14.11.1997

Ein böses Erwachen für die Opfer des großserbischen Projektes

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Ein böses Erwachen für die Opfer des großserbischen Projektes

DIE Wahlen in Serbien vom 21. September und 5. Oktober endeten mit einer Riesenüberraschung: Dem Ultranationalisten Vojislav Šešelj gelang ein überwältigender Durchbruch. Nachdem Šešelj in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl auf 27,3 Prozent der Stimmen gekommen war und seine Radikale Partei bei den Parlamentswahlen 82 der insgesamt 250 Sitze erobert hatte, überrundete der faschistoide Parteichef im zweiten Wahlgang sogar den Kandidaten der Regierungskoalition, Zoran Lilić. Nur der geringen Wahlbeteiligung, die unter den erforderlichen 50 Prozent lag, ist es zu verdanken, daß Šešelj nicht zum Präsidenten wurde. Vuk Drašković mußte sich mit 20,6 Prozent begnügen und bezahlt damit einen hohen Preis für das Auseinanderbrechen des Bündnisses Zajedno („Gemeinsam“), wobei die Absetzung des Belgrader Bürgermeisters, Zoran Djindjić, die Krise der Opposition nur weiter anheizt. In der Vorbereitungsphase zum dritten Wahlgang am 7. Dezember hat der Nationalismus Hochkonjunktur. Die politische Szene wird weitgehend von zwei Kräften dominiert: den erfahrenen Manipulationstechnikern der Sozialistischen Partei um Slobodan Milošević und den Faschisten um Vojislav Šešelj.

Von unserem Korrespondenten JEAN-ARNAULT DÉRENS *

„Der Kosovo ist das serbische Jerusalem“, läßt Dušan Ristić verlauten. Der ehemalige kommunistische Parteifunktionär aus Priština, der Hauptstadt des Kosovo, war 1981 wegen Nationalismus aus der Partei ausgeschlossen worden. Seither hat sich dieser kleine, etwa sechzigjährige Mann zum Ideologen der Serbischen Widerstandsbewegung (MRS) gemausert. Mit einer weit ausholenden Geste deutet er auf die Hügel in der Ferne, die sich zu Füßen des Klosters Sopocani ausbreiten. Das Kloster wurde im 13. Jahrhundert von König Uroš I. gegründet und von diesem selbst zu seiner letzten Ruhestätte ausersehen. Heute gilt es als eine der wichtigsten historischen Gedenkstätten der serbischen Nation.

Hinter den Mauern dieses Klosters ist soeben eine Versammlung des Politischen Rates des Nationalen Panserbischen Kirchenkonvents zu Ende gegangen. Monsignore Artemije, Bischof von Prizren und Raska, segnet die Teilnehmer, während junge Mönche Kaffee und Rakija, einen starken Pflaumenschnaps, servieren. Gestützt auf seinen Bischofsstab, wettert der Prälat gegen die ökumenischen Bestrebungen, in denen er das Trojanische Pferd des interreligiösen Dialogs sieht: „Wozu das führt, sieht man bei Johannes Paul II., der mit dem Dalai Lama Rock 'n' Roll tanzt. Die Wahrheit Christi ist einzigartig, und die serbisch-orthodoxe Kirche wird sie verteidigen.“

Zwar gibt es in der Stadt Prizren im Kosovo auch einen albanisch-katholischen Bischof, Monsignore Mark Sopi, doch dieser hat keinerlei Kontakt zu seinem orthodoxen Kollegen. Der Bischofssitz in Prizren ist insofern bedeutsam, als der Kosovo unbestritten eine Wiege des serbischen Volkes ist und das Kloster von Sopocani im Herzen der Raska liegt, im Mittelalter das zweitwichtigste Zentrum der serbischen Monarchie.1 Die ehemalige Raska entspricht weitgehend dem Gebiet des Sandžak von Novi Pazar, der teils auf serbischem, teils auf montenegrinischem Gebiet liegt und mehrheitlich von Muslimen bewohnt ist; im Kosovo, der innerhalb der Serbischen Republik ehemals den Status einer autonomen Region hatte, besteht die Bevölkerung zu über 90 Prozent aus Albanern2 (siehe Kasten).

