14.11.1997

Von guten Ausländern und bösen Illegalen

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Von guten Ausländern und bösen Illegalen

Von DANIÈLE LOCHAK *

FAST fünfundzwanzig Jahre ist es her, daß man in Frankreich wie in den meisten europäischen Ländern beschlossen hat, die Einwanderung von Arbeitskräften auszusetzen. Alsbald wurde die „Kontrolle der Einwanderungsströme“ zum vorrangigen Ziel der Behörden – mit dem Ergebnis, daß man weit über das ursprünglich proklamierte Ziel hinausging.

Zunächst verstärkte man die Grenzkontrollen und formulierte eine Vielzahl von Bedingungen für den Zutritt zum Staatsgebiet, womit das Recht auf Freizügigkeit sowie das Asylrecht beschnitten wurden. Um den Ausländerzustrom von vornherein zu stoppen, wurden die Visaformalitäten wieder eingeführt und die Konsulate zu äußerster Zurückhaltung angewiesen. Zudem perfektionierte man die Mittel, um alle Ausländer zur Ausreise zu zwingen, die unrechtmäßig einreisen oder im Lande sind: Man erleichterte die Personenkontrollen, machte den unrechtmäßigen Aufenthalt zum Straftatbestand, der mit immer härteren Sanktionen belegt wurde, man verlieh der Verwaltung das Recht, eigenständig eine Rückführung zur Grenze zu verfügen und diese auch durchzuführen, und man verlängerte die gesetzlich zulässige Haftdauer.

Parallel dazu versuchte man, sämtliche Löcher zu stopfen, durch die noch ein „Zustrom“ möglich war; so wurden die Einreise- und Aufenthaltsbedingungen für Familienmitglieder, Studenten, Asylsuchende, Touristen, aber auch für Ehegatten von Franzosen erschwert, weil man diese Gruppen pauschal als Scheinstudenten, Scheinflüchtlinge, Scheintouristen und Gelegenheitsehegatten verdächtigt. Der Wahn, die Grenzen dicht machen zu müssen, ging einher mit dem Wahn, Betrug und Illegalität aufzudecken.

Es ist legitim, gegen derartige Delinquenten vorzugehen, und wenn es ihnen trotz des gesamten Repressionsarsenals gelingt, sich in Frankreich aufzuhalten, dann erscheint es genauso legitim, ihnen das Recht auf Arbeit sowie das Recht auf Sozialversicherung abzuerkennen.

Lauter „Selbstverständlichkeiten“, die auf einer in allen offiziellen Reden eingehämmerten Unterscheidung basieren: auf der Unterscheidung zwischen „guten“ Ausländern, die rechtmäßig im Lande leben und integriert werden sollten, und „bösen“ Illegalen, die man um so dringender vertreiben müsse, als sie die Integration der ersteren behinderten.

Dennoch handelt es sich um eine trügerische Unterscheidung, denn viele dieser „Illegalen“ haben familiäre oder persönliche Bindungen an Frankreich, mithin allen Grund, im Lande zu bleiben, wurden aber durch die Härte der Gesetze oder durch unrechtmäßiges Vorgehen vieler Behörden in die Illegalität gezwungen.

Dies alles verletzt nicht nur die Grundrechte der Ausländer, sondern betrifft die gesamte Bevölkerung, weil die derzeitige Tendenz letztlich das Fundament der Demokratie untergräbt. Doch weder der Weil-Bericht1 noch die an ihm orientierten Regierungspläne wollen offenbar diese Entwicklung stoppen.2

Die erste Freiheit, die durch Schließung der Grenzen beeinträchtigt wird, ist die Freizügigkeit. Die Liste der Voraussetzungen, die man erfüllen muß, um französisches Staatsgebiet betreten zu dürfen, ist unendlich lang: Paß und Visum, Nachweis über hinreichende Mittel zum Lebensunterhalt, Rückführungsgarantien und natürlich die berühmte Unterbringungsbescheinigung für diejenigen, die zu einem Privatbesuch nach Frankreich kommen. Dabei liegt das Problem oft nicht so sehr in der Zahl der Bedingungen als vielmehr in der Willkür bei der Ausstellung der erforderlichen Dokumente. Etwa bei den mißbräuchlichen Praktiken der Stadtverwaltungen, die diese Unterbringungsbescheinigungen mit einem Sichtvermerk versehen müssen, aber auch bei der Art und Weise, in der die Visa ausgestellt oder eben nicht ausgestellt werden. Diese Formalität, die im Herbst 1986 unter dem Vorwand der Bekämpfung des Terrorismus wiedereingeführt wurde, ist zu einer Hauptwaffe im Rahmen der „Kontrolle des Einwandererzustroms“ geworden, die Frankreich bei allen europäischen Partnern durchgesetzt hat, so daß ganz Europa zu einer Festung geworden ist.

