14.11.1997

Kapitalismus im Sinn

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Kapitalismus im Sinn

Aus Südostasien kommend, hat die Irritation der Finanzmärkte mittlerweile Hongkong, Shanghai und Peking erreicht, just in dem Moment, da Präsident Jiang Zemin in die USA reiste, um neue Handelsabkommen anzuspinnen. Die zunehmende Bedeutung Chinas im Weltmaßstab hat auch dem Parteitag der Kommunistischen Partei, der Mitte September 1997, wenige Monate nach dem Tod Deng Xiaopings stattfand, erhöhte Aufmerksamkeit verschafft. Dabei waren keine großen Veränderungen zu erwarten: In der chinesischen Politik herrscht Stagnation, doch auf wirtschaftlichem Gebiet wird die Entscheidung zur Umstrukturierung der Staatsbetriebe demnächst weitreichende Folgen zeitigen. Ausmaß und Tempo dieser Umstrukturierung stehen noch nicht fest, sind jedoch Gegenstand zahlreicher Debatten innerhalb der Parteigremien. Allerdings macht sich allenthalben die Angst vor der Arbeitslosigkeit breit, und es ist bereits absehbar, daß die Arbeitnehmer aus den konkursgefährdeten Betrieben, die trotz schwerster Arbeit unter Lohnkürzungen und Lohnrückständen leiden, ihre Unzufriedenheit ausdrücken werden.

Von ROLAND LEW *

WAS am Verhalten des chinesischen Regimes und am häufig sehr rigiden Parteitagszeremoniell der Kommunistischen Partei (KPCh) überrascht, ist der Gegensatz zwischen Stärke und Schwäche. Angesichts der wirtschaftlichen Erfolge, der gelungenen Rückübertragung Hongkongs und der wachsenden internationalen Bedeutung der VR China würde man erwarten, daß die herrschenden Kreise sich mittlerweile selbstsicher geben. Denn China wird längst nicht mehr nur von außen ernsthaft als „die zweite Supermacht“ und als eine der Großmächte des 21. Jahrhunderts angesehen, auch die Chinesen selbst und das Regime haben – wenngleich noch leise – begonnen, ihre Ambitionen kundzutun. Dabei ist man sich bewußt, daß der Weg zu diesem Ziel lang und steil sein wird, steht doch nach wie vor die enorme Armut des Landes im Mittelpunkt aller offiziellen Reden. Die Ziele sind langfristig: Erst im Jahre 2010, 2020 beziehungsweise 2050 (um den 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik) erwartet man, daß der ökonomische Rückstand wirklich aufgeholt ist.

In der Tat vollzieht sich in China einerseits ein enormer ökonomischer und geopolitischer Machtzuwachs; andererseits steckt das Land noch inmitten einer schwierigen, bisweilen chaotischen Umgestaltung der Wirtschaft und des Systems, die mit deutlichen gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen einhergeht. Dies führt dazu, daß offizielle Parteiproklamationen und gesellschaftliche Wirklichkeit nach zwei Jahrzehnten postmaoistischer Umwälzungen weit auseinanderklaffen.

Überdeckt wird diese Schwierigkeit durch einen grassierenden – realen wie manipulierten – patriotischen Eifer, der seit einigen Jahren den inhaltsleeren Marxismus-Leninismus abgelöst hat.

Gerade in der repressiven Politik gegenüber den irredentistischen Nicht-Han- Völkern, insbesondere in Tibet und in Sinkiang, wird dieser nationalistische Eifer deutlich sichtbar.1

Die Resolutionstexte und Versammlungen im Vorfeld des Parteitages zeichneten sich vor allem durch ihre vorsichtigen Formulierungen aus: Jiang Zemins Ansprache in der ersten Sitzung des Parteitags am 12. September war in erster Linie eine – leicht überarbeitete – Wiederholung der Rede, die er bereits am 29. Mai in der zentralen Parteischule vor der obersten Führung des Landes gehalten hatte.2 Die Parole lautete: politische Stabilität. Und da die Parteiführung derzeit eine umfassende Reform der Staatsbetriebe mit ungewissem Ausgang plant, muß die Führung Einheit demonstrieren. Da ist für so heikle Fragen wie Menschenrechte oder Tibet kein Platz.