Ein seltsamer Fluch liegt auf dem serbischen Volk: Gerade dort, wo seine Geschichte ihren Ausgang genommen hat, ist es schrittweise zu einer Minderheit geworden. Monsignore Artemije beklagt den „Völkermord an den Serben, der fünfzig Jahre lang durch die mit den Kommunisten unter einer Decke steckenden Albaner und Muslime verübt wurde“. Über die „systematisch antiserbische“ internationale Gemeinschaft macht er sich genausowenig Illusionen wie über das Regime Slobodan Milošević'; Die Rettung seines Volkes kann nach Ansicht des Bischofs deshalb nur von der Kirche ausgehen.

Altmodische und moderne Nationalisten

IN der Ende Januar 1997 verabschiedeten Erklärung von St. Sava, die unter anderem an die Präsidenten Bill Clinton und Jacques Chirac gerichtet war, geht der Nationale Panserbische Kirchenkonvent in seiner Argumentation noch weiter in der Geschichte zurück. Es heißt darin: „Das serbische Volk von Kosovo-Metohija [das von den Serben verwendete griechische Wort metohija bezeichnet die ehemaligen Besitztümer der orthodoxen Kirche, d. Ü.], der heiligen serbischen Erde (serbia sacra), war über Jahrhunderte einer aggressiven, rassistischen und systematischen Albanisierung ausgesetzt, die das serbische Nationalwesen erschüttert hat und es definitiv zu zerstören droht.“ Diese Entwicklung bedeute, daß „der amtierende Präsident Serbiens, Slobodan Milošević, als Vertreter eines antidemokratischen Regimes keinerlei Recht [habe], in der Frage von Kosovo-Metohija mit irgend jemandem zu verhandeln oder irgendwelche Entscheidungen zu treffen“. Auch Dušan Ristić beklagt unentwegt die Einmischungen Belgrads, die einer befriedigenden Lösung der Kosovo-Frage im Weg stünden. Denn die Grundlagen für einen Kompromiß seien gegeben. Seiner Meinung nach genüge es, den Albanern die größtmögliche kulturelle Autonomie zu gewähren, gleichzeitig aber den Verbleib der Provinz in Serbien zu garantieren.

Diese „pieds noirs“ mit eingefleischtem serbischem Bewußtsein schwanken in ihrer Argumentation zwischen einem lokal orientierten Ansatz, in dem Belgrad jede Legitimation zur Regelung des Problems abgesprochen wird, und der Überzeugung, eine historische Mission zu erfüllen, indem sie die Vorhut des Serbentums verteidigen. In ihren Augen hat Slobodan Milošević mit der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens seinen „Verrat“ auf die Spitze getrieben.

Wie Dušan Ristić vermeidet auch Jorgovanka Tabaković, die Abgeordnete der Radikalen – also der extremen Rechten – aus Priština, den verfluchten Namen der amerikanischen Militärbasis in Ohio in den Mund zu nehmen. Statt dessen spricht sie lieber vom Tag, an dem Milošević „die Grenze an der Drina festlegen“, mit anderen Worten, das serbische Bosnien aufgeben wollte.

Tabaković ist eine dynamische junge Frau, die trotz ihrer Wahl zur Abgeordneten ihre Stelle als leitende Bankangestellte behalten hat. Sie gibt sich als „moderne Nationalistin“ und zitiert „Präsident Jean- Marie Le Pen“, den sie für den bedeutendsten Theoretiker der nationalistischen Strömungen Europas hält: „Wir Nationalisten haben keine Verständigungsprobleme. Auch nicht mit den albanischen Nationalisten. Sie müssen nur einsehen, daß der Kosovo ein Teil Serbiens ist, und die Radikale Partei wäre bereit, ihnen die umfassendste kulturelle Autonomie zuzugestehen.“ Sie denkt kurz nach und fügt einschränkend hinzu: „Außer in der Frage der Unterrichtssprache. Da müssen die Albaner selbstverständlich die Staatssprache lernen.“

Im Vergleich zu den versprengten Bataillonen des Nationalen Kirchenkonvents repräsentiert die Radikale Partei zweifellos eine bedeutende Kraft. Im Juni 1997 initiierte sie mit den im Kosovo niedergelassenen serbischen Flüchtlingen einen „Marsch nach Belgrad“. Kroatische und bosnische Serben, die familiäre Verbindungen zum Kosovo nachweisen können, wurden aufgefordert, von ihrem „Rückkehrrecht“ Gebrauch zu machen. Statt ein Grundstück und ein Haus zu erhalten, wie es jeder Familie versprochen worden war, fanden sich diejenigen, die der Aufforderung folgten, in provisorischen Unterkünften wieder. Kein Wunder also, daß einige Dutzend Familien sich per Traktor nach Belgrad aufmachten, wo sie vor den Fenstern des Parlaments ihr Lager aufschlugen.