Wer weiß schon, daß jeder Ausländer, der in einem der Unterzeichnerstaaten des Schengener Abkommens als persona non grata betrachtet wird, automatisch kein Visum für Frankreich bekommt? Und daß man im Schengener Informationssystem, der Kartei der Unerwünschten, aus tausend Gründen registriert sein kann, die nichts mit der öffentlichen Ordnung zu tun haben, ohne irgend etwas davon zu erfahren? Man kann insgesamt die Visapolitik mit der goldenen Regel kennzeichnen, die für die Konsulate gilt: Je mehr Gründe jemand hat, nach Frankreich reisen zu wollen, desto weniger ratsam ist es, ihm ein Visum auszustellen.

Damit sind vor allem jene ausgeschlossen, die aus einem armen Land kommen, weil sie das höchste „Wanderungsrisiko“ darstellen – zumal dann, wenn sie in Frankreich Familie haben. Zwischen 1987 und 1994 ging die Zahl der ausgestellten Visa von 5,6 auf 2,3 Millionen zurück. Die Algerier sind die ersten Opfer dieser Politik, von der man nicht so recht weiß, ob man sie „restriktiv“ oder „kriminell“ nennen soll, sank doch die Anzahl der ausgestellten Visa von 571000 auf 103000. Die Folgen sind bekannt. Die Konsulate gehen immer häufiger dazu über, auch bestens begründete Visaanträge abzulehnen, weil sie ihre Weigerung von Rechts wegen nicht begründen müssen. Anstatt diese eines Rechtsstaats unwürdige juristische Anomalie zu überdenken, segnet der Weil-Bericht sie auch noch ab.

Hat der Ausländer endlich sein Visum, besitzt er dennoch keine Garantie, das französische Staatsgebiet betreten zu können, denn die Grenzpolizeistellen dürfen nach eigenem Ermessen befinden, daß die vorgelegten Dokumente nicht stichhaltig sind oder den wahren Aufenthaltszweck verheimlichen.

Diese Hindernisse gegen eine Einreise nach Frankreich dürften eigentlich nicht für Asylsuchende gelten. Aber dem ist nicht so. Das Mißtrauen gegen Asylsuchende, in denen man Scheinflüchtlinge vermutet, äußert sich seit Mitte der achtziger Jahre in der massiven Ablehnung von Anträgen durch das Französische Amt für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen (Office français pour la protection des réfugiés et apatrides – Ofpra). Mit der Zahl der „abgewiesenen Asylsuchenden“ erhöhte sich entsprechend die Zahl der ohne Papiere im Land lebenden Ausländer.

Gegen diese Entwicklung hat Frankreich wie seine europäischen Partner eine Politik eingeschlagen, die den Zustrom von Flüchtlingen schon im Vorfeld auffangen soll: Sanktionen für die Schlepper, Rückführungsabkommen mit den angrenzenden Ländern, über die Asylsuchende eingereist sind; die Möglichkeit für den Innenminister, vorläufig festgehaltenen Asylbewerbern den Zutritt zum Staatsgebiet zu verwehren, wenn ihr Antrag „offenkundig unbegründet“ erscheint; die Verpflichtung, eine Aufenthaltserlaubnis zu besitzen, um einen Antrag beim Ofpra einreichen zu können, was es den Einwohnermeldeämtern ermöglicht, die Anträge zu sieben.

Vor diesem Hintergrund dürfte die scheinbar großzügige Absicht der Regierung, entsprechend den Empfehlungen des Weil-Berichts nunmehr auch „Freiheitskämpfern“ den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, nur höchst begrenzte Auswirkungen haben, zumal die meisten derjenigen, die diesen Schutz brauchen, nach wie vor keinen besseren Zugang zum französischen Staatsgebiet haben als zuvor.

