14.11.1997

Archive im Zeugenstand

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Archive im Zeugenstand

Von EDGAR ROSKIS *

ES geht das Gerücht, daß die Militärchefs der westlichen Welt, als sie erstmals Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ (1926) sahen, sich besonders vom fünften und letzten Akt beeindruckt zeigten: jene Sequenz, in der sich die gesamte, in Odessa stationierte russische Flotte dem meuternden Schiff anschließt. Dabei beunruhigte die Militärs nicht so sehr die Tatsache, daß die seit 1905 (wegen schlechter Verpflegung und menschenunwürdiger Zustände) im Aufstand befindliche Mannschaft in der Lage war, andere Seeleute mit ihrem revolutionären Elan anzustecken und sie in ihrem Kielwasser mitzuziehen. Weit mehr imponierte ihnen angeblich das zahlenmäßige und qualitative Potential der russischen Flotte. Die Bilder, so heißt es, seien ihnen derart bedrohlich erschienen, daß sie beschlossen, ihre eigenen Flotten aufzurüsten, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Welch unnötige Vorsicht, welch vergebene Mühe! Zumal wenn man weiß, was bei den Dreharbeiten zu „Panzerkreuzer Potemkin“ wirklich geschah. Sergej Michajlowitsch Eisenstein hatte mit dem Admiral der russischen Flotte vereinbart, daß diese den Hafen erst verlassen solle, wenn er am Kai zum Zeichen den Arm heben würde. Doch unbeabsichtigt machte ein Assistent Eisensteins vorzeitig eine Handbewegung. Der Admiral, der dieses Zeichen für das vereinbarte Signal hielt, gab darauf den Befehl, in See zu stechen. Es war jedoch noch kein Film in der Kamera und eine Umkehr der Schiffe unmöglich. Das Team war in heller Aufregung. Doch Eisenstein beschied gelassen: „Das gleichen wir später mit einer Archivsequenz aus.“ Das Archivmaterial, das Eisenstein auswählte, zeigte allerdings das Manöver eines deutschen Geschwaders ...1

Die Moral – oder Immoralität – der Geschichte besteht nicht in der Art, wie Eisenstein sich aus der Affäre zog. Schließlich weiß auch jeder, der sich einmal das Schnittmaterial von „Las Hurdes“ ansehen konnte, daß es in diesem „realistischen“ Dokumentarfilm, den Buñuel 1932 über die extreme Armut in jener spanischen Bergregion gedreht hat, von Mehrfacheinstellungen und falschen Anschlüssen nur so wimmelt; daß die tödlich erkrankten Kinder andere sind als die, deren Sterben die Kamera einfängt. Daß Buñuel, um zwei von einem Felsen herabstürzende Ziegen zu filmen, sie ohne zu zögern mit der eigenen Pistole erschoß, um die Aufnahmen zu beschleunigen. Nein: Die Lehre, was den fünften Akt von „Panzerkreuzer Potemkin“ betrifft, steckt in dem blinden Glauben, den alle Welt der „Wahrheit“ der Bilder entgegenbringt.

Man hat nie aufgehört, mit den Bildern – auch mit denen aus Archiven – zu spielen. Bei dem Treffen zwischen Pétain und Hitler im Oktober 1940 in Montoire wurde der für die Filmaufnahmen zuständige Kameramann von einem deutschen Offizier im entscheidenden Moment abgelenkt und verpaßte so den historischen Händedruck. Zur Erbauung von Generationen wurde die Szene nachträglich als Standbild eingefügt. Ein Kavaliersdelikt: Eine kleine Fälschung, wenngleich im Sinne der Wahrheit. Doch nicht alle Dokumente, die wir geboten bekommen, sind so nah an dem wirklichen Geschehen, für welches sie eingesetzt werden.

„Man kann Archivaufnahmen zu jeder beliebigen Aussage benutzen“, meint Sylvie Lindeperg, Filmhistorikerin und Autorin von „Les Écrans de l'ombre“2 . „Die Begeisterung für Geschichtssendungen und deren Boom auf allen Fernsehkanälen dank der unerwarteten Öffnung bislang unzugänglicher Archive – ich denke besonders an die ehemaligen Ostblockländer, aber auch an die Archive von CIA, Pentagon, MI5 sowie französischer Ministerien – haben einen perversen Effekt: Stößt man unvermutet auf ein bislang geheimes Dokument, glaubt man es mit einer ,Enthüllung der Wahrheit‘ zu tun zu haben. Doch wie alle Bilder enthalten Archivaufnahmen zwar Wahrheit, reden aber keinesfalls wahr. Man muß erst wissen, wie man sie zu bewerten, zu vergleichen und in eine historische Perspektive einzuordnen hat. Darum rede ich zunächst lieber einfach von einem ,Dokument‘, bis der Status als historisches Zeugnis zweifelsfrei erwiesen ist.“

