12.12.1997

Die kleinen lateinamerikanischen Fälschungen

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Die kleinen lateinamerikanischen Fälschungen

Von MAURICE LEMOINE

IN seinem Vorwort führt Stéphane Courtois eine Zahlenbilanz auf, in der die geschätzte Zahl der Todesopfer des Kommunismus auf dem südamerikanischen Subkontinent mit mindestens 150000 angegeben wird. Daran schließt sich das Kapitel „Lateinamerika und die Prüfungen des Kommunismus“1 an, das insgesamt aus drei Teilen besteht (Kuba, Nicaragua, Peru). Der Autor vermeldet darin 15000- 17000 Opfer von Erschießungen in Kuba und 25000- 30000 Todesopfer des Sendero Luminoso in Peru. Um Zahlen aus Nicaragua ganz offensichtlich verlegen, führt er gar keine an. Anstelle der 150000 angekündigten Toten also 47000.

Offensichtlich hat man sich verrechnet – es sei denn, man ist der Meinung (und der Autor scheint dies zu sein), daß die 35000 bis 50000 Toten des Krieges in Nicaragua – gegen die Somoza-Diktatur – und die 45000 bis 50000 Toten des Bürgerkrieges, der von den Contras und den Vereinigten Staaten angeheizt wurde, sämtlich auf das Konto der Sandinisten gehen, die, nebenbei bemerkt, in ihren Reihen mehr Christen als Kommunisten hatten.

Historische Forschungen und Historiker sind in dem Kapitel dezent ausgespart. Man kommt gleich zur Sache, auch wenn es nicht immer einfach ist. Che Guevara zum Beispiel sei „von pauschalem Antiamerikanismus verblendet“ (jeglicher Bezug auf einen historischen Hintergrund fehlt). Er propagiere den Guerillakrieg, und im Kongo „kreuzen sich seine Wege mit denen eines gewissen Désiré Kabila, einem Marxisten, der sich inzwischen zum neuen Herren von Zaire gemacht hat und vor Massakern an der Zivilbevölkerung nicht zurückschreckt“.

Es zeugt von einer gewissen Kühnheit, derlei Eckpunkte, zwischen denen über dreißig Jahre liegen, so eng miteinander zu verknüpfen. Eingebettet ist die zitierte Äußerung in eine Beschreibung des kubanischen Regimes, die nichts Neues bietet und im wesentlichen die Daten korrekt referiert – unter Auslassung der sozialen Errungenschaften natürlich; am Ende zieht der Autor die oben genannte Bilanz: 15000-17000 Erschossene. Wie ist man auf diese Zahlen gekommen? Nirgendwo findet sich eine ernsthafte Quelle, nirgendwo ein Hinweis auf Untersuchungen einer bekannten, angesehenen oder unabhängigen Organisation.

Es hagelt Behauptungen. 1978 gab es „zwischen 15000 und 20000 politische Häftlinge“. Das ist allerdings sonderbar. Bei amnesty international, einer Quelle, die der Autor bei anderen Gelegenheiten zitiert, hieß es damals nämlich: „Seit 1959 wurden 23000 Personen von einem Tag auf den anderen inhaftiert. Bis zum September 1977 wurden 20691 Personen wieder auf freien Fuß gesetzt.“2 – „1986 gab es 12000 bis 15000 politische Häftlinge“, behauptet der Autor dann wieder. Laut amnesty gab es „Ende 1986 rund 450 politische Häftlinge“3 . Natürlich kann man darauf hinweisen, daß amnesty international mit seinen Vorwürfen sehr zu Recht äußerst vorsichtig umgeht, aber die Differenz ist derart groß, daß man mißtrauisch werden muß. Wenn die Zahl der Toten nach den gleichen Methoden errechnet wurde, kann man sich das Ausmaß der Katastrophe vorstellen.

Von der US-Politik wird höflichst geschwiegen

DIE Sandinisten in Nicaragua werden auf die gleiche Weise abgehandelt und werden mit den Anhängern des Sendero Luminoso in einen Topf geworfen, obwohl Ideologie, Methoden und die Unterstützung in der Öffentlichkeit eigentlich keinerlei Grund für diese Gleichsetzung bieten.

In einem minimalen Ausflug in die Geschichte erfährt man, daß der zukünftige Präsident Daniel Ortega, der den Somoza-Anhängern in die Hände gefallen und 1974 befreit worden war, „umgehend ein Flugzeug nach Kuba nimmt“, während der Kommandant Eden Pastora – der am Ende zu den Contras überlaufen wird – „bei seinen Mitstreitern bleibt“. Denselben Daniel Ortega jedoch treffen wir dann, wohl aus Versehen, 1978 an der Nordfront, doch als dann der Sieg naht, da gibt es kein Vertun, und „die Kader der FSLN [Sandinistische Front zur Nationalen Befreiung], die sich nach Kuba verzogen hatten, kehren nach Nicaragua zurück“. Eden Pastora und seine muchachos indessen „kämpfen erbittert gegen die Eliteeinheiten der Garde“ (was übrigens stimmt).