In Priština dient ein Sportkomplex als Aufnahmezentrum für die Flüchtlinge. Das Gebäude wird bewacht, und man benötigt eine Genehmigung des Informationsministers der Autonomen Region Kosovo-Metohija, um hineinzukommen. Zwei mit Funkgeräten ausgestattete Zerberusse sind bei den Interviews anwesend. Die aus der kroatischen Krajina stammenden Flüchtlinge wagen es kaum, ihre Bitterkeit und Verzweiflung auszudrücken. Denn die Politik der „Serbisierung“ des Kosovo ist ein völliger Fehlschlag. Die Behörden wissen mittlerweile, daß es ihnen nicht gelingen wird, das ethnische Gleichgewicht in der Provinz zu ändern. Vom großserbischen Wahn zeugen nur noch diese verlorenen Flüchtlinge ohne Zukunftsperspektive.

Allerdings haben noch immer nicht alle die Lehren aus diesem Scheitern gezogen. Wie das Akademie-Mitglied Nikola Stipčević, der in gelehrtem Ton erklärt: „Die Flüchtlinge sind eine biologische Chance für Serbien.“ Wir befinden uns in einem Kloster nahe des südserbischen Krusevac, wo die Hochschule für Philosophie ihre Jahrestagung abhält. Rund fünfzig Intellektuelle mittleren Alters, unter ihnen zahlreiche Akademie-Mitglieder und ehemalige Minister der „demokratischen“ Regierung von Milan Panić (1992-93), drängen sich um den unbestrittenen Star des Treffens, den Schriftsteller und ehemaligen Präsidenten der Föderation, Dobrica Ćosić. Anwesend sind auch zahlreiche ehemalige Dissidenten, die in den siebziger Jahren an den Treffen der kritischen Marxisten in Korcula teilgenommen hatten.

„Ein Nationalist? Unser Dobrica kann kein Nationalist sein. Er war immer ein Demokrat, ein ewiger Dissident“, entrüstet sich Momčilo Marković. Er selbst ist Philosoph und galt in der Hochphase des Ultranationalismus als Ideologe der Sozialistischen Partei. Er verließ die Partei, „als die mafiösen Kommunisten der JUL ans Ruder kamen“ – soll heißen: als sich Slobodan Milošević nach seinem Bruch mit dem nationalistischen Kurs und der Aufkündigung des drei Jahre währenden Bündnisses mit der extremen Rechten (1990-1993) an die Partei der Jugoslawischen Vereinigten Linken (JUL), die von seiner Frau Mirjana Marković geleitet wird, annähern mußte, um die pax americana in Bosnien glaubhafter umsetzen und vor allem seine Macht sichern zu können.

„Eine biologische Chance“, fährt Nikola Stipčević fort, „denn das serbische Volk ist degeneriert, die demographische Entwicklung ist zu wenig dynamisch, während die Flüchtlinge von einer gesunden Bergrasse abstammen. Das sind wahre Serben.“ Diese Philosophen und Akademiemitglieder bildeten das intellektuelle Rückgrat der „national-kommunistischen“ Synthese, die Milošević einst verkörperte. Nach der „pragmatischen“ Wende ihres Meisters in Belgrad kaltgestellt, klucken sie nun müde zusammen und lassen sich vom Popen des Klosters ausführlich segnen. Eine Journalistin von Radio Belgrad bekräftigt: „Sehen sie? Hier ist es rein. Auch der Kosovo war zur Zeit meiner Kindheit noch rein. Er wurde aber durch die Albaner korrumpiert. Sie sind schmutzig.“ Die anwesenden Ideologen, die für das berüchtigte Memorandum aus dem Jahr 1986 verantwortlich zeichnen, das die seit 1974 betriebene „antiserbische“ Politik anprangerte, wollen lieber nicht über den Krieg oder die gegenwärtige Lage sprechen.

