit 1989 nach einem neuen überzeugenden Feindbild Ausschau halten, das an die Stelle der Sowjetunion treten sollte. Mit diesem Ziel hat General Colin Powell, Chef des militärischen Generalstabs bis zum Jahre 1996, umgehend nach dem Fall der Berliner Mauer einen Stab für politische und strategische Planung im Pentagon gebildet. Die Gruppe unter dem Kommando von Luftwaffengeneral Lee Butler beschloß damals, ihre Strategie auf der potentiellen Bedrohung durch Dritte-Welt-Länder wie Iran und Irak aufzubauen, galten diese doch traditionell als Feinde der westlichen Welt, die zudem über eine bedeutende militärische Macht verfügen.

Dieses neue Konzept wurde unter dem Titel „Regionale Verteidigungsstrategie“ im Frühjahr 1990 vom Chef des Pentagon wie von Präsident George Bush gebilligt. Am 2. August 1990, dem Tag der irakischen Invasion in Kuwait, wurde sie von Präsident Bush der amerikanischen Öffentlichkeit vorgestellt. Damit entstand der Eindruck, die neue Strategie sei eine Antwort auf die aktuelle Situation im Golf – und doch war sie viele Monate vor dem Einmarsch des Irak vom Weißen Haus verabschiedet worden3 .

Mit dem Golfkrieg schien sich das Problem des „fehlenden Feindes“ erledigt zu haben. Von nun an ging es darum, die amerikanischen Streitkräfte auszubilden und auszurüsten, um eine endlose Reihe von Kriegen gegen regionale Mächte wie den Irak führen zu können. Wie der damalige Verteidigungsminister Richard Cheney erklärte: „Der Golfkrieg ist Vorläufer jener Art von Konflikten, mit denen wir uns in der neuen Ära wahrscheinlich am häufigsten konfrontiert sehen, nämlich einer größeren regionalen Auseinandersetzung mit hochgerüsteten Feinden, die sowohl über fortgeschrittene konventionelle Waffen als auch über ein chemisches und nukleares Arsenal verfügen.“4

Diese Einschätzung wurde zur Grundlage für die militärische Strategie der Regierung Clinton. In der „Bottom-Up Review“ (BUR), einer grundlegenden Analyse von 1993, kam das Verteidigungsministerium zu dem Ergebnis, ungeachtet der vernichtenden Niederlage des Irak seien die USA nach wie vor einer ernsten Bedrohung durch feindliche Mächte der Dritten Welt ausgesetzt. Um dagegen gewappnet zu sein, müsse Amerika einen Militärapparat beibehalten, der in der Lage ist, zwei „große regionale Konflikte“ weitgehend gleichzeitig zu bekämpfen.5 In seinem jüngsten strategischen Überblick („Quadrennial Defense Review“) vom Mai 1997 hat das Pentagon diese Politik bestätigt. Zwar empfahl der Bericht, sich bei einem künftigen Konflikt verstärkt auf den Einsatz von hochtechnologischen Waffensystemen einzustellen, aber man ging auch nach wie vor von einer potentiellen Auseinandersetzung mit „Gangsterstaaten“ aus. Die größte Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten wird in dem Bericht in der Möglichkeit gesehen, „daß Alliierte oder befreundete Staaten der USA in Schlüsselregionen durch Gewaltakte oder massive grenzverletzende Aggressionen seitens feindlicher Staaten bedroht werden, die über bedeutende militärische Kapazitäten verfügen“6 .

Neue Argumente für höhere Militärausgaben

DIESE kontinuitätsbetonte strategische Betrachtungsweise mag Präsident Clinton und seinen Verteidigungsminister William Cohen zufriedenstellen, doch manche Beobachter, im Pentagon und anderswo, nehmen an, daß die potentielle Bedrohung durch „Gangsterregime“ nicht mehr ausreicht, um die weitere Bewilligung erhöhter Verteidigungsausgaben im Kongreß zu gewährleisten. Ihrer Ansicht nach sollten sich die Vereinigten Staaten stärker auf die Gefahren konzentrieren, die von weit mächtigeren Feinden wie Rußland und China ausgehen.

