12.12.1997

Globalisierung der Krankheit

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Globalisierung der Krankheit

DIE Welt rückt immer mehr zusammen, der Handel intensiviert sich und die weltweite Verflechtung der Volkswirtschaften nimmt zu – eine Tendenz, die sich gegenüber den vergangenen Jahrhunderten zunehmend verschärft. Infolge dieser Globalisierung treten neben den traditionellen Autoritäten – Familie, Religion, Gesetz und Regierung – neue anonyme Herren auf, die niemand kontrollieren kann. Sie diktieren die Preise, lösen Krisen aus, beherrschen die öffentliche Meinung nach Belieben, veranlassen Massenentlassungen und setzen moderne Technologien durch. Alles im Namen des Fortschritts.

Von MARC FERRO *

Die Behauptung, unsere Gesellschaft sei krank, ist zum Gemeinplatz geworden, ohne daß sie deswegen ihre Berechtigung verloren hätte. Man darf sie sogar wörtlich nehmen: Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Gesundheitszustand einer Bevölkerung und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Neben der Arbeitslosigkeit stehen Probleme gesundheitlicher Art ganz oben auf der Tagesordnung. Abgesehen von der Kostenexplosion im Gesundheitswesen vergeht kein Jahr, in dem sich in dieser Hinsicht nicht irgendein Drama ereignet: Tschernobyl, Aids, „Rinderwahnsinn“, Asbestverseuchung, Luftverschmutzung, Diesel- Schadstoffe etc. Diese Katastrophen werden (ob zu Recht oder zu Unrecht) als neuartiges Phänomen wahrgenommen, sowohl als Folge des menschlichen Handelns und des technischen Fortschritts als auch als Reaktionen der Natur, der wir scheinbar machtlos gegenüberstehen.

Gegen diese Katastrophen haben die höchsten Regierungskreise den Kampf aufgenommen. 1918 konnte man auf einem amtlichen Plakat in Frankreich lesen: „Zwei Heimsuchungen: die Deutschen und die Tuberkulose“. Und im Mittelpunkt von Clintons erstem Wahlkampf 1992 standen die Themen soziale Gerechtigkeit und öffentliches Gesundheitswesen; auch in Frankreich und Deutschland, wo der Fortbestand des Sozialstaats und der sozialen Sicherungssysteme äußerst umstritten ist, beherrschen diese Fragen neben anderen Krisenphänomenen die öffentliche Diskussion.

Allem Anschein nach haben sich Ort und Gegenstand der traditionellen sozialen Konflikte in den entwickelten Industrieländern verlagert. In der Vergangenheit richtete sich der Protest gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, und seine Form war in erster Linie kollektiv. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesellt sich die Krankheit (als gesellschaftliche Verweigerung) klammheimlich zur bisherigen Protestform des Streiks.1 Dabei äußert sich die Krankheit teils als individueller passiver Widerstand gegen ungerechte Behandlung wie irrwitziges Arbeitstempo, teils als Folge der Desorganisation der Arbeitswelt. Mitunter sind beide Ursachen gleichzeitig am Werk. In jedem Fall hat sich Krankheit zum Symptom sozialen Unbehagens entwickelt, so daß die Beschäftigten nicht mehr nur für Lohn- und Arbeitszeitforderungen auf die Straße gehen, sondern auch für den Erhalt von Leistungen bei der Gesundheitsversorgung.

Derzeit leben 85 Prozent der Aids- Kranken und Epidemie-Opfer in Ländern des Südens. Am stärksten betroffen sind Gebiete, in denen Kriege, Waldvernichtung, Großprojekte und die Abwanderung in gigantische urbane Ballungsräume die natürlichen Kreisläufe in Mitleidenschaft gezogen und zur Verknappung und Verschmutzung der Natur geführt haben.

Wie die Gesundheit der Nationen ist auch die des einzelnen zum Brennpunkt von Konflikten und Widersprüchen geworden. Zur Zeit der Aufklärung fühlte sich allein der Ärztestand für die Gesundheit zuständig. Nachdem er, gestützt auf die Staatsgewalt, der Kirche die medizinische Versorgung entrissen hatte, trat er in den christlichen Ländern für eine gewisse moralische Ordnung ein und gewann großes Prestige mit der erfolgreichen Bekämpfung der Infektionskrankheiten. In der Folgezeit übertrugen die Ärzte dem Staat einen Teil der Verantwortung für die Gesundheit seiner Bürger. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Gesundheit endgültig Sache des Staats und der politischen Parteien, was verheerende Folgen zeitigte, wo die Ideologien die Oberhand gewannen: Hier waren sie es, die bestimmten, wer an Körper und Geist gesund sei – die NSDAP etwa definierte sich als „Partei der angewandten Biologie“.2

In Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten widersetzten sich die medizinischen Standesorganisationen dieser Entwicklung. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat der Markt sich auch des Gesundheitswesens bemächtigt; Profit und Rentabilität hielten Einzug in die Krankenhausverwaltungen. Aus Patienten wurden „Konsumenten“.

