14.11.1997

Vom Einsatz UND Nutzen der Regularisierung

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Vom Einsatz UND Nutzen der Regularisierung

Von EMMANUEL VAILLANT *

IN der Geschichte der Einwanderung nach Frankreich wurde von jeher das Regularisierungsverfahren als Mittel zur Registrierung und Integration von Ausländern eingesetzt. Von den fünfziger Jahren bis in die Siebziger hinein hatten die französischen Betriebe auf dem internationalen Arbeitsmarkt einen starken Wettbewerb zu gewärtigen. Damals konnte ein Arbeitsminister Jean-Marcel Jeanneney unumwunden erklären, die illegale Einwanderung sei „gar nicht einmal so unnütz“, denn wenn man auf der strikten Einhaltung der internationalen Regelungen und Übereinkünfte bestünde, hätte das Land gewiß einen Arbeitskräftemangel1 . Ein wahrer Blankoscheck für die Unternehmen, die daraufhin ohne Zaudern mit Hilfe spezialisierter Agenturen unmittelbar in den Ursprungsländern den eigenen Bedürfnissen entsprechende Arbeitskräfte rekrutierten.

Damit wurden die gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren, die den Bereich der Beschäftigung von Ausländern regelten, in großem Bogen umgangen. Von den 2,4 Millionen ständigen Arbeitnehmern, die zum Wachstum der französischen Wirtschaft beigetragen haben, wurden 1,4 Millionen, also fast 60 Prozent, erst nachträglich2 vom französischen Einwanderungsamt (Office national de l'immigration – ONI)3 regularisiert, obwohl dieses von Gesetzes wegen das Monopol auf die Arbeitsvermittlung hatte.

Als Anfang Juli 1974 die Einwanderung nach Frankreich offiziell gestoppt wurde, gab es keine begründete Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften mehr. Der endgültige Verbleib eingewanderter Bevölkerungsgruppen im Lande gab Anlaß zu den ersten öffentlichen Reden über eine „dringend notwendige Integration“, und nach und nach verbreitete sich das Gegenbild des „straffälligen Illegalen“.4

Als subtiler Kompromiß zwischen der wirtschaftlichen Notwendigkeit billiger, leicht zu mobilisierender Arbeitskräfte einerseits und dem politischen Anliegen einer Bekämpfung der illegalen Einwanderung andererseits wurden Illegale „regularisiert“, eine Maßnahme, die als „Ausnahme“ ausgegeben wurde. Denn die illegale Einwanderung galt als ein Störfaktor für die Integration der bereits regulär im Lande lebenden Ausländer.

Illegale Einwanderung und Regularisierungen sind zwei typische Phänomene eines jeden Landes mit Wanderungsgeschichte: das eine ist permanent, das andere periodisch. Anders als Frankreich haben zahlreiche Länder der OECD (Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) erst zu Beginn der siebziger Jahre Regularisierungsverfahren eingeleitet: Kanada 1973, die Niederlande 1975 und 1980, Großbritannien 1977, Australien 1973, 1976 und 1982. Sie reagierten damit auf die hohe Rate illegaler Einwanderung, die sie selbst mit ihrer Politik der Einschränkung bzw. Aussetzung jedes rechtmäßigen Zuzugs hervorgerufen hatten.

Auch die Vereinigten Staaten starteten 1986 ein Programm, das mehr als 3 Millionen illegal eingewanderten Ausländern zu einer Aufenthaltsgenehmigung verhalf. Alle diese Länder standen vor demselben Problem: Die illegale Einwanderung – eine Erscheinung, die es einzudämmen galt – hat ihren Grund zum einen in einem heimlichen Zuzug und zum anderen in der Tatsache, daß viele Ausländer zwar legal eingewandert waren, doch dann durch Gesetzesänderungen oder ein Verbleiben im Lande über den genehmigten Zeitraum hinaus in die Illegalität abgerutscht waren. In Frankreich waren 1981-1982 etwa 90 Prozent der 124000 regularisierten Ausländer ursprünglich völlig legal ins Land gekommen. Dasselbe gilt auch für die in diesem Jahr verzeichneten 110000 Anträge. Diese Zahl zeigt, wie sehr das Bild von der „Schwemme illegaler Einwanderer“ trügt, obwohl zwischen den beiden Regularisierungen fünfzehn Jahre verstrichen sind.

So bestehen die Regularisierungsprogramme im wesentlichen darin, die übermäßige Härte einzelner Rechtsvorschriften bestimmten Ausländern gegenüber anzuerkennen, wie man es in den letzten Jahren in einigen europäischen Ländern bezüglich einer Einwanderung jüngeren Datums erleben konnte. Spanien, Italien und Portugal haben jeweils 1985, 1987 und 1993 einem Teil der „Illegalen“ zu einem Leben in der Legalität verholfen. Dieselben Maßnahmen ergriffen diese Länder dann nochmals 1996, da sich bei den vorangegangenen Aktionen nicht sämtliche „Illegalen“ erfassen ließen, während Griechenland ein besonderes Programm ausarbeitet, das vom nächsten Jahr an umgesetzt werden dürfte.