Warum die offizielle, gegen die „Gangsterstaaten“ gerichtete Strategie immer weniger überzeugen kann, erklärt sich aus verschiedenen Faktoren. In der Tat scheint sich die potentielle Bedrohung, die von solchen Staaten ausgeht, deutlich verringert zu haben. Von Nord- Korea etwa wird weitgehend angenommen, daß das Land am Rand einer Hungerkatastrophe steht und deshalb begonnen hat, sein nukleares Arsenal abzubauen. Der Iran hat nach der Wahl des neuen, gemäßigten Präsidenten seine offen aggressive Haltung aufgegeben. Der Irak besitzt nur noch einen Bruchteil seiner einstigen militärischen Stärke und hat die Kontrolle über seine kurdischen Provinzen im Norden des Landes verloren.

Die Kritiker der offiziellen Strategie zeigen sich auch deshalb beunruhigt, weil die potentielle Bedrohung durch „Gangsterstaaten“ in der Dritten Welt kaum als ausreichendes Argument gelten kann, um die Beschaffung neuer hochtechnologischer Waffensysteme zu rechtfertigen. Die meisten Systeme, die im Zuge der militärischen Aufrüstung während der Präsidentschaft Reagan angeschafft wurden, sind spätestens zu Beginn des nächsten Jahrhunderts veraltet. Nach dem Willen des Verteidigungsministers sollen sie durch fortgeschrittenere Systeme wie Kampfflugzeuge der Typen F-22, F/A- 18E/F und Joint-Strike-Jäger ersetzt werden. Die Kosten für diese neuen Waffen werden auf etwa 350 Milliarden Dollar geschätzt (bei konstanten Preisen).7

Um Kredite in dieser Höhe bewilligt zu bekommen, muß das Pentagon überzeugend darlegen, daß die amerikanischen Streitkräfte in den nächsten Jahren auf mächtige und gut gerüstete Gegner treffen werden. Nun sind aber die meisten Waffensysteme der „Gangsterstaaten“ technologisch überholt. Sie können sich kaum mit der derzeitigen Ausrüstung der amerikanischen Armee messen, geschweige denn mit den leistungsfähigeren Systemen, die von den Militärs gefordert werden. Da der Kongreß zudem vor allem das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts im Auge hat, könnten die Forderungen des Pentagon auf starke Opposition stoßen, es sei denn, man könnte das amerikanische Parlament davon überzeugen, daß das internationale Umfeld inzwischen weitaus bedrohlicher geworden sei.

Bei alledem ist zu berücksichtigen, daß die Vereinigten Staaten von der Einfuhr von Rohstoffen, vor allen Dingen von Erdöl, abhängig sind. Das Land bezieht nahezu die Hälfte seines Erdölbedarfs aus dem Ausland. Diese strategisch bedeutsame Abhängigkeit wird sich in den nächsten Jahren erhöhen, da die amerikanischen Reserven, vor allem in Alaska, allmählich zur Neige gehen. Das verstärkt zum einen die Sorgen um gesicherte Importe aus den aktuellen Lieferregionen (insbesondere aus dem Persischen Golf), zum anderen weckt es ein starkes Interesse an zukunftsträchtigen Öl- und Erdgasfördergebieten wie dem Kaspischen und dem Südchinesischen Meer. Aus diesem Grunde verfolgt man die Entwicklung in Rußland, das das Kaspische Meer als sein historisches Einflußgebiet betrachtet, und in China, das einen großen Teil des Südchinesischen Meeres als „nationales Off-shore-Gebiet“8 beansprucht, mit großer Besorgnis.