Nach US-amerikanischem Vorbild greift neuerdings auch die Justiz in medizinische Angelegenheiten ein und verfolgt die Patienten bis in ihr Krankenbett, um für sie Entschädigungszahlungen von denen zu erwirken, die für ihren Gesundheitszustand mutmaßlich verantwortlich sind. So ist auch die Justiz zu einem Handlungsträger des öffentlichen Gesundheitswesens avanciert – eine Funktion, die sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon einmal innehatte, als sie für die „anormalen“, unzurechnungsfähigen oder gefährlichen Fälle zuständig war. Heute muß man sich die Frage stellen, ob die Bürger den Rechtsweg nicht auch deshalb einschlagen, weil ihr Vertrauen in Autoritäten (und somit auch in die politischen Institutionen) geschwunden ist.

Ein neues Rollenspiel kristallisiert sich heraus, in dem Juristen, Ärzte, Krankenversicherungen, Arzneimittelhersteller sowie der Staat gemeinsam agieren und von den Medien in Szene gesetzt werden. Das klassische Arzt-Patienten-Verhältnis ist ebenso verschwunden wie alle anderen tradierten sozialen Beziehungen, welche noch bis in die fünfziger Jahre hinein Gültigkeit besaßen.

In einer Zeit, in der die „Intelligenz der Bakterien“ und die verheerenden Naturereignisse3 dem wissenschaftlichen Fortschritt seine Grenzen aufzeigen, drängt sich die Frage auf, ob die aus dem 18. Jahrhundert stammende Funktionsweise der Demokratie, deren Grundprinzipien außer Frage stehen, nicht modifiziert werden sollte, da sie im Vergleich zu Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie einen erheblichen Entwicklungsrückstand aufweist. Ein aggiornamento der Demokratie besteht folglich nicht in einer Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten oder der Abschaffung von Ämterhäufungen, sondern vielmehr, wie es einst Rousseau, Locke oder Mably taten, in einer eingehenden Betrachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, aus der heraus neue verfassungsrechtliche Ideen entwickelt werden könnten.

Nach dem Bankrott des kommunistischen Systems – wenngleich nicht des kommunistischen oder sozialistischen Ideals – sieht sich das sozialstaatliche Erbe durch einen allerorts triumphierenden Liberalismus in Frage gestellt. Dessen Wortführer haben offensichtlich vergessen, daß die Krisen und Revolutionen, aus denen der Totalitarismus hervorging, gerade durch die schrankenlose Entfaltung des Liberalismus hervorgerufen wurden.

Die Auswirkungen von Globalisierung und wirtschaftlicher Verflechtung lassen sich auf der Ebene der Gesundheit leicht verfolgen. Laurie Garrett etwa hat in einer Studie den engen Zusammenhang zwischen der Ausbreitung zahlreicher ansteckender Krankheiten und der zunehmenden Industrialisierung von Therapieformen und Vorsorgemaßnahmen diagnostiziert.4 Viele Katastrophen wären sicherlich vermeidbar, doch bislang wird für die Gesundheitsversorgung in den armen Ländern weitaus weniger ausgeben als in den reichen.

Das Mißverhältnis zwischen Arm und Reich hat sich im globalen Vergleich ebenso vergrößert wie innerhalb der einzelnen Nationen. Diese Kluft vertieft sich zusehends, weil in den armen Ländern die Wettbewerbsfähigkeit eines großen Teils der Bevölkerung unablässig sinkt, während das gesamtwirtschaftliche Gewicht der Großunternehmen und Finanzgruppen ebenso unablässig zunimmt. Die Zahl „unnützer Menschen“ steigt, und der Graben zwischen gut ausgebildeten Eliten und unqualifizierten Arbeitskräften vertieft sich.

Diese Polarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse produziert ein höheres Krankheitsrisiko, denn in den Industrieländern prägt das Einkommensniveau auf direkte Weise den Gesundheitszustand. Eine wachsende Lebenserwartung bleibt in erster Linie den wohlhabenden Gesellschaftsschichten vorbehalten. In den Ländern mit den geringsten Einkommensunterschieden ist die durchschnittliche Lebenserwartung am höchsten. Frappierende Ergebnisse zeigt in dieser Hinsicht ein Vergleich zwischen Großbritannien und Japan – zwei Länder, in denen sich die Lebenserwartung 1970 noch auf ungefähr gleichem Niveau befand. In Japan, wo die Einkommensunterschiede deutlicher abnahmen als in anderen Industrieländern, stieg die Lebenserwartung um sechs Jahre und zehn Monate. In Großbritannien hingegen, wo sich die Gesellschaft unter der liberalen Thatcher-Regierung am stärksten polarisierte, stieg die Lebenserwartung im gleichen Zeitraum um nur knapp drei Jahre und zehn Monate.5