Außenpolitische Fragen (oder das als innenpolitisches Problem betrachtete Thema Taiwan) kamen nur sehr allgemein zur Sprache, und der gemäßigte Ton erinnerte kaum noch an die bis vor kurzem bekundeten aggressiven Parolen. Hauptsache, es herrscht Ruhe und Ordnung im Land und die Nachfolge ist geregelt. Selbst die einzige bedeutsame politische Veränderung, die Ausschaltung von Qiao Shi – die ehemalige Nummer drei der Partei behält nicht einmal den Sitz im Zentralkomitee – hatte sich bereits angekündigt: Er hatte als einziger der führenden Politiker des Landes nicht an der Versammlung vom 29. Mai teilgenommen, obwohl diese einen breiten Konsens dokumentieren sollte.

Das Terrain der Parteitagsdebatte schien also bereits im Vorfeld abgesteckt zu sein. Seit Monaten drehen sich die Debatten um die Frage der „geistigen Kultur“, ein für die KP-Geschichte keineswegs neues Thema. In seiner Neuauflage wird es nun zu so etwas wie einer Hauptparole der Jiang-Zemin-Ära. Mit dem ziemlich vagen Begriff sollen die verschiedensten Aspekte des öffentlichen Lebens betont werden: Pioniergeist, Berufsethik, Leistung, Gemeinsinn, Familientugend, eine gute Erziehung, die chinesische Tradition, vor allem aber Patriotismus und strenge Disziplin. Anders gesagt: es handelt sich um eine Treueerklärung zum „sozialistischen“ Regime und zur Staatsmacht3 – ein nicht sehr präzises und für die Bevölkerung wenig überzeugendes Sammelsurium.

Hinter dieser wirtschaftlichen und politischen Kontinuität verbirgt sich die – auf der gesamten gesellschaftlichen Skala bereits sichtbare – soziale Umwälzung, die in den offiziellen Reden niemals angesprochen wird. In der Betonung der Disziplin zeigt sich der Wille, das Land besser in den Griff zu bekommen, was trotz der Erfolge im gesamtwirtschaftlichen Aufschwung keineswegs gesichert scheint. Die Ordnungsparolen wenden sich vor allem an die Armee, die sich weitgehend der zivilen Kontrolle entzieht und der die zivile Bevölkerung zahlreiche ungeahndete Korruptionsfälle und viele Kompetenzüberschreitungen vorwirft.

Die „kommunistische“ Führung würde sich gern den Gehorsam des Militärs sichern, denn die Armee, der bewaffnete Arm der Partei, dient in erster Linie als Schutzwall des Regimes und dann erst des Landes. Entsprechend wählte der Parteitag auch diesmal wieder die Militärkommission – die oberste Armeebehörde –, während die wichtigsten Regimefunktionäre nicht direkt durch die Partei nominiert wurden. Niemand in der neuen Führung scheint einen ähnlich starken Einfluß auf die Armee zu besitzen wie seinerzeit Mao oder Deng, auch wenn Jiang Zemin seit acht Jahren Vorsitzender der Militärkommission ist. Daß die beiden stellvertretenden Vorsitzenden der Militärkommission, die Generäle Zhang Wannian und Chi Haotian, im Politbüro sitzen, bestätigt die engen Verbindungen zwischen Armee und Partei, doch eine absolute Loyalitätsgarantie ist dies nicht. Während und nach dem Parteitag gab es zu viele dringende Gehorsamsappelle, als daß man von einer Normalisierung der Lage ausgehen könnte.

Allenfalls scheint Jiang Zemin die Armee neutralisiert zu haben. So jedenfalls interpretiert man das Fehlen eines Militärvertreters im höchsten Organ, dem Ständigen Ausschuß des Politbüros (wie noch beim vorangegangenen Parteitag). Doch es muß sich erst erweisen, ob Jiang Zemin künftig die nationalistischen bzw. chauvinistischen Pressionen verhindern kann, die in den letzten Jahren und ganz besonders im Zusammenhang mit der Taiwan- Krise 1996 von der Armee ausgingen.

Immer wieder wird die Verbindung zur Deng-Ära und zur Ideologie des „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen“ betont, und noch immer dient Deng als Legitimationsfigur. Die Führung sah sich veranlaßt, in die Parteicharta neben der rituellen Erinnerung an das „Denken Maos“ einen ausdrücklichen Bezug auf die „Theorie Deng Xiaopings“ aufzunehmen. Da es aber bekanntlich bei Deng gar keine Theorie gab, sondern nur eine sehr pragmatische Anpassung an die jeweiligen Umstände, läßt sich daraus allenfalls schließen, daß man die Kontinuität der Dengschen „Reformarbeit“ (genauer: der Umwälzungsarbeit) hervorheben wollte.