Zur Zeit leben in der Bundesrepublik Jugoslawien etwa 650000 Flüchtlinge. Einer von ihnen ist Rocky, ein junger Serbe, der ursprünglich aus Zagreb kommt. Er hat sich immer genau falsch entschieden – und damit alles verloren. Weder von Belgrad noch von Sarajevo will er etwas wissen. Die einzige „richtige Stadt“ auf dem Balkan ist in seinen Augen Zagreb. Doch Rocky lebt in einem winzigen Bergdorf namens Rtanj unweit Zajecar an der bulgarischen Grenze. Er beschreibt, wie er Zagreb verlassen hat, um in die Krajina zu gehen, der er 1993 wieder den Rücken kehrte. Er hat sich, mit anderen Worten, von der serbischen Armee in Knin rekrutieren lassen, sich aber nach Serbien abgesetzt, bevor die Region von den Kroaten zurückerobert wurde. Nun ist er verzweifelt und überzeugt, nie mehr nach Zagreb zurückzukönnen, obwohl sein Vater und sein Onkel dort leben.

Auch in der Serbischen Republik in Bosnien leben viele Flüchtlinge aus der Krajina oder Vertriebene aus den Gebieten, die nun zur Kroatisch-Bosniakischen Föderation gehören. Das kleine Büro der Vereinigung der Flüchtlinge aus der Krajina in Banja Luka, der größten Stadt der Republika Srpska, gleicht einer Niederlassung der Radikalen Partei. Hier herrscht ein unerbittlicher Revanchismus. Der aus Benkovac stammende Milorad Pribičević gesteht sich seine ausweglose Situation allerdings ein: „Mit meinem in der Serbischen Republik ausgestellten Personalausweis kann ich in Kroatien nicht mehr wählen, doch das Dayton-Abkommen verbietet mir auch, in Bosnien zu wählen, da ich im Stichjahr 1991 nicht hier gelebt habe.“ Er ist ein Anhänger der großserbischen Idee, hat aber seine Identität verloren und gilt nirgendwo als Bürger. Die Flüchtlinge sind die Stiefkinder des ehemaligen Jugoslawien: In der föderativen Republik konnten immerhin alle Serben unter ein und demselben Dach leben.

Eine andere Wahl haben dagegen die Flüchtlinge aus Drvar getroffen. Vor dem Krieg war Drvar die bosnische Gemeinde mit der kompaktesten serbischen Bevölkerungsgruppe, doch durch die Zufälle des Krieges, die das Dayton-Abkommen sanktionierte, wurde die Stadt der kroatischen Seite zugeschlagen. Viele der ehemaligen serbischen Einwohner wollen in ihre Stadt zurückkehren, obwohl diese heute zur Kroatisch-Bosniakischen Föderation gehört. Deshalb wehren sie sich gegen die Behörden der Serbischen Republik, die eine solche Rückkehr nicht zulassen wollen, da sie nur darauf aus sind, die ethnische Homogenisierung der einzelnen Gebiete zu vollenden. Die Flüchtlinge sind bestrebt, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, und verteidigen das Prinzip einer nichtethnischen bosnischen Bürgerschaft. Gemeinsam mit den Oppositionsparteien der beiden bosnischen Teile haben sie mit einer „Liste für Drvar“ bei den Gemeinderatswahlen vom 13. und 14. September letzten Jahres kandidiert. Ihr Vorsitzender Milo Marčeta zeigt stolz ein Plakat, auf dem die aus Drvar stammenden Personen aufgerufen werden, nicht in der „Republika Srpska“, sondern in ihrer Heimatstadt zu wählen. Der Aufruf scheint Gehör gefunden zu haben, denn die Liste erzielte bei den Kommunalwahlen einen beachtlichen Erfolg.

Die „Auslandsserben“ zwischen allen Stühlen

NACH dem Auseinanderbrechen der Jugoslawischen Föderation im Jahr 1991 beging die serbische Führung, allen voran Slobodan Milošević, einen zweifachen Fehler, der sich als fatal erweisen sollte. Erstens entschieden sie sich dafür, nicht über den Platz der Serben in den neu entstehenden Staaten zu verhandeln, zweitens versuchten sie, alle serbisch bewohnten Gebiete gewaltsam zu vereinen. Das führte in die momentane ausweglose Situation. Selbst wenn sich das Gebiet der Serbischen Republik in Bosnien irgendwann einmal definitiv an Restjugoslawien angliedert, werden rund eine Million Serben ihren ursprünglichen Wohnsitz verloren haben. Regionen wie die Krajina3 , die schon im Mittelalter oder im 17. Jahrhundert serbisch besiedelt waren, sind endgültig aufgegeben, und die neue Bundesrepublik Jugoslawien muß die Flüchtlinge mühsam integrieren. Rechnet man zu den Albanern die Ungarn in der Vojvodina und die anderen Minderheiten hinzu, dann ist Serbien heute paradoxerweise der ethnisch am meisten gemischte Balkanstaat.