Im weiteren Verlauf des Textes wird sich der Leser kaum der Frage erwehren können, ob es sich hier um eine historische Bilanz handelt oder um einen Ausschnitt aus den Memoiren von Ronald Reagan. Derselbe Leser übrigens wird vergeblich nach irgendwelchen Hinweisen auf die 1985 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag verurteilte kriegstreiberische Politik und Aggression Washingtons suchen. „Vom Norden bis zum Süden erhob sich das Land gegen das diktatorische Regime von Managua mit seiner Neigung zum Totalitarismus.“

Was war mit den Wahlen 1984? „Angesichts der Gewalttaten der turbas, der Handlanger der Sandinisten-Partei, zog der konservative Kandidat Arturo Cruz seine Kandidatur zurück“ (tatsächlich wollte die Opposition an den Wahlen teilnehmen, wurde jedoch von der Regierung Reagan davon abgebracht, damit die Wahlen an Glaubwürdigkeit verloren).

Ebensowenig fehlt der unvermeidliche Abschnitt über die Sandinistenpolitik gegenüber den Miskito- Indianern, die angeblich „bis dahin von einer vorteilhaften Autonomie profitiert hatten“4 . Die Unterdrückungsmaßnahmen hätten „den Ethnologen Gilles Bataillon veranlaßt, von einer Politik des Ethnozids zu sprechen“5 . So hätte zum Beispiel am 23. Dezember 1981 in Leimus die „sandinistische Armee fünfundsiebzig Minderjährige massakriert (...) Am folgenden Tag fanden in Leimus fünfunddreißig weitere Minderjährige den gleichen Tod.“ Eine Verfälschung par excellence. Anfang 1982 stellten katholische Priester Nachforschungen über die Ereignisse an und kamen zu dem Ergebnis, daß Sandinistensoldaten auf eigene Faust in Leimus neun bis zwölf Minderjährige hingerichtet hatten. „Etwa zehn“, bestätigten sie in ihrem Hirtenbrief vom 17. Februar. Ein Streit um Zahlen? Nein, die Zahl der Opfer wurde einfach mit 10 multipliziert, und eine verbrecherische Greueltat wurde damit zur – vielleicht gar planmäßigen – Massakerpolitik aufgebauscht.

Doch warum sollte man dem Autor keinen Glauben schenken? Schließlich sind die Quellen, auf die er sich stützt, äußerst seriös. „Im Juni 1982 schätzte amnesty international die Zahl der Häftlinge auf über 4000, darunter zahlreiche Somoza-Gardisten, aber auch mehrere hundert politisch andersdenkende Häftlinge. Ein Jahr später wurde die Zahl der Häftlinge auf 20000 geschätzt.“ Ein Blick in die Jahresberichte der Menschenrechtsorganisation hingegen zeigt: „Ende 1982 waren noch 2400 Personen inhaftiert“6 , und ein Jahr später waren es „2500“.7

Liest man diesen Text, könnte man fast zu dem Schluß gelangen, daß die Massaker des Regimes von General Pinochet nach dem Militärputsch 1973 eigentlich den Kommunisten anzulasten sind, die in der Unidad Popular des (demokratisch gewählten) Präsidenten Salvador Allende mitregierten. Was das angeht, sollte man sich lieber gleich auf den Meister anstatt auf den Schüler berufen. „Ich sehe nicht ein, warum wir untätig zusehen sollen, wenn ein Land durch die Verantwortungslosigkeit der eigenen Bevölkerung kommunistisch wird“, erklärte Henry Kissinger im Juni 1970. Er jedenfalls hatte eine klare Position: Unter den gleichen Bedingungen hätte er sogar einen Hitler der Volksfront vorgezogen.

dt. Esther Kinsky

Fußnoten: 1 Pascal Fontaine, „L'Amérique latine à l'épreuve des communismes“, in „Le Livre noir du communisme“, S. 707-742. 2 „Jahresbericht 1978“, amnesty international, Bonn. 3 „Jahresbericht 1987“, amnesty international, Bonn. Alle hier zitierten amnesty-Berichte sind zu erhalten bei: amnesty international, Hauptbüro Deutschland, Heerstraße 178, 53111 Bonn, Tel. (0228) 983730. 4 Die Sandinisten waren auf dem Kontinent die ersten, die einem autochthonen Volk (den Miskitos 1989) die Autonomie gewährten. 5 Die Schriften von Gilles Bataillon, der in den achtziger Jahren in der Zeitschrift Esprit eine erbitterte Kampagne gegen die Sandinisten führte, sind seither völlig entkräftet worden. Siehe „Der Präsident holt die Miskito-Fahne ein“, Le Monde diplomatique, September 1997. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß der Autor in den zehn bibliographischen Anmerkungen zu Nicaragua sechsmal aufgeführt wird. 6 „Jahresbericht 1983“, amnesty international, Bonn. 7 „Jahresbericht 1984“, amnesty international, Bonn.

Le Monde diplomatique vom 12.12.1997, von MAURICE LEMOINE