Im Zentrum der langen Beratungen innerhalb der Führung, die diesen Sommer im Badeort Beidahe stattfanden, standen die Personalfragen. Hier wurde unter anderem die Ausschaltung von Qiao Shi, dem Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses (NVK), beschlossen, die auf dem Parteitag als Resultat eines Bündnisses zwischen Jiang Zemin und Li Peng offiziell bestätigt wurde. Li Peng behält seinen zweiten Platz in der Hierarchie und wird höchstwahrscheinlich nach Ablauf seiner zweiten fünfjährigen Amtszeit als Premierminister im März 1998 den Vorsitz im NVK übernehmen. Seine Nachfolge als Premierminister wird Zhu Rongji antreten, derzeit als Vizepremier für die Wirtschaft verantwortlich, der zur Nummer drei in der Hierarchie aufgerückt ist.

Eine Umkehr ist nicht mehr möglich

DOCH das Kräfteverhältnis besagt noch nichts über die Entwicklung der künftigen Richtungskämpfe. Zhu Rongji hat das Image eines energischen und kompetenten Reformtechnokraten, wohingegen der wenig populäre Li Peng vor allem mit den Repressionen von 1989 identifiziert wird.

Im Bereich der politischen Reformen dominiert eine gewisse Vorsicht, wenn nicht sogar Ängstlichkeit – ein untrüglicher Beweis für die Unsicherheit des Regimes. Auf die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz 1989 kommt niemand zu sprechen, auch wenn niemand verkennt, daß man eines Tages den Preis dafür bezahlen muß. Inbesondere einzelne frühere Mitglieder des Brain-Trust von Zhao Ziyang deuteten während des Parteitags diese Einschätzung an. Ansonsten gab es nur die übliche Phrase von den „notwendigen Reformen“, wobei sich aber niemand eine Präzisierung zutraute. Auch der Kampf gegen die Korruption wird lautstark beschworen, doch niemand äußert eine konkrete Vorstellung, die diese politische Zielsetzung glaubwürdig machen würde.

Die Korruption ist allgegenwärtig und entspringt mehr denn je an der Spitze der Machtpyramide; und sie hat sehr viel mit der Bewegung zur Umwandlung der Eliten zu tun, das heißt deren Aufteilung nach Regionen und Ortschaften oder nach Beziehungsgeflechten und Familienstrukturen.4 Nach wie vor besteht eine große Kluft zwischen den vorgetragenen Regierungsprinzipien des Staates und dem tatsächlichen Zustand der Gesellschaft bzw. der täglichen Erfahrung, die nicht mehr viel mit der Mao-Zeit zu tun haben.

Die autoritäre Haltung kaschiert zahlreiche Schwächen der Staatsmacht, um nicht zu sagen eine gewisse Verunsicherung der führenden Politiker, die nicht recht wissen, wie sie ihre verlorene Legitimität zurückgewinnen sollen. Sie verdanken ihre Stärke dem Fehlen einer Alternative sowie den derzeitigen Wirtschaftserfolgen. Eine Macht, die vom Mangel lebt. Unter dem Druck der Bevölkerung und großer Teile der Eliten, die sich im Nationalen Volkskongreß auch zuweilen ein paar offenere Worte erlauben, signalisiert das Regime seine Absicht, demnächst auch politische Reformvorhaben zu präsentieren, um die Arbeit der Verwaltung zu verbessern, ein reales Rechtssystem auszuarbeiten und in den kommenden Jahren ansatzweise eine – natürlich kontrollierte – Mitbestimmung der Bevölkerung einzuführen. Also habt Geduld... Im Augenblick beschränken sich die Anstrengungen auf eine Modernisierung der Verwaltung und eine Reduzierung der staatlichen Bürokratie, die bereits von 9,25 Millionen Beamten 1992 auf 7,25 Millionen 1996 geschrumpft ist.

Die offiziellen Reden im Zusammenhang mit dem 15. Parteitag lassen die Theorie von der „Gründerphase des Sozialismus“ wieder aufleben. Das ist nichts Neues, wenngleich ein verschlüsselter Hinweis auf die kommenden Entwicklungen. Auf dem 13. Parteitag der KPCh 1987 wurde diese Thematik von dem führenden Reformpolitiker Zhao Ziyang lanciert. Er machte sich mit diesem Konzept für eine Fortsetzung des Reformkurses stark, der damals von einem mächtigen Flügel innerhalb der Partei angegriffen wurde. Die Parole war ein politischer Kompromiß zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb der KPCh, wie auch ihr späteres Pendant, die berühmte Formel vom „Marktsozialismus“ – eine verklausulierte Art und Weise, den Fortbestand des Regimes und seiner „sozialistischen“ Grundlagen zu bestätigen, während man gleichzeitig energisch auf den nichtsozialistischen Markt hinarbeitete: die Organisierung des Postkommunismus innerhalb des „Kommunismus“.