Ein neuer Menschentypus

DENN jede Nation regularisiert periodisch „ihre“ Illegalen. Diese Verfahren laufen nicht reibungslos ab. In Italien, wo (wie in Frankreich) die Einwanderung ein politisches Kampfthema ist, hat sich „das Phantom der Invasion aus dem Balkan, aus Nordafrika oder dem Nahen Osten in erster Linie als ein Produkt sozialer Angst erwiesen, die sich aus dem Wechselspiel von allgemeinem Sicherheitsbedürfnis, medialem Druck und einem negativen Selbstbild des Landes speist. In Wirklichkeit ist die illegale Einwanderung in Italien in erster Linie endogen: Die meisten außerhalb der Legalität lebenden Einwanderer sind Ausländer, deren Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen ist und nicht verlängert wurde.“5

Umgekehrt wurde in Portugal, wo die rechtmäßige Einwanderung in fünf Jahren um 35 Prozent stieg, 1996 das nationale Regularisierungsprogramm einstimmig vom Parlament verabschiedet. Die Hilfsorganisationen für Ausländer verteilten in der Hauptstadt Flugblätter, T-Shirts und Aufkleber, um in der Öffentlichkeit den hochoffiziellen Reden von der „präventiven Integration“ Realität zu verleihen.

Außerdem wurden die Schalter, an denen man die Regularisierung beantragen konnte, aus Sorge um den „Schutz dieser ohnehin gefährdeten, außerhalb der Legalität lebenden Bevölkerungsgruppe“ bevorzugt in den Räumlichkeiten der Hilfsorganisationen eingerichtet anstatt in Einwohnermeldeämtern oder ähnlichem. Schließlich wurden 35000 Regularisierungsanträge registriert. Polizeikontrollen an den Grenzen und ein Ausbau der Verwaltungsmittel dokumentierten in Portugal wie auch anderswo den Willen der Behörden, dieses Verfahren als „Regelung einer inneren Angelegenheit“ anzusehen.

Die Regularisierungsmaßnahmen betreffen jedoch nicht alle illegal sich aufhaltenden Ausländer gleichermaßen. Entscheidend ist, welche Kriterien behördlicherseits festgelegt werden, wobei die Arbeitssituation ein wesentlicher Faktor ist. Eine vergleichende Untersuchung von Jean-Pierre Garson, Leiter der Migrationsabteilung der OECD, über die Regularisierungserfahrungen in Frankreich (1981-1982), Spanien (1985), den Vereinigten Staaten (1986) und Italien (1987) zeigt, daß die unter illegalen Bedingungen lebenden Ausländer – von denen 70 bis 80 Prozent Männer und davon wiederum 70 bis 90 Prozent unter 40 Jahre alt sind – auf dem Arbeitsmarkt eine wesentliche Rolle spielen. In den USA waren die Hälfte der Betroffenen, ca. 1,3 Millionen Menschen, Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. In den drei anderen Ländern waren die regularisierten Ausländer größtenteils in kleinen Bau-, Bekleidungs- und Dienstleistungsfirmen beschäftigt. Sie verrichteten im allgemeinen die unqualifiziertesten, unsichersten und unangenehmsten Tätigkeiten.

Diese Ergebnisse lassen Zweifel aufkommen an einer Marktwirtschaft, die auf illegale Arbeitskräfte, (das heißt auf Arbeiter mit Niedrigstlöhnen, ohne sozialen Schutz oder Arbeitsvertrag) zurückgreifen muß. Da diese Ausländer einen festen Platz in der Wirtschaft einnehmen, können sie auf eine Regularisierung hoffen. Doch ist dies oft zwar eine notwendige, keineswegs aber eine hinreichende Bedingung. Denn auch andere Kriterien als die Arbeit spielen hinein.

Der prozentuale Anteil einzelner Nationalitäten innerhalb der regularisierten Ausländer etwa entspricht ziemlich genau dem jeweiligen prozentualen Anteil der regulär bereits in den Ländern Lebenden. In den USA waren 75 Prozent der regularisierten Ausländer Mexikaner, während in Frankreich, Italien und Spanien afrikanische Bürger am häufigsten vertreten waren: 60 Prozent in Frankreich und 35 Prozent in Spanien und Italien.6 Ebenso stammten in Portugal drei Viertel der 1996 regularisierten Ausländer aus den früheren Kolonien7 .

Im Gegensatz zu dem rein mechanistischen Ansatz, den die Einwanderungsregelungen nahelegen, orientiert sich der freie Personenverkehr der Menschen zumeist an geographischer Nähe, traditionellen Beziehungen zwischen einzelnen Ländern sowie an sehr persönlichen und oftmals individuellen Bindungen. Vom Datumsstempel der Einreise ins Staatsgebiet über die Heiratsurkunde bis hin zur Geburtsurkunde der Kinder – in der Hoffnung auf eine mögliche Regularisierung reihen die Ausländer Beweis an Beweis, um ihre besondere Beziehung zu dem Land zu dokumentieren.