Ein weiteres Beispiel ist Rußland. Hier löste die drastische Verarmung eines Teils der Bevölkerung eine regelrechte Welle von Herzinfarkten aus. Das Land erlebte eine sprunghafte Zunahme der Hirngefäßerkrankungen von 25 auf 65 Prozent. Die sinkende Lebenserwartung betrifft vor allem die Vierzig- bis Fünfzigjährigen, und hier in erster Linie die Männer, was auf eine Destabilisierung eines Teils der Bevölkerung schließen läßt.6

Die Zurückdrängung des Staates und die Ausweitung des Marktes haben zur allgemeinen Misere und der damit einhergehenden Verunsicherung beigetragen. Zu allen Zeiten erwarteten die westlichen Gesellschaften vom Staat eine schützende Hand: gegen Feinde von außen, gegen Unterdrückung im Innern ebenso wie für die eigene Sicherheit. In dieser Tradition überließ man dem Staat die Lenkung der Wirtschaft, in der Erwartung, er möge einen vor Ausbeutern schützen.

Egal ob in Frankreich, den USA oder einem anderen Land – immer geht es bei den Wahlen um politische Veränderungen, doch an der allgemeinen Ausrichtung ändert sich nie etwas. Das traditionelle politische Instrumentarium zeigt sich den gegenwärtigen Herausforderungen so wenig gewachsen, daß die Bürger das Gefühl haben, ihre Lage sei weniger unübersichtlich als vielmehr ausweglos. Längst haben sich in dem aus dem 18. Jahrhundert überlieferten demokratisch-republikanischen System neue Kräfte installiert, längst sind Wirtschaft und Management dabei, die Oberhand zu gewinnen, ihre eigenen Gesetze und Wertmaßstäbe durchzusetzen und die Schaltstellen des juristischen Apparates zu besetzen. Die demokratische Willensäußerung bleibt nur zu leicht auf der Strecke. Angesichts des enormen wissenschaftlichen Fortschritts, der neueren Entwicklungen im Bereich der Medien, Technologie und Kommunikation sowie angesichts der zunehmenden Dominanz der Rechtsprechung sind Erörterungen über Wahlgesetze oder Gewaltenteilung aussichtslos, weil die Macht längst woanders liegt.

Das Verhältnis zwischen Staat und Nation auf der einen und internationalen Institutionen auf der anderen Seite muß neu überdacht werden. Die einzelnen Staaten sollten mit mehr Machtbefugnissen ausgestattet sein, ohne einem einzelnen Land eine Vormachtstellung einzuräumen. Nach wie vor ist das UNO-Budget lächerlich gering und sinkt, verglichen mit der wachsenden Weltbevölkerung, der Zunahme kriegerischer Auseinandersetzungen sowie der Verschlechterung des Gesundheitszustands in den Ländern der südlichen Hemisphäre.

Vielleicht ist es tatsächlich illusorisch, zu glauben, daß man auf einzelstaatlicher Ebene den neuen Herren der Welt beikommen könnte, und vielleicht ist es ebenso illusorisch, anzunehmen, die G 7 könnten versuchen, mittels Besteuerung der Finanzströme und des Waffenhandels den Opfern der Globalisierung Unterstützung zukommen zu lassen.

dt. Bodo Schulze

* Historiker und Studiendirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, Autor von „Der Große Krieg 1914-1918“, dt. von Michael Jeismann, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988, und “Geschichtsbilder. Wie die Vergangenheit vermittelt wird“, dt. von Annette Böltau, Frankfurt am Main (Campus) 1991.

Fußnoten: 1 In der Sowjetunion, wo Streiks verboten waren, ließen sich 1988 täglich vier Millionen Bürger krank schreiben; in den Vereinigten Staaten waren es eine Million. 2 Zum Nazismus und der Ansicht von Goebbels, die angewandte Biologie sei „die Endlösung der sozialen Frage“, vgl. Aly/Chroust/Press, „Cleansing the Fatherland“, 1994. 3 Harold Neu, „The Crisis in Antibiotic Resistance“, Science, Zeitschrift der Amerian Association for the Advancement of Science, Nr. 257, 1992. 4 Laurie Garrett, „The Coming Plague. Newly Emerging Diseases in a World out of Balance“, New York (Farrar, Strauss and Giroux) 1994. 5 M. G. Marmot, „Social differentials in health within and between populations“, Daedalus (Health and Wealth), Herbst 1994. 6 G. A. Cornia/Paniccia, „The demographic impact of sudden impoverishment: Eastern Europe during the 1989-1994 transition“, Harvard-Kolloquium, April 1996; A. Avdeev/A. Blum/S. Zakharov, „La mortalité en URSS a-t-elle vraiment augmenté brutalement entre 1991 et 1995?“, Dossiers et Recherches INED 51, 1996.

Le Monde diplomatique vom 12.12.1997, von MARC FERRO