Damals ging es darum, Theorie und tatsächliche Bewegung einander anzunähern; zehn Jahre später geht es darum, keine Unruhe auszulösen und anzudeuten, daß man auf dem eingeschlagenen Weg voranschreitet, daß eine Umkehr – welche ohnehin unmöglich wäre – nicht in Frage kommt. Es geht um die nächste Etappe: eine Etappe, in der auch der Kapitalismus kein Tabu mehr ist, auch nicht für den staatssozialistischen Sektor. Vermieden wird lediglich der Begriff.

Denn wenn man die Fakten sieht, so lautet die Frage nicht mehr, in welcher Etappe des „Aufbaus des Sozialismus“ man sich befindet, sondern welche Form von Kapitalismus (von allgemeiner Marktwirtschaft) im Entstehen begriffen ist: Inwieweit kann das Regime die guten ökonomischen Leistungen beibehalten und gleichzeitig in der Logik einer nationalen Interessenvertretung weiterführen, ohne von den Folgen überrollt zu werden? Bisher ist ihm dies seit Beginn der Reform in bemerkenswerter Weise gelungen.

Die ökonomische Situation, die im großen und ganzen nach wie vor günstig ist, drängt ebenso wie der Grad der Öffnung zur übrigen Welt dazu, die laufenden Entwicklungen noch weiter zu vertiefen. Die Weichenstellungen des Parteitags über eine Teilprivatisierung der Staatsbetriebe, die noch der Konkretisierung harrt, spiegeln weniger den Mut der derzeitigen Führung als den Versuch, eine ungeordnet ablaufende Entwickung einzuholen und zu beherrschen. Laut Weltbank-Berichten ist in den letzten zehn Jahren bereits Staatsbesitz im Wert von 10 Milliarden Dollar an Privatpersonen verkauft worden, teils völlig illegal, teils über obskure Arrangements.5

Zwar stagnierte der Außenhandel 1996 mit einer lediglich 1,5prozentigen Steigerung des Exportvolumens auf 151 Milliarden Dollar (bei einem Überschuß von 13 Milliarden Dollar), doch das Wirtschaftswachstum legt mit fast 10 Prozent weiterhin ein stattliches Tempo vor. Die Inflation lag nach offiziellen Quellen bei 5 bis 6 Prozent, was den Erfolg des seit 1994 wieder angekurbelten gesamtwirtschaftlichen Aufschwungs bestätigt. Für die sieben ersten Monate 1997 beträgt das Wachstum 9,5 Prozent, aber der Export ist um 26 Prozent gestiegen und der Handelsüberschuß erreicht bereits 20,5 Milliarden Dollar. Selbst wenn man die statistischen Tricks berücksichtigt (die vielleicht die Wachstumsrate heben und das Inflationsniveau senken) erscheint die Wirtschaft insgesamt prosperierend, vor allem in Anbetracht der 125 Milliarden Dollar Devisenreserven – ohne Hongkong gerechnet –, welche die zweitgrößten der Welt darstellen.

42,4 Milliarden Dollar Direktinvestitionen aus dem Ausland sind 1996 ins Land geflossen, gegenüber 1995 eine Steigerung um 12 Prozent.6 Und auch die 90000 Studenten, die in den letzten fünf Jahren nach einem Auslandsstudium ins Land zurückgekehrt sind – 15000 davon allein nach Shanghai7 –, sind ein positives Zeichen.