Bezeichnend für diese ganze Entwicklung ist auch, wie es um das Recht des einzelnen bestellt ist, nicht ohne Urteil festgehalten zu werden. 1980 wurde mit der „loi Bonnet“ der Begriff der „Einbehaltung“ für abzuschiebende Ausländer eingeführt. Die Linke, die damals in der Opposition war, hatte heftig dagegen protestiert, behielt den Begriff aber bei, als sie wieder an die Macht kam, und meinte lediglich, daß die Einbehaltung eine außergewöhnliche Maßnahme sein müsse. Seitdem ist sie zur Regel geworden, wobei ihre Dauer schrittweise immer weiter ausgedehnt wurde: von zuerst sieben auf zehn und dann zwölf Tage. In den Wartebereichen, wo alle Personen verbleiben, denen man den Zutritt zum Staatsgebiet verwehren will, dürfen Ausländer sogar bis zu zwanzig Tage festgehalten werden.

Die Liste der Rechte, die im Namen des Kampfes gegen die illegale Einwanderung den Ausländern brutal verweigert oder aber Schritt für Schritt abgebaut werden, ließe sich fortsetzen. Man verweigert ihnen das Recht auf Fürsorge und ein Mindesteinkommen, wenn sie illegal im Lande sind, auch wenn sie zuvor gearbeitet und Beiträge gezahlt haben; man verweigert das Recht auf Unterricht, wenn die Eltern nicht mehr wagen, ihre Kinder in der Schule anzumelden, weil sie fürchten, von den Schulämtern verraten zu werden; man schafft das Recht auf Eheschließung und familiäres Zusammenleben ab, wenn auch der illegale künftige Ehepartner von der Gemeindeverwaltung verraten zu werden droht, wenn die Hindernisse, die einer Familienzusammenführung im Wege stehen, sich häufen oder wenn eine Ausweisungsmaßnahme die Ehegatten jeden Moment auseinanderreißen oder ein Kind von seinen Eltern trennen kann. Aber vielleicht wiegt sogar noch schwerer, daß unter dem Vorwand der Bekämpfung der illegalen Einwanderung ein Repressions- und Polizeisystem errichtet wird, an das man sich schnell gewöhnt und dessen Folgen letztlich alle, auch die eigenen Staatsbürger, zu tragen haben. Einer der spektakulärsten Aspekte dieser polizeiorientierten Entwicklung ist die ständig erweiterte Kompetenz der Polizeiorgane, Personenkontrollen durchzuführen, wobei oft nicht einmal die wenigen gesetzlich verankerten Einschränkungen respektiert werden.

Rechtsstaat gegen Erfassungsstaat

DABEI beeinträchtigen die massiven Personenkontrollen zum Aufspüren von außerhalb der Legalität lebenden Ausländern nicht nur die Freizügigkeit, sie fördern auch den Rassismus, weil sie das Mißtrauen gegenüber der gesamten ausländischen Bevölkerung verstärken.

Darüber hinaus gibt es Haussuchungen und polizeiliche Ermittlungen, die ebenfalls eine massive Einmischung in das Privatleben der Menschen darstellen und in dem Maße zunehmen, wie die Rechtsvorschriften dazu einladen: Sie dienen dazu, außerhalb der Legalität lebende Ausländer aufzufinden, Familienmitglieder zu enttarnen, die sich illegal auf französischem Staatsgebiet aufhalten, und einen Einblick in das Leben der einzelnen ethnischen Gemeinschaft zu gewinnen.

Schließlich ist auch auf die zunehmende Verfeinerung der datentechnischen Erfassung hinzuweisen: Dateien zur Erfassung der Ausländer, Dateien zur Rückführung an die Grenze, Schengener Informationssystem, Fingerabdruckkartei – bis hin zu einer Kartei aller Bürger, die Ausländer beherbergen, die uns 1997 freilich gerade noch erspart geblieben ist.