Inzwischen bezweifeln immer mehr Militärstrategen in den Vereinigten Staaten die noch geltende strategische Doktrin der „Gangsterregime“ und stellen sich auf die Perspektive einer möglichen Auseinandersetzung mit China oder Rußland ein. Sie räumen durchaus ein, daß keines der beiden Länder bislang eine ernsthafte Bedrohung für die amerikanische Sicherheit darstellt. Sie verweisen jedoch darauf, daß sich innerhalb von zehn oder zwanzig Jahren eines dieser Länder zum ebenbürtigen Konkurrenten entwickeln könnte. Die USA müßten schon jetzt beginnen, sich auf eine solche Gefahr vorzubereiten.

Der Anfang 1997 publizierte Bericht des Instituts für Studien zur Nationalen Sicherheit (Institute for National Security Studies – INSS) liefert den deutlichsten Hinweis auf diese Verschiebung der geostrategischen Perspektive. Hier wird zwar betont, das Risiko eines globalen Konflikts sei weitgehend geschwunden, doch könnten die USA „eine militärische Provokation seitens einer bedeutenden Macht nicht völlig ausschließen“. Eine solche Macht wäre zwar kaum imstande, die Vormachtstellung der Amerikaner in der Welt anzutasten, wohl aber könnte sie „stark genug sein, um den Vereinigten Staaten auf einem Kriegsschauplatz in der Nähe ihres eigenen Territoriums als ebenbürtiger Gegner entgegenzutreten“.

Um den Bruch mit dem alten strategischen Denken zu betonen, legt der Bericht des INSS ausführlich dar, was der Unterschied zwischen der aktuellen Bedrohung durch die „Gangsterstaaten“ und jener durch einen potentiellen ebenbürtigen Gegner der Zukunft ist: Letzterer wird über funktionsfähige Atomwaffen verfügen, in der Lage sein, Militärsatelliten in den Weltraum zu entsenden, und er wird ein bedeutendes militärisches Potential unterhalten. Aus diesen Gründen „stellen die potentiellen regionalen Rivalen eine weitaus bedrohlichere Herausforderung dar als die ,Gangsterregime‘“9 . Im Augenblick trifft eine solche Beschreibung lediglich auf Rußland und China zu. Der Bericht weist jedoch darauf hin, daß „eine der größeren Regionalmächte wie Indien im kommenden Jahrzehnt zu einer bedeutenden Militärmacht werden könnte“.

Zwar unterstreichen offizielle Vertreter des amerikanischen Geheimdiensts nach wie vor die potentielle Bedrohung seitens der „Gangsterregime“ in der Dritten Welt, doch auch sie zeigen sich zugleich beunruhigt über die langfristige Gefahr, die von den militärischen Entwicklungen in Rußland und China ausgehen könnte. Rußland, so heißt es, beginne sich allmählich vom wirtschaftlichen Niedergang zu erholen, der bis in die Mitte der neunziger Jahre herrschte. Damit werde es imstande sein, seine bewaffneten Streitkräfte wieder aufzubauen und zu modernisieren. Und China könnte seine wachsende wirtschaftliche Stärke nutzen, um die Grundlage für eine Militärmacht von höchstem Niveau zu schaffen.

Diese neue Einschätzung wurde am 6. Februar dieses Jahres in einer Erklärung vor dem Verteidigungsausschuß des Senats besonders deutlich formuliert. Zum ersten Mal ging General Patrick Hughes, Leiter des militärischen Geheimdienstes (Defense Intelligence Agency, DIA) in seinem Bericht an erster Stelle auf China ein: „Insgesamt zählt China zu den wenigen Mächten, die über das notwendige politische, wirtschaftliche und militärische Potential verfügen, um in zehn bis zwanzig Jahren zu einer beträchtlichen regionalen Bedrohung für amerikanische Interessen zu werden.“ Sollte China künftig seine regionalen Ansprüchen mit größerem Nachdruck verfolgen, „würden die Aussichten auf eine direkte Auseinandersetzung mit anderen regionalen Mächten entsprechend wachsen“. In einem Worst- case-Szenario könnte „China die Vereinigten Staaten als direkte militärische Bedrohung für die Volksrepublik betrachten“.