Die Ereignisse des Sommers 1996, als Einwanderer aus französischen Kirchen ausgewiesen wurden, sind in dieser Hinsicht bezeichnend. Mit den „Arbeitern ohne Papiere“ trat ein neuer Menschentypus in der Gesellschaft auf. Er brachte den Konsens über die berühmten Pasqua-Gesetze ins Wanken und machte zwei Kategorien von Ausländern hoffähig: jene, die regularisiert sind und sich zu integrieren haben, und jene, die illegal sind und das Land zu verlassen haben. Indem sich die „Papierlosen“ in die alltägliche Ausgrenzungslandschaft einfügten und sich dem Heer der Arbeitslosen und Obdachlosen zugesellten, zerstreuten sie das Bild vom illegalen Eindringling, der sich in zwielichtigen Kreisen bewegt. Die Papierlosen haben zumeist eine reguläre Arbeit, ein Familienleben, kennen Land und Leute und sind sozial und kulturell eingebunden – und bringen infolgedessen alles mit, um als vollwertige Mitglieder der französischen Gesellschaft anerkannt zu werden.

Die zur Regularisierung vorgesehenen Ausländer8 sind in 11 Kategorien unterteilt, darunter „Ehegatten von Franzosen“, „Eltern von in Frankreich geborenen Kindern unter 16 Jahren“, „Ausländer ohne Familie, die jedoch in der französischen Gesellschaft Fuß gefaßt haben“, „Ausländer mit schweren Krankheiten“.

Ob über eine Gesamtkategorie („ohne Papiere“) oder über Unterkategorien: die Ausländer selbst greifen die Kontrollformen der symbolischen Identitäten auf und überbieten sich in der Hoffnung auf Integration. Auch die Hilfsorganisationen beteiligen sich, indem sie sich zu einer irrealen „Weltbürgerschaft“ bekennen, an den Denkstrukturen der Behörden. Denn ist nicht in dem Slogan der einen – „Papiere für alle!“ – und in dem der anderen – „Papiere für bestimmte Gruppen!“ – der Begriff „Papiere“ das Wichtigste?

Vermittelt über das Bild vom irregulären Ausländer inszenieren letztlich alle „eine spezielle Vorstellung der französischen Nation“. In diesem Sinne betrifft die Regularisierung nicht nur die Ausländer. Sie hat auch einen symbolischen Nutzen für die Franzosen. Sie redet von der französischen Nation. In einer Zeit, da der Staat seine Macht schwinden sieht – allen voran seine Wirtschaftsmacht – und da der soziale Zusammenhalt nicht mehr funktioniert, scheint der Staat zu versuchen, zumindest auf dem Gebiet der Einwanderungsfrage seine Vorrechte zu behaupten: Die Frage der Zugehörigkeit zur Nation ist gewissermaßen das letzte Terrain, auf dem er Definitionsmacht bezüglich des sozialen Zusammenhalts einzusetzen vermag. „Grundlage unserer Politik ist die Integration in die Republik“9 , bekräftigte der Innenminister gerade im rechten Augenblick.

Da der Staat jedoch nur genau spezifizierte Gruppen von Ausländern für die Regularisierungsmaßnahmen vorsieht, wird es immer andere Gruppen von Ausländern geben, die von diesem Verfahren ausgeschlossen – und folglich illegal – bleiben. Da also nicht sämtliche illegalen Ausländer angesprochen werden, geht der Staat das Risiko ein, eines Tages weitere Regularisierungen vornehmen zu müssen, und gibt Wasser auf die Mühlen all derer, die seine angebliche Unfähigkeit anprangern, die unrechtmäßige Einwanderung in den Griff zu bekommen.

dt. Sabine Scheidemann

* Journalist, Paris.

Fußnoten: 1 Les Echos, 29. März 1966. 2 Daten des ONI, zitiert von Jean-Pierre Garson in „Migrations clandestines, régularisations et marché du travail en France“, Arbeitsdokument für das Internationale Arbeitsamt (IAA), Dezember 1985. 3 Diese 1945 eingerichtete öffentliche Stelle wurde 1987 durch die Internationale Organisation für Wanderung (IOM) ersetzt. 4 Vgl. dazu Catherine Wihtol de Wenden, „Contre quelques idées reçues sur l'immigration“, Les Annales de la recherche urbaine, Nr. 49, Dezember 1990, und Claude-Valentin Mane, „Entre économie et politique: le ,clandestin‘, une figure sociale à géométrie variable“, Pouvoirs, Nr. 47, 1988. 5 Salvatore Palidda, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Parma. 6 Vor allem die Marokkaner, die traditionsgemäß nach Italien und Spanien einwandern. Im Falle Frankreichs kommen die Tunesier und die Afrikaner aus dem Gebiet südlich der Sahara hinzu. 7 Angola, Kap Verde, Guinea-Bissau, Mosambik und São Tomé und Principe. 8 Diese Kategorien greifen die Vorschläge der Beratenden Menschenrechtskommission auf. 9 Le Monde, 26. Juni 1997.

Le Monde diplomatique vom 14.11.1997, von EMMANUEL VAILLANT