Sind nicht am Ende die Grundlagen der Demokratie und des Rechtsstaates bedroht, wenn die Einwohnermeldeämter bedenkenlos die Verfahrensgarantien eines Gesetzes verletzen, deren Einhaltung ohnehin kaum zu erzwingen ist? Wenn Richter, die darauf beharren, ihre verfassungsmäßige Rolle als Garanten der Freiheit des einzelnen auszuüben, beschuldigt werden, das Funktionieren der Verwaltung zu behindern, daß heißt nach Auffassung der öffentlichen Stellen nur noch Erfüllungsgehilfen bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung sein sollen und nicht mehr Garanten der Einhaltung des Rechts und der rechtsstaatlichen Formen? Wenn man sieht, wie sich Denunziantentum breitmacht und die Beamten in den Einwohnermeldeämtern, Postämtern, sozialen Diensten, Schulen und sogar Krankenhäusern aufgefordert werden, außerhalb der Legalität lebende Ausländer zu denunzieren? Wenn schließlich jeder, der einen von ihnen aufnimmt oder unterstützt, unter Strafandrohung steht, weil er den unrechtmäßigen Aufenthalt eines Ausländers in Frankreich begünstigt hat?

Zwar hat die Linke in den zehn Jahren ihrer Regierungszeit gewiß aus aufrichtigen Beweggründen versucht, den Einwandererzustrom human und unter Wahrung der Menschenrechte in den Griff zu bekommen; doch die Erfahrung hat gezeigt: Wenn man erst einmal in der repressiven Denkweise gefangen ist, gewinnt sie sehr rasch die Oberhand über den Wunsch, die Rechte des Individuums zu wahren. Die am Weil-Bericht orientierten Schritte der Jospin-Regierung stellen nicht die den geltenden Rechtsvorschriften zugrundeliegende Gesamtphilosophie in Frage, sondern beschränken sich darauf, ein Körnchen Humanität ins Getriebe zu streuen und zu hoffen, daß die schockierendsten oder – nüchterner formuliert – den Interessen Frankreichs abträglichsten Fälle damit künftig verhindert werden.

Eine solche Politik, die nicht nur die Demokratie unterminiert, sondern sich zudem als uneffektiv und kontraproduktiv erwiesen hat, läßt sich nicht einmal unter Berufung auf den Realismus rechtfertigen. Denn diese Politik läuft den eigenen Zielen zuwider, wenn sie Menschen von einem Besuch in ihrer Heimat abschreckt, die wissen, daß sie alle Rechte verlieren, wenn sie Frankreich verlassen; oder wenn sie die Integration Zehntausender, die sie außerhalb der Legalität hält (obwohl man weiß, daß sie bleiben werden und ein Teil von ihnen schließlich anerkannt wird), ebenso behindert wie die Integration all derer, die im Namen dieser Politik täglich lästige, erniedrigende Kontrollen erdulden müssen.3

Es gilt, aus Erfahrung zu lernen, die Argumentation aufzugeben, wonach die Grenzen unbedingt abgeriegelt werden müssen, es gilt den Grundsatz der Freizügigkeit und mit ihm das Recht zu gewährleisten, sich im Land seiner Wahl niederzulassen. Natürlich muß man auch bereit sein, über die Grenzen zu diskutieren, die der Ausübung dieser Freiheit zu setzen sind, wenn sich zeigt, daß sie Risiken oder Gefahren mit sich bringt. Doch sind auf jeden Fall die Prinzipien einzuhalten, an denen sich die Menschenrechte orientieren.

dt. Sabine Scheidemann

* Professorin an der Universität Paris-X (Nanterre), Vorsitzende der Gruppe für Information und Unterstützung der Einwanderer (Gisti).

Fußnoten: 1 Patrick Weil, „Pour une politique de l'immigration juste et efficace“, Paris (La Documentation française) 1997. 2 „Lettre ouverte à M. Jospin sur la politique des flux migratoires“, verfaßt von sechs Organisationen, darunter auch der Gisti, 10. Juli 1997 (Internet: http:// www.bok.net/pajol/ouv/). 3 Didier Fusain, Alain Morice, Cathérine Quiminal (Hrsg.), „Les lois de l'inhospitalité. Les politiques de l'immigration à lépreuve des sans-papiers“, Paris (La Découverte) 1997.

Le Monde diplomatique vom 14.11.1997, von DANIÈLE LOCHAK