In „Les Écrans de l'ombre“ erzählt Sylvie Lindeperg außerdem , wie ein und dasselbe Filmdokument, „Die Befreiung von Paris“ – in dem zu sehen ist, wie General de Gaulle am 26. August 1944 zum Pariser Rathaus marschiert und seine berühmte Rede an das „geschändete, doch befreite“ Paris hält –, sich als Material für verschiedenste Montagen und verschiedenste Lesarten eignete, je nach den politischen Standpunkten, welche die einzelnen Vertreter im „Befreiungskomitee des französischen Films“ einnahmen: Ausgehend von ein und demselben Dokument sieht man mal einen vergötterten, mal einen ausgebuhten de Gaulle.3

Das führt uns zum „Kuleschow- Effekt“. Lew Kuleschow (1899-1970) unternahm ein spannendes filmisches Experiment: Auf der einen Seite ein Schauspieler (Georges Bigot), der starr und ausdruckslos in die Kamera schaut. Auf der anderen Seite drei Bilder: ein Teller dampfende Suppe, ein spielendes Kind und eine in einen Sarg gebettete Frau. Unwillkürlich verbindet man als Zuschauer – so der „Kuleschow-Effekt“ – die einzelnen Bilder mit der ausdruckslosen Nahaufnahme des Schauspielers, und dann vermeint man nacheinander den Ausdruck von Hunger, Freude und Trauer darin ausmachen zu können.

Auf dem Symposium des Dokumentarfilms, das diesen Sommer in Lussas (Ardèche) zum neunten Mal stattfand, trieb Gérald Collas, Produzent am Institut national de l'audiovisuel (INA), den Spott so weit, einen Film namens „El grito del sur: Casas viejas“ (Der Schrei des Südens: Alte Häuser) ins Programm eines Seminars zum Thema „Die Archive im Zeugenstand: der Wahrheitsbeweis“ zu nehmen. Es handelt sich um einen Film über den Aufstand anarchistischer andalusischer Bauern von 1933 im republikanischen Spanien. Ursprünglich hatte der Regisseur Basilio Martin Patiño dieses Ereignis, das für die Spanier ebenso wichtig ist wie die Bombardierung Guernicas, dokumentieren wollen, doch er mußte feststellen, daß keinerlei Bildmaterial erhalten geblieben war. Daraufhin beschloß Patiño, den die Archive so sträflich im Stich gelassen hatten, sich das nötige dokumentarische Material selbst zu produzieren. Er erfand einen britischen Dokumentarfilmer, der mit geschulterter Kamera den Schußwechsel zwischen der aufständischen Bauernfamilie und der Guardia Civil in einem Stummfilm festgehalten haben wollte. Desweiteren erfand Patiño ein komplettes Filmteam von Sojus-Kino Sowjetica, dem kein Detail des Kampfes entging und dessen Kameramann die verblüffende Gabe der Allgegenwart besaß, so daß er gleichzeitig und mit nur einer Kamera bei den Belagerten wie bei den Belagerern filmen konnte. Kurz gesagt: alles war gefälscht. Nur das Ereignis selbst war „wahr“.

Jean-Louis Comolli, ein erfahrener Dokumentarfilmer und Filmprofessor, war von der Vorführung von „Casas viejas“ begeistert. Seit einigen Jahren arbeitet er über die hauchdünne Grenze zwischen Wahrem und Falschem. „Die den Bildern eigene Evidenz zieht uns augenblicklich in ihren Bann und erzeugt unweigerlich eine Art Wahrheitseffekt. Dabei ist die Wahrheit immer eine Konstruktion. Im Kino wird alles, selbst die kleinste Banalität, zu etwas Beispielhaftem, und so wird auch der Zuschauer automatisch beispielhaft.“

Auch das Vorgehen alliierter Dokumentarfilmer bei der Befreiung der Konzentrationslager in Deutschland und Polen ist bekannt. Sidney Bernstein hatte die Aufgabe, die Befreiung von Bergen-Belsen zu dokumentieren, wo man nicht weniger als 30000 Leichen entdeckt hatte, doch weil er fürchtete, sein Film könne in Zweifel gezogen werden, wandte er sich ratsuchend an Alfred Hitchcock ... Auch wenn der Film noch so „wahr“ ist, er ähnelt eher einem Propagandafilm zu Ruhm und Ehre der Menschlichkeit britischer Soldaten und Sanitäter. Die Amerikaner brachten in Dachau ihre ganze hollywooderprobte Kinokunst zum Einsatz, mit Tonangel, Klappe und dem ganzen Brimborium. Sie ließen die Deportierten, soweit diese noch halbwegs gesund waren, einen abgesprochenen Bericht so oft hersagen, bis ihnen die Aufnahmen gelungen erschienen.