General Hughes fügte hinzu: „Wie China verfügt auch Rußland über das notwendige Potential, um in zwanzig Jahren zu einer bedeutenden regionalen Bedrohung für amerikanische Interessen zu werden.“ Zwar schließt die wirtschaftliche Schwäche des Landes ein solches Risiko für die nächsten zehn Jahre aus, doch „danach steigt die Wahrscheinlichkeit beträchtlich, daß Rußland erneut zu einem großen und mächtigen regionalen Rivalen der Vereinigten Staaten heranwächst“10 .

Einschätzungen dieser Art finden sich auch in Texten von Wissenschaftlern und think tanks, die Analysen über internationale Sicherheitsfragen liefern. In einem Buch mit dem Titel „The Coming Conflict with China“ stellen Richard Bernstein, Journalist bei der New York Times, und Ross Munro, Mitglied des konservativen Foreign Policy Research Institute in Philadelphia, die Hypothese auf, das Selbstbewußtsein, mit dem China gegenüber den anderen asiatischen Ländern auftritt, könne zu erhöhten Spannungen und eventuell zum Krieg mit den USA führen.

Rußland und China, die alt-neuen Feinde

DIE Stimmen, die das von Rußland ausgehende Gefahrenpotential betonen, verweisen vor allem auf die Beziehungen zwischen Moskau und den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien und die strategisch entscheidende Bedeutung des Erdöls am Kaspischen Meer. Mehrere einstige Mitglieder der republikanischen Reagan- und Bush-Regierung, die als bezahlte Berater für amerikanische Erdölgesellschaften arbeiten, sind im übrigen damit beschäftigt, eine öffentliche Besorgnis über die potentielle Bedrohung dieser Region durch Rußland zu erzeugen. Caspar Weinberger, Verteidigungsminister unter Ronald Reagan, ließ im Mai 1997 die Alarmglocke ertönen: „Zu der Zeit, da der Westen die offenbare Erweiterung der Nato in Mitteleuropa feiert, strebt Rußland danach, einen eigenen strategischen Sieg einzufahren, nämlich den Zugriff auf die Energievorkommen in der Region am Kaspischen Meer. Sollte Moskau erfolgreich bleiben, wäre dieser Sieg vielleicht bedeutsamer als die Nato- Erweiterung für den Westen.“11

Unter den außenpolitischen Experten der USA gibt es zwar eine gewisse Spannung zwischen den Fraktionen, die jeweils China oder Rußland als die wahrscheinliche künftige Feindmacht sehen, doch beide Fraktionen warnen übereinstimmend vor der militärischen Zusammenarbeit, die sich zwischen Moskau und Peking anbahnt. So haben im Juli 1997 amerikanische Abgeordnete einen Gesetzentwurf eingebracht, wonach die amerikanische Hilfe an Rußland eingestellt werden soll, wenn Moskau weiterhin SS- N-22-Raketen an China verkauft.

Wenn sich in Washington dieses Klima des Mißtrauens gegenüber „ebenbürtigen Rivalen“ durchsetzen sollte, würde es die internationale Szene insgesamt nachhaltig verändern. Dann würden die Fortschritte im Dialog zwischen der Nato und Rußland in Frage gestellt, und überall an der Peripherie der ehemaligen Sowjetunion könnten neue Spannungsherde entstehen. Die Beziehungen zwischen China und Amerika würden sich verschlechtern, und die chinesische Haltung zu so sensiblen Themen wie Taiwan und Südchinesisches Meer dürfte sich verhärten. Im schlimmsten Fall könnte die Welt erneut einen kalten Krieg mit zahlreichen internationalen Reibungspunkten erleben.