Kroatien konnte dagegen ohne allzu große Mühe – wenn auch um den Preis der „ethnischen Säuberungen“ in der Krajina und in den anderen 1995 eroberten Gebieten – ein „ethnisch reiner“ Staat werden. In Serbien war das nicht möglich, denn die serbische Besiedelung ist wesentlich inhomogener: Einerseits wohnen viele Nichtserben in dem von Tito den Serben zugewiesenen Gebiet, andererseits leben oder lebten viele Serben außerhalb desselben. Das Problem kann nur auf zweierlei Weise gelöst werden: entweder, indem alle Balkanstaaten eine nicht ethnisch definierte Staatsbürgerschaft einführen, oder durch einen Bevölkerungsaustausch, der noch viel umfassendere Dimensionen als im Fall Bosnien annehmen würde. Zoran Lilić, der ehemalige Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien und Anwärter auf die Präsidentschaft Serbiens, beantwortet das Problem auf seine Art. In Serbien gebe es kein albanisches Problem, meint er, denn die Albaner hätten ja einen Staat außerhalb Serbiens.

Die in Kroatien oder der Bosnischen Föderation verbliebenen Serben bemühen sich dennoch um eine gesicherte Existenzbasis. Maksim Staničić, der Vorsitzende der Demokratischen Initiative der Serben in Sarajevo, vertritt die Interessen jener, die noch in den an die Bosniaken „zurückgegebenen“ Stadtteilen Sarajevos leben.4 Er fühlt sich in seinem Kampf tragisch alleingelassen: „Am liebsten wäre es allen, wir würden verschwinden. Die kroatischen und muslimischen Nationalisten schikanieren uns immer mehr, um uns zum Verlassen der Stadt zu bewegen, und von den serbischen Nationalisten werden wir als Verräter betrachtet, da wir in unserer Stadt bleiben wollen.“

Milorad Pupovac ist Abgeordneter im kroatischen Parlament. Er wurde im Rahmen des sozialdemokratischen Bündnisses auf einen der drei Sitze gewählt, die den Serben in dieser Institution vorbehalten sind – „weniger als den Kroaten der Diaspora“, wie er betont. Von den 600000 Serben, die vor dem Krieg in Kroatien gelebt haben, sind seiner Schätzung nach nicht mehr als 100000 in den größeren Städten und 100000 in Ostslawonien übriggeblieben. Seine Bestandsaufnahme ist erdrückend: „Wir sind hier Bürger zweiter Klasse. Es gibt keine einzige Schule, in der die Kinder Kyrillisch lernen können. Diskriminierungen aller Art sind an der Tagesordnung, auch wenn die Feindseligkeiten seit Einstellung der Kämpfe weniger spürbar sind. Doch alles ist darauf angelegt, uns zu vertreiben: Serbischer Besitz wird nach sechs Monaten Abwesenheit beschlagnahmt ...“ Und seine Forderungen? „Wir wollen dreierlei: kulturelle Rechte, eine stärkere parlamentarische Vertretung und eine echte territoriale Autonomie in den Regionen, wo noch Serben leben.“

Trotz dieser schwierigen Situation in Kroatien scheinen die Serben Ostslawoniens substantielle Garantien erhalten zu haben. Zagreb hat sich verpflichtet, ihre territoriale und kulturelle Autonomie zu respektieren, und diese konnte – dank des Mandats der Vereinten Nationen (UNTAES) – auf institutioneller Ebene tatsächlich auch schrittweise umgesetzt werden. Die führenden nationalistischen Köpfe der Kriegsjahre sind auch wirklich verschwunden, wie der ehemalige Bürgermeister von Vukovar, Slavko Dokmanović. Er wurde verhaftet und wartet nun in Den Haag auf seinen Prozeß. So können sich die Mitarbeiter der Unabhängigen Serbischen Demokratischen Partei von Vojislav Stanimirović, die bei den Wahlen im April 1997 auf 47 Prozent der Stimmen gekommen ist, auch als Ausbund an Tugend präsentieren und von Zagreb umfassende Garantien für die serbische Minderheit fordern. Dennoch bleiben brennende Fragen offen, wie das Problem der Verurteilung von Kriegsverbrechern. So betont der Verantwortliche des mit den serbischen Behörden verbundenen Komitees für die Verteidigung der Menschenrechte, Branko Juričić, zwar sein Interesse an einer Verurteilung der echten Kriegsverbrecher, schränkt aber ein: „Man muß verhindern, daß die Kroaten mit den Denunziationen all ihre Rachegelüste stillen. Wir alle haben hier gekämpft, um unsere Stadt zu verteidigen. Wer also ist kriminell und wer nicht?“

