14.11.1997

An den Grenzen der Freiheit

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An den Grenzen der Freiheit

KAUM war die französische Linke wieder an der Macht, sah sie sich konfrontiert mit der Bewegung der sans-papiers – der „Schattenmenschen“, das heißt der Ausländer, die illegal in Frankreich leben, weil sie keine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Konfrontiert mit der Frage ihrer „Regularisierung“ (wie man in Frankreich sagt) und ganz allgemein einer Reform des Asylrechts und der Einreise- und Aufenthaltsbedingungen für Ausländer. Wie im Wahlkampf versprochen, rief die Regierung Lionel Jospin im Juni 1997 die Illegalen auf, sich bei den Behörden zu melden und eine „Regularisierung“ zu beantragen. Eine Einzelfallprüfung wurde zugesichert. Und man bildete eine Kommission unter dem Vorsitz von Patrick Weil, die Änderungen zu den geltenden Rechtsvorschriften zu erarbeiten hatte. Diese Änderungsvorschläge gingen in ihren Grundzügen in die Gesetzentwürfe des Justiz- und des Innenministers ein und wurden im September im Kabinett verabschiedet. Zuletzt stimmte auch das Parlament diesen Entwürfen zu.

Die französische Regierung hat sich also fraglos bemüht, getreu dem verkündeten Ziel die geltenden Rechtsvorschriften zu durchforsten und dabei die umstrittensten Bestimmungen zu beseitigen, die immer mehr Illegale produziert haben; dabei hat man aber die generelle Linie der Einwanderungspolitik der letzten zwanzig Jahre beibehalten und aus Angst vor einem Anstieg des Rechtsextremismus auch keine nationale Debatte initiiert.

Schon immer war die Rechtsstellung der Ausländer – in Frankreich wie in den meisten anderen Ländern – alles andere als vorbildlich, was die Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten betrifft. Das uralte Mißtrauen der seßhaften Landbevölkerung gegenüber den Nomaden wie auch die spätere Feindseligkeit der Bourgeoisie gegenüber den besitzlosen Vagabunden (Menschen ohne Haus und Herd, elenden Bettlern, Schiffern oder Tagelöhnern, Bohémiens und Zigeunern, fahrenden Gesellen aus fremden Ländern oder Fremden aus dem eigenen Land, die allesamt Vorläufer unserer heutigen Obdachlosen und Ausgegrenzten sind) hat schon immer zu deren Stigmatisierung mittels spezieller „Papiere“ geführt, vom „Arbeitsbuch“ oder dem „Sonderheft für Gaukler“ im letzten Jahrhundert bis hin zur heutigen „Aufenthaltskarte“. Sie waren und sind die Voraussetzung für unzählige Kontrollen durch Verwaltung und Polizei. In Krisenzeiten, wenn Arbeitslosigkeit und Angst um den Arbeitsplatz Millionen Haushalte in Unsicherheit stürzen, schwindet die Neugier auf das Fremde, statt dessen grassieren Angst, Mißtrauen, ja Feindseligkeit: Der Ausländer wird als Bedrohung wahrgenommen und zum Ziel eines allgemeinen Ressentiments. Unter dem Vorwand, die Einwanderungsströme in den Griff bekommen zu wollen, hat sich das Land zunehmend hinter dieser repressiven Logik verschanzt: in den Gesetzen von 1980 und 1981 („loi Bonnet“ und „Securité et liberté“), mit der Einrichtung der Schengen-Zone und zuletzt mit den Gesetzen von 1993 und 1997 („loi Pasqua“ und „loi Debré“).

Doch diese Maßnahmen sind der Wirklichkeit nicht angemessen. Jedes Jahr reisen etwa 1,2 Milliarden Menschen in die Länder der Schengen-Zone ein oder aus ihnen heraus. Allein 300 Millionen, davon 130 Millionen Ausländer und 60 Millionen Touristen, kommen über die Grenzen Frankreichs. Zwischen den beiden Volkszählungen von 1982 und 1990 hat nahezu die Hälfte der 58 Millionen Franzosen innerhalb des Landes den Wohnort gewechselt; die Zahl der in Frankreich lebenden Ausländer ist dabei mit etwa 4 Millionen stabil geblieben. 2,5 Millionen von ihnen sind Nichteuropäer, was der entsprechenden Relation innerhalb der Europäischen Union entspricht, in der von 370 Millionen Einwohnern 13 Millionen Ausländer sind. Dies bedeutet einerseits, daß sich die wachsende Mobilität der Menschen weder in Frankreich noch in Europa in einer massiven Ansiedlung von Bevölkerungsgruppen niederschlägt, die irgendeine Bedrohung darstellen könnten. Andererseits ist es illusorisch, solche Massenbewegungen strikt zu kontrollieren, es sei denn, man will ein polizeiliches Überwachungssystem installieren, das alle Menschen überall überwacht, unangemessen groß und kostenintensiv ist und nur dann zuverlässig funktionieren kann, wenn es die politischen Freiheitsrechte mit Füßen tritt, was freilich eine reale Gefahr darstellt.1