Der generelle Erfolg überdeckt jedoch nur scheinbar die wachsenden regionalen und sozialen Ungleichheiten, die sich seit Beginn der Reform nur noch verschärft haben – ganz zu schweigen von den Risiken für eine Wirtschaft, die den Gesetzen des Weltmarktes noch stärker ausgesetzt wäre und die sich in der Finanzkrise der südostasiatischen Länder zeigen.8

Eine Umfrage bei 40000 städtischen Familien bestätigt den Einkommensanstieg: Dreiviertel der Familien verfügen über Jahreseinkommen von mehr als 10000 Yuan, eine Steigerung gegenüber 1991 um 70 Prozent. Auffällig ist allerdings, daß 55 Prozent der reichen Familien (mit Einkommen über 100000 Yuan im Jahr) allein auf die (an Hongkong grenzende) Provinz Guangdong konzentriert sind, die weitgehend in die Weltwirtschaft integriert ist und daher seit langem an der Spitze der Veränderungen steht. Auch eine Stadt wie Shanghai oder die Küstenprovinzen Zhejiang und Jiangsu haben an diesem Wohlstands-China einen beträchtlichen Anteil, doch das Hinterland ist fast gar nicht vertreten.9 Und in Shanghai hat sich der Abstand zwischen dem Zehntel der reichsten und dem Zehntel der ärmsten Chinesen zwischen 1990 und 1996 vervierfacht.10

Eine Spaltung zwischen den aufstrebenden und den eher gefährdeten Bevölkerungsgruppen macht auch die Reform des staatlichen Sektors sichtbar, die vorrangig auf der Tagesordnung steht. Die offizielle Debatte über dieses Thema gehörte zu den wenigen, die manchmal über Allgemeinheiten hinausgelangten.11 Zwar hatte man die Umstrukturierung dieses Sektors seit Beginn der Reformen am Ende der siebziger Jahre immer wieder erörtert, doch jetzt scheint sie in die entscheidende Phase einzutreten – eines Sektors, der die Inkarnation des „chinesischen Sozialismus“ und in gewisser Weise sogar die verwirklichte Form des Staats-„Sozialismus“ im 20. Jahrhundert darstellte. In offiziellen Texten werden für diesen Sektor verschiedene Varianten von Eigentumsbildung, Privatisierung und Rückzug des Staates vorgeschlagen.

In den Medien werden auf diesem Gebiet immer kühnere Vorschläge erörtert. Einflußreiche Ökonomen wie Dong Fureng treten für Privatisierungen ein – oder wenigstens für die Einführung von Marktmechanismen in einem Sektor, der an die hundert Millionen Erwerbstätige betrifft (118000 Betriebe, davon 7000 unter direkter Leitung durch die Zentralregierung). Der Staat sollte seine alte Position nur noch im Bereich der Infrastruktur und der nationalen Sicherheit halten.12 Nach Aussage von Vizepremier Wu Bangguo war das Jahr 1996 mit Verlusten von 70 Milliarden Yuan (gegenüber 54 Milliarden 1995) für den staatlichen Sektor besonders schwierig: Der sei zu 70 Prozent defizitär und stelle eine schwere Dauerbelastung für den nationalen Haushalt dar (16,2 Milliarden Yuan Subventionen 199513 ), auch wenn die Zuschüsse sich seit einigen Jahren verringern.

Die Krise bedrohe sogar den Bankensektor, der immer häufiger anstelle des Staates quasi bankrotte Fabriken zu subventionieren habe: 20 bis 30 Prozent der Anleihen werden nicht zurückgezahlt. In letzter Instanz müsse für das Defizit natürlich doch der Staat aufkommen, was finanziell nicht länger tragbar sei.

Privatisieren ohne Sozialversicherung

IN der Presse wird in zahlreichen Erklärungen die öffentliche Meinung auf eine sanfte Reform der Besitzverhältnisse eingestimmt: Neben dem Verkauf eines Teils der Unternehmensaktien an die Belegschaften, an den kollektiven Sektor und damit letzten Endes an Privatleute – wobei im Prinzip offenbar nur Chinesen gemeint sind – soll der Staat seine dominierende Position, aber nicht unbedingt die Mehrheit behalten.14 So steht es, vorsichtig und zurückhaltend formuliert, in den offiziellen Texten, die jedoch nicht ins Detail gehen. Auch ist der gesetzliche Rahmen noch nicht geschaffen.15 Auf Dauer soll der Staat demnach nur eine begrenzte Zahl großer Unternehmen behalten (den Quellen nach 500 bis 1000), die jedoch mehr als die Hälfte des Vermögens der öffentlichen Unternehmen ausmachen.