Am schwierigsten sei es nun, wie er einräumt, „zu akzeptieren, daß wir kroatische Bürger sind und daß unser Land zu Kroatien gehört“. Die Anbindung der letzten Landstreifen der Serbischen Republik, also von Syrmien, der Baranja und Ostslawonien, an Kroatien vollzieht sich in einer Atmosphäre völliger Ernüchterung. Als der kroatische Präsident Franjo Tudjman im Juni 1997 erstmals Beli Manastir in der Baranja besuchte, gab es nur ein paar Dutzend Jugendliche, die ohne große Begeisterung die antikroatischen nationalistischen Slogans skandierten. Die Bewohner dieses von sechs Jahren Isolation gezeichneten Marktfleckens haben für die Politiker nur noch Desinteresse oder Verachtung übrig.

In Belgrad gibt sich derweil Vuk Drašković5 , der Vorsitzende der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO), in Sachen Bosnien oder Kroatien nicht besonders redselig. Er sitzt in seinem Büro, umgeben von folkloristischen Souvenirs an die Tschetniks6 aus dem Zweiten Weltkrieg und einem Porträt ihres Führers General Draža Mihajlovic, und begnügt sich mit der Feststellung, er hoffe, das Abkommen von Dayton werde voll umgesetzt. Seine Lieblingsthemen sind die Forderung nach Demokratie, das Anprangern von Milošević' „Kommunismus“ sowie die Rehabilitierung der Tschetnik-Bewegung und der serbischen Monarchie.

Der politisierende Schriftsteller, der lange Zeit als Symbolfigur der Opposition galt, hat soeben ein Buch zu Ehren seines Idols Mihajlovic veröffentlicht. Drašković spricht den General von der Verantwortung für die Ermordung Zehntausender Muslime in Bosnien während des letzten Weltkrieges frei: „Die Tschetnik-Armee repräsentierte, ähnlich wie General de Gaulle in Frankreich, mit ihrer Feindschaft zu den Kommunisten den legitimistischen Widerstand. In ihren Reihen fanden sich zahlreiche Muslime, und die meisten Massaker gehen auf das Konto der Kommunisten.“

Diese ungeheuerliche Revision der Geschichte erlaubt es dem SPO-Vorsitzenden, seinen Träumen von einer Restauration der Monarchie nachzuhängen, die sich, nach dem Vorbild des Commonwealth, in der ganzen Region durchsetzen sollte. Vuk Drašković ergeht sich in geopolitischen Schwärmereien: „Natürlich braucht es eine neue Balkanföderation, doch diese kann nur unter dem Schutz der serbischen Monarchie entstehen, der sich alle Völker der Region anschließen werden. (...) Dayton ist eine Übergangslösung, ein Kompromiß, doch in Zukunft werden alle Völker Bosniens ihre nationalen Rechte im Rahmen eines neuen serbischen Commonwealth verwirklichen.“

Und wie steht er zum Auseinanderbrechen des Zajedno-Bündnisses? Dafür macht Drašković allein seine wortbrüchigen Partner verantwortlich. Laut Drašković hatten Zoran Djindjić und Vesna Pešić versprochen, seine Kandidatur für das Amt des serbischen Präsidenten zu unterstützen. Im Gegenzug hatte die SPO als stärkste Partei im Belgrader Stadtrat Djindjić zum Bürgermeisterposten verholfen. Nachdem Djindjić und Pešić beschlossen hatten, die Präsidentenwahl zu boykottieren, und die Wähler schon im ersten Durchgang (in dem der Kandidat Drašković auf 20 Prozent kam) zur Stimmenthaltung aufriefen, revanchierte sich dieser, indem er mit Hilfe der Freunde von Slobodan Milošević und Vojislav Šešelj die Absetzung von Djindjić als Bürgermeister durchsetzte. Ganz allgemein zeichnet sich die serbische Opposition, sobald es um mehr als die rituelle Verurteilung der Fehler des Regimes geht, nicht gerade durch ein konsistentes Vorgehen aus. Das Bürgerforum von Vesna Pešić hat rein symbolisches Gewicht. Und Zoran Djindjić ist als demokratische Alternative kaum glaubwürdiger als Vuk Drašković. So sehr er sich als „moderner Demokrat“ ausgibt, so wenig kann er seine langjährigen Beziehungen zur politischen Führung der bosnischen Serben unter den Teppich kehren.