Eine solche Perspektive liegt derzeit außerhalb der offiziellen politischen Linie in den USA. Immer noch gilt die Hauptsorge den „Gangsterregimen“ und nicht der möglichen Bedrohung durch Rußland oder China. Das gilt auch für die Einschätzungen, die bis heute im Verteidigungsministerium dominieren.

Ungeachtet der Differenzen, die mit Rußland und China über die Lieferung von militärischem Gerät und Atomwaffen, vor allem in den Iran, bestehen, hat die Regierung Clinton zu beiden Ländern nach wie vor freundschaftliche Beziehungen. Um die Verärgerung in Moskau über die Nato-Erweiterung zu besänftigen, bemühte sich Washington demonstrativ um die Unterzeichnung einer Partnerschaft zwischen der Allianz und Rußland. Auch die amerikanische Kritik an Menschenrechtsverletzungen in Peking ist deutlich leiser geworden. Bei alledem spielen natürlich wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Schließlich ist China einer der wichtigsten Handelspartner der Vereinigten Staaten, und die Entstehung eines gigantischen Marktes eröffnet für amerikanische Firmen immense Chancen.

Inzwischen ist die Debatte über „ebenbürtige Rivalen“ in den Vereinigten Staaten kein marginales Thema mehr, und sie beginnt allmählich auch die Strategien des Pentagon zu beeinflussen. Vieles wird davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und China einerseits und Rußland andererseits entwickelt. Sollte jedoch irgendwann ein Konflikt ausbrechen, in den Washington und entweder Moskau oder Peking verwickelt wären, würde man die noch geltenden Strategien ganz sicher über Bord werfen, und in der amerikanischen Außenpolitik dürften wieder die „Hardliner“ die Oberhand gewinnen.

dt. Erika Mursa

* Professor für internationale Beziehungen am Hampshire College, Amherst, Massachusetts.

Fußnoten: 1 Vgl. Michael Klare, „Rogue States and Nuclear Outlaws: America's Search for a New Foreign Policy“, New York (Hill and Wang) 1995. 2 Vgl. Nur Dolay, „Rußland pokert mit kaukasischem Erdöl“, Le Monde diplomatique, Juli 1995, und Vicken Cheterian, „Kaukasische Pipelinenetze und politische Knotenpunkte“, Le Monde diplomatique, Oktober 1997. 3 Dies belegt der Artikel von Michael Gordon, „Military Services Propose Slashes in Existing Forces“, der am 12. Mai 1990 in der New York Times erschien. 4 Erklärung vor dem Außenpolitischen Ausschuß des Repräsentantenhauses am 19. März 1991. 5 Vgl. US-Verteidigungsministerium, „Bottom-Up Review: Force Structure Excerpts“, Washington, 1. September 1993, und Michael Gordon, „Military plan would cut forces but have them ready for two wars“, The New York Times, 2. September 1993. 6 US-Verteidigungsministerium , „Report of the Quadrennial Defense Review“, Washington, Mai 1997. 7 vgl. „Congress Pursues Balanced Budget“, Aviation Week and Space Technology, 17. Februar 1997. 8 Zum Thema Vereinigte Staaten und Kaspisches Meer vgl. Hugh Pope, „Great Game II: Oil Companies Rush Into the Caucasus to Tap the Caspian“, The Wall Street Journal, 25. April 1997. Zu China und dem Chinesischen Meer vgl. Samuel Kim, „China as a Great Power“, Current History, September 1997. 9 Institute for National Security Studies, National Defense University, „1997 Strategic Assessment“, Washington, 1997, S. 233. 10 General Patrick Hughes, „A DIA Global Security Assessment“, Defense Issues, 6. Februar 1997. Im Internet abrufbar unter http://www.defenselink.mil unter dem Datum 2. September 1997. 11 Caspar Weinberger und Peter Schweizer, „Russias Oil Grab“, The New York Times, 9. Mai 1997.

Le Monde diplomatique vom 14.11.1997, von MICHAEL KLARE