Ein Teil dieser Staatsbetriebe soll zu mächtigen Unternehmensgruppen mit unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen zusammengefaßt werden – zu konkurrenzfähigen, rentablen Großunternehmen von internationalem Rang nach dem Muster der großen südkoreanischen Unternehmensgruppen. Als ihre vorrangigen Aufgaben werden benannt: das technologische Niveau der chinesischen Produkte verbessern und ihren Aufstieg in die Liga weltmarktfähiger Waren sichern, beziehungsweise die Modernisierung der Armee beschleunigen. Der staatliche Textilsektor, der gerade eine sehr schwierige Phase durchläuft, belegt die Dringlichkeit dieses Problems. In 18 Städten machen Staatsbetriebe, die vollkommen autonom und freier Konkurrenz ausgesetzt sind, seit 1994 Piloterfahrungen – 1996 waren es 58, Ende dieses Jahres werden es 111 sein.16 Die Entschlossenheit der neuen Führung wird sich somit an dem Tempo erweisen, das sie beim Übergang von dieser Experimentierphase zu einer Verallgemeinerung der Reform vorlegt.

Wie in der Vergangenheit geht es auch heute keineswegs darum, den Staatssektor urplötzlich zu zerschlagen, wie es andere östliche Länder getan haben. Die Folgen dieses Kahlschlags waren bekanntlich verheerend. Vizepremier Zhu Rongji, der für die Durchführung der Umstrukturierung zuständig ist, betonte zur Zeit des Parteikongresses, die Einführung der Aktiengesellschaften nicht forcieren zu wollen. Zudem läßt Li Peng verlauten, man müsse erst das chinesische Börsensystem verbessern, da es bislang nicht die nötigen Ressourcen aufzubringen vermochte, um das technologische Niveau der Unternehmen zu heben.17

Der Schutz der Staatsbetriebe, um „russische Verhältnisse“ beziehungsweise eine soziale Explosion in den Städten zu vermeiden, war einst ein wesentlicher Bestandteil des chinesischen „Übergangs“-Modells, dem auch in breiten internationalen Kreisen Erfolg bescheinigt wurde. Dessenungeachtet hat das Regime den Abbau dieses Sektors zugelassen beziehungsweise selber mitbetrieben. Heute ist er, der noch 1980 mit 80 Prozent der gesamten Industrietätigkeit dominierend war, auf ein knappes Drittel geschrumpft.18 Die Zahl der Konkurse, die zwar 1988 gesetzlich zugelassen wurden, doch bis vor kurzem noch undenkbar waren, ist in letzter Zeit angestiegen: von 2300 im Jahr 1995 auf 6300 im Jahr 1996. Konkurse sind eine bequeme Art der Schuldentilgung; das Nachsehen haben dabei die Banken und der Staatshaushalt, die finanziell einspringen müssen. Die Politik der chinesischen Führung, die unrentablen Betrieben Fusionen nahelegt, fördert diese Art von Niedergang.

Gewiß steht die chinesische Führung nicht geschlossen hinter einer größeren Privatisierungswelle, da bei einer solchen Politik die „sozialistische Bastion“ vor dem Kapitalismus kapitulieren würde –, und zwar selbst dann, wenn das Ziel eine gemischte Wirtschaft unter einer (rechtlichen oder auch nur faktischen) Oberaufsicht der (nationalen, regionalen oder lokalen) Behörden wäre. Die Erklärungen der hohen Funktionäre sind deutlich nuanciert. Um zu belegen, daß der öffentliche Sektor nach wie vor die Oberhand hat, addiert man offiziell gerne den Anteil des staatlichen Sektors (rund 30 Prozent der Industrieproduktion) mit dem des kollektiven Sektors (rund 40 bis 45 Prozent), obwohl letzterer vielfach höchstens nominell noch öffentlich ist, denn er unterliegt einer veränderten Logik, die weniger vom Staat als von den neuen Machtverflechtungen, den neuen Eliten bestimmt ist.

Die vom Verlust ihrer Kontrollbefugnisse bedrohten Ministerialbürokratien leisten entsprechend heftigen Widerstand. Dabei mag man noch so sehr auf eine „sozialistische“ Logik schwören, in letzter Konsequenz handelt es sich doch um den bislang wichtigsten Schritt hin zur Logik des Kapitalismus (das heißt des Staatskapitalismus) innerhalb der postmaoistischen Wirtschaftsentwicklung.