Als die Rote Armee ihrerseits Auschwitz-Birkenau erreichte, brauchte sie Gefangene, die den Befreiern einen begeisterten Empfang bereiteten. Da die wenigen Deportierten, die sich nach dem „Todesmarsch“ noch in den Lagern befanden, diese Rolle nicht übernehmen konnten, ersetzten die Russen sie durch ausgewählte Bewohner aus der benachbarten Ortschaft Oswiecim. Dieser Film verstaubte schlußendlich, weil er so überzogen wirkte, in den Archiven des Kriegsministeriums und gelangte nie an die sowjetische Öffentlichkeit.

„Die Frage der Archive als Problem des Umgangs mit dem historischen Erbe gehört zu den zentralen Themen des ausgehenden Jahrhunderts“, fährt Jean-Louis Comolli fort. „Filmaufnahmen des sichtbaren Weltgeschehens existieren erst seit hundert Jahren. Ihre Akkumulation belastet allmählich das Gewissen der Gesellschaften. Nun zeigen aber alle früheren Beispiele, daß man es, je mehr Spuren man sichert, festhält und tradiert, desto weniger noch mit Geschichte zu tun hat. Mit der Präsentation von Dokumentaraufnahmen stellt sich jedes Mal neu die Frage ihrer Deutung – und besteht jedes Mal neu die Gefahr einer Täuschung. ,Ungeschminktes‘, ,wahres‘ Archivmaterial gibt es nicht; was es gibt, ist das Bedürfnis, sich unsere Geschichte wiederanzueignen, weil sie gefilmt worden ist. Aber dieser Vorgang der ,Wiederbelebung‘ bedient sich unweigerlich der Montage, also eines subjektiven Verfahrens. Wer daran verzweifelt, wer sich von der Enthüllung der Archivbestände unwiderlegliche Beweise erwartet, ist im weitesten Sinne ein Glaubensfanatiker. Die Definition des – wie man sagen könnte – ,archivarischen Manövers‘ ist folgende: 1. Man bestellt einen imaginären Zuschauer zum ,Herrn über die Archive‘, redet ihm 2. ein, man habe ihn bis jetzt für dumm verkauft, um ihm 3. mit Hilfe ,plötzlich ans Licht gebrachten Archivmaterials‘ die Augen zu öffnen. Auf diese Weise funktioniert der Erfolg von Büchern wie ,Les Aveux des archives‘ von Karel Bartosek.“4

„Jede Dokumentaraufnahme“, sagt abschließend Gérald Collas, „ist dazu bestimmt, eines schönen Tages in den Archiven zu landen.“ Als solche, wohlgemerkt, muß sie der gleichen Überprüfung, dem gleichen Mißtrauen unterworfen werden wie jedes x-beliebige aktuelle Filmmaterial.

dt. Christian Hansen

* Journalist, Dozent am Fachbereich Kommunikationswissenschaften der Universität Paris-X (Nanterre).

Fußnoten: 1 Diese Anekdote wurde im Rahmen des von Alain Jaubert und François Niney veranstalteten Themenabends „Film und Fälschung“ berichtet, der am 10. Juni 1993 auf arte ausgestrahlt wurde. 2 „Les Écrans de l'ombre, la seconde guerre mondiale dans le cinéma français (1944-1969)“, Paris (CNRS Editions) 1997. 3 „Les Écrans de l'ombre“, a. a. O. S. 62-70. 4 Das Buch „Les Aveux des archives“ („Die Geständnisse der Archive“) hatte im letzten Jahr in Frankreich eine vehemente Debatte ausgelöst. Was Artur London in seinem berühmten Buch „Ich gestehe“ berichtete, sei nur „die halbe Wahrheit“, behauptete Bartosek. In Wirklichkeit sei Artur London über Jahrzehnte ein eifriger Stalinist gewesen und vielleicht sogar noch „Ich gestehe“ ein Buch auf Bestellung. Siehe FAZ, 4. Dezember 1996, S. 41.

Le Monde diplomatique vom 14.11.1997, von EDGAR ROSKIS