Nationalstaat oder Föderation?

ZWAR hielt sich Radovan Karadžić während der Protestbewegung im vergangenen Winter diskret im Hintergrund, doch die amtierende Präsidentin der „Republika Srpska“, Biljana Plavšić, sprach der Protestbewegung ihre begeisterte Unterstützung aus.7 Im Zuge der aktuellen Krise zwischen den bosnischen Serben könnte unter Umständen eine neue Achse zwischen Biljana Plavšić und Zoran Djindjić entstehen, die einen erneuerten Nationalismus predigen und die Korruption und die Mafia für die Niederlage des serbischen Volkes verantwortlich machen. Der in seinen monarchistischen Träumereien verfangene Vuk Drašković hat wenig Chancen, reale Bedeutung zu erlangen, auch wenn ihm das Ergebnis der gleichzeitig mit der Präsidentenwahl durchgeführten Parlamentswahlen ein neues Gewicht verleihen könnte.

Die regierende Koalition aus den Sozialisten von Slobodan Milošević, der Jugoslawischen Vereinigten Linken von dessen Ehefrau Mirjana Marković und der Neuen Demokratie hat im Parlament keine absolute Mehrheit mehr und ist folglich gezwungen, ein unerwünschtes Bündnis mit der Radikalen Partei Vojislav Šešeljs oder der SPO Vuk Drašković' einzugehen. In Wirklichkeit ist Vojislav Šešelj der einzige, der es schafft, mit seiner Propaganda sowohl in der Serbischen Republik in Bosnien als auch in Serbien selbst und bei den Flüchtlingen anzukommen. Es wäre durchaus denkbar, daß ihm eine Mobilisierung der latent immer noch vorhandenen revanchistischen Gefühle gelingt. Es ist auch nicht auszuschließen, daß hinter der Stärkung der Radikalen Partei eine machiavellistische Strategie von Slobodan Milošević steckt.

Während der Demonstrationen vom vergangenen Winter spielte die Zukunft der Serbischen Republik in Bosnien jedenfalls keine Rolle. Viktor Todorović, einer der wichtigsten Studentenführer, der von seinen Kollegen zum studentischen Prorektor der Universität Belgrad gewählt wurde, gibt zu, daß sich unter den Studenten, die sich an der Bewegung beteiligten, einige Flüchtlinge aus Bosnien oder Kroatien befanden, die oft sehr nationalistische und revanchistische Ansichten vertreten. „Doch wir haben sie dem Ordnungsdienst zugeteilt, und dann haben sie nicht geredet“, fügt er etwas arglos hinzu. Für Slobodan Milošević kommen die politische Normalisierung und die versuchte Wiederankurbelung der durch Dauersanktionen eingebrochenen Wirtschaft fraglos zu spät. Mit seiner politischen Vergangenheit hat der jugoslawische Präsident keinerlei Glaubwürdigkeit mehr aufzuweisen, es sei denn in der Rolle des großen Manipulators.

Serbien hat noch immer dasselbe Problem, sich als Staat zu verstehen. An den geschichtsträchtigsten Orten sind die Serben heute in der Minderheit, und die gegenwärtige Entwicklung in Montenegro – wo sich Milo Djukanović gegen den bisherigen Präsidenten und Vertrauten Milošević', Momir Bulatović, durchgesetzt hat – läßt befürchten, daß die Serben auch noch den Bezug zum legendären Heldentum dieses kleinen ehemaligen Königreiches verlieren werden, das sich stets der Eroberung widersetzt hat, während Serbien selbst in das Osmanische Reich inkorporiert war. Vor allem muß die alte Frage endlich entschieden werden, ob Serbien als Nationalstaat bestehen kann oder auf eine Föderation angewiesen sein wird.