Doch aus Furcht vor einer sozialen Explosion will sich das Regime – wie schon in der Vergangenheit – zunächst auf sorgfältig ausgewählte Pilotprojekte beschränken, um notfalls erneut einen Rückzieher machen zu können. Da China außerdem bislang noch kein nationales Sozialversicherungssystem hat, obliegen die sozialen Belange immer noch größtenteils den Betrieben beziehungsweise lokalen und regionalen Initiativen. So wird etwa ein Drittel der Schulen und Krankenhäuser noch immer direkt von den Staatsbetrieben verwaltet.19

Die Unzufriedenheit der Arbeiter in diesem im Umbruch befindlichen Staatssektor wächst ständig. Die Führung räumt ein, daß die seit dem 1. Mai 1995 gesetzlich vorgeschriebene Fünftagewoche noch längst nicht überall durchgesetzt ist. Auch Zehnstundentage sind keine Seltenheit. Doch die heftigen sozialen Spannungen in den Staatsbetrieben rühren nicht zuletzt von getarnten Entlassungen oder Lohnkürzungen beziehungsweise von den zahllosen Lohnrückständen. Mehr als neun Millionen Arbeiter wurden „umgesetzt“ – wie man schamhaft sagt –, und elf Millionen warten auf ihren Lohn. Der so wichtige staatliche Textilsektor ist in besonders schlechter Verfassung.20 Außerdem haben im Mai dieses Jahres 2,3 Millionen Rentner ihre Rente nicht oder nur teilweise ausgezahlt bekommen.

Resultat: Im ersten Halbjahr 1997 wurden 26000 Fälle von „Arbeiterunruhen“ (unterschiedlicher Art) gezählt – eine Steigerung um 59 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum 1996.21 In der bevölkerungsreichen Provinz Sichuan im Westen, die hinter den großen ökonomischen Veränderungen hinterherhinkt, brachen mehrfach Unruhen aus; in Nanchong, einer abgelegenen Stadt, kann man fast vom Beginn eines Volksaufstandes sprechen. In der Stadt, die ihren völligen wirtschaftlichem Niedergang erlebt, streikten 20000 Arbeiter eines fast bankrotten staatlichen Textilbetriebs und belagerten das Rathaus, um gegen den sechsmonatigen Lohnrückstand zu protestieren.

Der Staat versuchte, die Ereignisse zu vertuschen, weshalb die Geschichte erst nach einigen Monaten bekanntwurde. In derselben Provinz wurden in der Stadt Mianyan im Juli neun Personen verhaftet, die wegen des Konkurses einer Seidenfabrik auf die Straße gegangen waren und den Verkehr lahmgelegt hatten.22 Bislang schreckt das Regime vor der Anwendung direkter Repression zurück, außer wenn sich, wie bei den Ereignissen von 1989, der Ansatz zu einer unabhängigen Arbeiterorganisation abzeichnet.23

Doch das Regime weicht noch weniger als vor einigen Jahren von seinem generellen Ziel ab: der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien. Während unter den Eliten immer mehr Anhänger dieses Zieles zu finden sind, schwanken die Reaktionen der Arbeiter in den Staatsbetrieben zwischen Angst und Feindseligkeit. Die Unterbeschäftigung, die sich in den Städten offiziell auf 3 bis 4 Prozent (rund 5 Millionen Menschen) beläuft – die „umgesetzten“ Arbeiter nicht mitgerechnet –, könnte im Jahr 2000 16 Millionen betreffen.24 In manchen Regionen des Nordostens (der früheren Mandschurei), einem Gebiet mit ziemlich veralteter Schwerindustrie, steigt die Arbeitslosigkeit auf bis zu 20 Prozent. In Shanghai wurden 1996 zweihunderttausend Arbeiter, hauptsächlich aus dem Textilbereich, entlassen. Sie werden in der derzeitigen expandierenden Wirtschaftslage sicher wieder Arbeit finden, wenn auch häufig in schlechter bezahlten Tätigkeiten. Andernfalls bekommen sie eine bescheidene Arbeitslosenunterstützung. Man schätzt, daß im Laufe der kommenden zwei Jahre weiteren 400000 Erwerbstätigen in dieser Stadt dasselbe Schicksal widerfahren wird.25 Und obwohl im staatlichen Sektor bereits 10 Millionen Arbeiter entlassen wurden, rechnet man mit weiteren 15 Millionen „Überzähligen“.26

Die offizielle Parteizeitung Renmin Ribao sprach in ihrem Leitartikel vom 1. Mai dieses Jahres von der derzeitigen Verschlechterung für die Arbeiter, versicherte jedoch, die Fortführung der Reformen werde für Millionen Werktätige vorteilhaft sein.27 Diese Vorteile lassen jedoch auf sich warten, denn auch wenn China ökonomisch rasch vorankommt, so gibt es doch eine breite (wenngleich zurückgehende) Armut, von der nach amtlichen Schätzungen 60 bis 70 Millionen Menschen betroffen sind.28 Nicht eingerechnet die 300 Millionen Chinesen, die – hauptsächlich auf dem Lande – mit begrenztem Einkommen leben.