Während der Einwanderungsdruck eher Mythos als Realität sein dürfte, ist die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen eine reale Bedrohung, die viele Einwanderer ebenso trifft wie die Durchschnittsbürger, die in den Wohnvierteln und Vorstädten Tür an Tür mit ihnen leben. Zudem hat die Politik des „Einwanderungsstopps“ die schädliche Auswirkung, daß die Zuwanderung für illegale Arbeiter immer teurer wird, mit der Folge, daß sie, um diese Kosten abzuzahlen, auf ungewisse Zeit brutalster Ausbeutung ausgesetzt sind. Die verantwortlichen Betriebe, die sich nicht an die Gesetze halten, müssen mit nur geringfügigen Sanktionen rechnen. Ein Teil der Arbeitgeber reagiert auf erwartete Weise: protegiert von den örtlichen Behörden gelingt es ihnen, besonders „flexible“ Arbeiten „auszulagern“, indem sie Arbeitskräfte aus dem Süden zu den Konditionen des Südens engagieren.

ERSCHRECKEND ist dabei vor allem die heilige Einfalt der führenden Politiker, die sich einbilden, das Erstarken der Rechtsextremisten mit Hilfe „gemäßigt repressiver“ ausländerrechtlicher Regelungen stoppen zu können. Dabei hatte die extreme Rechte gerade in der Periode der Pasqua-Gesetze kräftig an Stimmen gewonnen, während sie die neueren Regierungsvorlagen ungelesen sofort als „ideologischen Wahn der Sozial-Kommunisten“ anprangerte und dabei prompt Schützenhilfe von einem kleinen Teil der gemäßigten Rechten erhielt. Die Geschichte (und nicht zuletzt die sozialen Bewegungen vom Dezember 1995) lehrt, daß der Front National nicht durch Kompromisse, sondern nur durch ein beharrliches Festhalten an Prinzipien und Überzeugungen aufgeweicht werden kann. Nehmen wir das Beispiel der Pressefreiheit: Sie ist bekanntlich mit jeglicher Zensur unvereinbar, die nur zu leicht zu einer permanenten Meinungspolizei führen kann, und dennoch ist sie an die Einhaltung der Gesetze gebunden, deren Übertretung gerichtlich geahndet werden kann. Die Gewährung aller anderen Freiheiten sollte sich nach denselben Prinzipien richten, und das gilt auch für die grundsätzliche Gewährung der Freizügigkeit. Es gibt nicht den geringsten Grund, dieses Prinzip aufzugeben.

Der Staatsrat wie der Hohe Rat für Integration haben in den fraglichen Gesetzentwürfen keine einzelne antifreiheitliche Bestimmung ausgemacht (einzige Ausnahme: die zeitliche Länge der erlaubten Verwahrung), und tatsächlich gibt es keine. Die Kritik der Linken, der Intellektuellen, der Gewerkschaftsbewegung, wie auch der Widerstand bei den in der Nationalen Beratungskommission für Menschenrechte vertretenen Verbänden, bezieht sich weniger auf die einzelnen Modalitäten als auf die Tatsache, daß sich die politische Richtung der neuen Gesetzentwürfe nicht grundsätzlich von der bisherigen Politik unterscheidet.

Eine Festung zu schaffen, die ohnehin niemand belagert, kann keine Lösung sein. Diese liegt vielmehr in einer dauerhaften Politik der gemeinsamen Entwicklung von Nord und Süd, wie sie Sami Nair, Berater des neuen Innenministers, in seinem Buch „Contre les lois Pasqua“2 vorgeschlagen hatte. Denn das Problem Frankreichs und Europas ist nicht die Einwanderung, die eher eine Chance als eine Bedrohung darstellt, sondern die Zunahme der Arbeitslosigkeit, der Armut und der Ungleichheit.

CHRISTIAN DE BRIE

Fußnoten: 1 Vgl. „Polizeihochburg Europa“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996. 2 Sami Nair, „Contre les lois Pasqua“, Paris (Arléa) 1997.

Le Monde diplomatique vom 14.11.1997, von CHRISTIAN DE BRIE