Wieder einmal hat es den Anschein, als sei Vojislav Šešelj als einziger bereit, die Lehren aus der jüngsten Vergangenheit zu ziehen. In einer Fernsehdiskussion mit Zoran Lilić am 1. Oktober bezeichnete er den Namen „Jugoslawische Föderation“ als Anachronismus. Das Land solle sich seiner Ansicht nach lieber „Großserbien“ oder zumindest „Republik Serbien“ nennen, wobei es sich gleichermaßen versteht, daß Vojislav Šešelj eine Auflösung der Autonomie von Montenegro im Rahmen eines neuen, zentralisierten Staates befürwortet.8

In einem Roman von Dobrica Ćosić9 rätseln der alte Vukašin Katić und seine Freunde am Vorabend des Zweiten Weltkrieges darüber, was wohl aus Jugoslawien werden wird – „dieser kostspieligsten und tragischsten Illusion des serbischen Volkes“. Heute muß dieses Volk sich eingestehen, daß es den im Namen Großserbiens geführten Krieg verloren hat. Es muß sich also eine Zukunft in einem territorial eingeengten Staat entwerfen, einem Staat, der von zahlreichen Flüchtlingen überschwemmt ist und in dem zugleich viele Nichtserben leben. Wird es Serbien gelingen, ein nationales Projekt zu entwickeln, das die Minderheiten integriert, oder muß man mit weiteren Teilungen rechnen?

Der Belgrader Politologe Vladen Goati versucht auf seine Art, Gelassenheit zu verbreiten: „Im Zeitalter der Globalisierung sind wir als Volk zu klein, um unser Schicksal tatsächlich selbst zu beherrschen. Das ist demütigend, doch es kann dazu beitragen, uns vor katastrophalen Erfahrungen zu bewahren. (...) Es sei denn, die durch die Niederlage erlittene Demütigung und der Schock über den wirtschaftlichen Zusammenbruch würden die Serben erst recht dazu verleiten, sich in ein neuerliches verrücktes Abenteuer zu stürzen.“ Faschistoide Nationalisten wie Vojislav Šešelj warten nur darauf, diese Traumata auszubeuten, und sein Erfolg in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen vom 5. Oktober 1997 bestätigt, daß die Bedrohung kein Hirngespinst ist. Die Wahl Šešeljs, der den Kandidaten der Sozialisten überrundet hat, wurde nur durch die geringe Wahlbeteiligung verhindert. Wenn Slobodan Milošević nicht anders zu schlagen ist als durch die Balkan-Ausgabe von Le Pen, gehen die Serben schlimmen Zeiten entgegen.

dt. Birgit Althaler

* Historiker und Journalist.

Fußnoten: 1 Eines der ersten serbischen Königreiche wurde im 9. Jahrhundert in der Region um die Stadt Ras gegründet. Das von Stefan Nemanja (gest. 1195) und seinem Sohn, dem Heiligen Sava, gegründete Königreich der Nemaniden erreichte seinen Höhepunkt im 14. Jahrhundert unter Dušan dem Großen auf dem Gebiet des Kosovo und der Region von Ras. 2 Vgl. Christophe Chiclet, „Piège albanais pour les Balkans“, Manière de voir, Nr. 33, „Géopolitique du chaos“, Februar 1997. 3 Der große Roman von Miloš Crnjanski, „Seobe“ (auf französisch erschienen unter dem Titel „Migrations“) erinnert an die Ansiedlung der serbischen Kämpfer in der „Militärgrenze“ (wofür der Begriff Krajina steht) des Habsburgerreiches. 4 Es handelt sich um die Stadtteile Ilidza, Grbavica, Ilijas und Vogosca. 5 Vgl. Catherine Samary, „Epreuve de force en Serbie“, Le Monde diplomatique, Januar 1997. 6 „Tschetniks“ hießen die serbischen monarchistischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg. Ihr antifaschistischer Widerstand war durch ihren Antikommunismus abgeschwächt, und sie verübten als Rache für die Massaker der Ustascha-Partisanen, die im nazifreundlichen kroatischen Staat agierten, ihrerseits zahlreiche Massaker an Kroaten und Muslimen. 7 Vgl. „Mécontentement chez les Serbes de Bosnie“, Manière de voir, Nr. 33, „Géopolitique du chaos“, Februar 1997. 8 Vgl. Separatistische Gelüste in Montenegro“, Le Monde diplomatique, September 1997. 9 Dobrica Ćosić, „Vreme zla“, zitiert nach der französischen Ausgabe „Le Temps du Mal“, Lausanne (L'Age d'Homme) 1990, S. 174. Vgl. auch Jacques Decornoy, „Dans les griffes de l'histoire“, Le Monde diplomatique, Januar 1992.

Le Monde diplomatique vom 14.11.1997, von JEAN-ARNAULT DÉRENS