Während man also auf höchster Ebene sozialistische Überzeugungen zur Schau stellt, die niemanden mehr überzeugen (schon gar nicht die nächste Umgebung, besonders die Kinder, die in völlig anderen Denkvorstellungen leben), diskutiert man offen bis in die offiziellen Sphären hinein – aber jenseits der Öffentlichkeit –, wie man die Eliten umbilden müßte und welche Form von Regime am geeignetsten wäre, die nächste Etappe der Umgestaltung zu sichern. An höchster Stelle werden ausführlich die neuen, raffinierteren Methoden autoritärer Führung diskutiert. Und man fragt nach dem besten Weg, wie sich die Traditionen und das kulturelle Erbe des Landes nutzen ließen, um sowohl einen Volksaufstand – immer noch die größte Furcht der Herrschenden – als auch den Zerfall des chinesischen Universums zu vermeiden, das so schwer zu regieren und so voller Risiken und Möglichkeiten ist.

dt. Sigrid Vagt

* Dozent an der Freien Universität in Brüssel.

Fußnoten: 1 Vgl.Vincent Fourniau, „Die Uiguren von Sinkiang sollen zu Chinesen werden“, Le Monde diplomatique, September 1997. 2 Summary of World Broadcast (SWB), Far East (FE), Nr. 2943, 12. Mai 1997. 3 Vgl. z. B. „Xinhua“, abgedruckt in SWB FE, Nr. 2936, 29. Mai 1997. 4 Vgl. Jean-Louis Rocca, „Mit alten Strukturen in ein neues System“, Le Monde diplomatique, März 1997. 5 Far Eastern Economic Review (FEER), 25. September 1997. 6 SWB FE, Nr. 2998, 15. August 1997; Summary of World Broadcast, Far East Weekly (SWB FEW), Nr. 494, 4. Juli 1997; China Daily, 6. September 1997. 7 FEER, 7. August 1997. 8 Vgl. Frédéric F. Clairmont, „Typhon financier sur les ,tigres‘ d'Asie“, Le Monde diplomatique, Oktober 1997. 9 SWB FEW, Nr. 491, 18. Juli 1997. 10 FEER, 7. August 1997. 11 SWB FE, Nr. 2969, 12. Juli 1997, und Nr. 2938, 6. Juni 1997. 12 SWB FE, Nr. 2998, 15. August 1997, und Nr. 2981, 3. Juli 1997. 13 SWB FE, Nr. 2938, 6. Juni 1997; Financial Times, 25. April 1997. 14 SWB FE, Nr. 3025, 16. September 1997. 15 SWB FE, Nr. 3001 G1, 19. August 1997, und G1 und G3. 16 FEER, 28. August 1997; SWB FE, Nr. 3006, 25. August 1997; Françoise Lemoine, „Chine: la transition inachevée“, Actuel Marx, Nr. 22, 1997. S. 36ff. 17 SWB FE, Nr. 3031, 23. September 1997. 18 SWB FE, Nr. 2998, 15. August 1997. 19 SWB FE, Nr. 3025, 19. September 1997. 20 François-Yves Damon, „Le devenir des usines textiles d'Etat“, Transitions, Brüssel, 1997-2. 21 SWB FE, Nr. 2932, 30. Mai 1997; FEER, 4. September 1997. 22 FEER, 26. Juni 1997, S. 1415; SWB FE, Nr. 2975, 19. Juli 1997. 23 Zur Lage der Arbeiter und zu den neuen Formen von Ausbeutung vgl. die dokumentierten Aussagen in dem Buch von Hsi Hsuan-wou und Charles Reeve, „Bureaucratie, bagnes et business“, Paris (L'Insomniaque) 1997; oder die „Lettre d'information de la Commission internationale d'enquête du mouvement ouvrier et démocratique contre la répression en Chine“, 25, rue Ledion, Paris 75014. 24 Nach einer alarmierenden Studie, veröffentlicht in Renmin Luntan, 8. Mai, abgedruckt in SWB FE, Nr. 2993, 9. August 1997. 25 FEER, 1. August 1997. 26 SWB FE, Nr. 3028, 19. September 1997. 27 Renmin Ribao, 1. Mai 1997, abgedruckt in SWB FE, Nr. 2908, 2. Mai 1997. 28 SWB FE, Nr. 3028, 19. September 1997.

Le Monde diplomatique vom 14.11.1997, von ROLAND LEW