12.12.1997

Ausstieg aus der Lohngesellschaft

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Ausstieg aus der Lohngesellschaft

SEIT mehr als zwanzig Jahren ist André Gorz mit seinen Einsichten über die neue Wirklichkeit der Erwerbstätigkeit der Zeit voraus. Und das nicht, was die Evolution der Mentalitäten angeht, sondern hinsichtlich der Einstellung, die in diesem Punkt noch immer bei fast allen führenden Politikern und Gewerkschaftlern wie auch bei den „Meinungsmachern“ anzutreffen ist. Sein neues Werk1 , der gedankliche Schlußstein in der Reflexionskette seiner vorangegangenen Werke – „Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus“ (1964, dt. 1975), „Abschied vom Proletariat“ (1980) und vor allem „Kritik der ökonomischen Vernunft, Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft“ (1988, dt. 1989)2 – spürt die bedrohliche Kluft auf, die sich zwischen den „Miseren der Gegenwart“ und dem „Reichtum des Möglichen“ auftut. Diese „Miseren der Gegenwart“, die sich niederschlagen in Zehntausenden von Jugendlichen mit guten Hochschuldiplomen, deren Bewerbungen um die „neuen Stellen“ im Erziehungswesen bei den Rektoraten eingehen, ist die Folge eines seit den siebziger Jahren spürbaren Phänomens, das André Gorz als „Exodus“ des Kapitals bezeichnet.

Dreißig Jahre lang deckten sich die Interessen des Kapitals mit denen des keynesianischen Nationalstaats, der die Ausweitung von Produktion, Nachfrage, Produktivität und Profit garantierte und gleichzeitig für die Umverteilung eines Teils des erzeugten Reichtums und für Vollbeschäftigung sorgte.

Als sich dieses Modell infolge der Sättigung des Binnenmarkts und des drastischen Absinkens der Erträge aus Investitionen als zunehmend untauglich erwies, sagte sich der Kapitalismus von einem Wohlfahrtsstaat los, der ihm nichts mehr bieten konnte und zudem – um die Formulierung der Dreierkommission aufzugreifen – erste Anzeichen von „Unregierbarkeit“ aufwies.

Solche Krisenzeichen wurden auch in großen Produktions- und Dienstleistungsbetrieben spürbar, wo die Beschäftigten mit ihrem Wunsch nach Veränderung die hierarchischen Strukturen zu sprengen begannen. Der Staat als „weithin sichtbare und angreifbare Ordnungsinstanz“ wurde ersetzt durch eine „unsichtbare und anonyme Ordnungsinstanz, deren von keiner Legislative erlassenen Gesetzen sich alle zwangsläufig und widerstandslos wie Naturgesetzen unterordnen würden. Diese Ordnungsinstanz ist der Markt.“

Bei den Unternehmen hat die Deregulierung mit ihren „Formen dezentraler Selbstorganisation“ den Arbeitsmarkt „befreit“. Zum Leitmodell wurde der „Toyotismus“, ein System zur Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten in den Produktionsabläufen hin zu übersichtlichen Arbeitsteams, die bei völliger Organisationsfreiheit dennoch die Erfüllung ihrer Zielvorgaben zu gewährleisten haben.

Theoretisch hätte dieses System ebenso gut auf eine Automatisierung wie auf eine noch stärkere Entfremdung der Beschäftigten hinauslaufen können. Globalisierung, Reengineering – ein Prinzip, das den für ein bestimmtes Produktionsvolumen benötigten Einsatz von menschlicher Arbeitskraft reduziert – und Outsourcing haben das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitals verändert. „Das Unternehmen ist nicht mehr als Verband von Arbeitskräften an einem Standort zu sehen: Es nimmt Dienstleister in Anspruch, ganz wie man sich an den Klempner oder Zahnarzt wendet.“

„Es gibt keine sicheren Jobs mehr“: In der Tendenz erwartet dieses Schicksal einen jeden von uns. Anstatt indes über diesen Stand der Dinge zu jammern, schlägt André Gorz vor, ihn anzunehmen, daraus eine bewußt gewählte, wünschenswerte, gesellschaftlich kontrollierte und aufgewertete Lebensform zu machen – aber zum Preis einer kulturellen Revolution: „Die Arbeit muß ihre zentrale Stellung im Bewußtsein, im Denken, in unser aller Vorstellungswelt verlieren“. Die Diskontinuität seiner Arbeit soll jeder selbst bestimmen können, ohne deswegen unter schwankenden Einkommensverhältnissen leiden zu müssen. Dies ist der Kerngedanke im „Reichtum des Möglichen“. Bei allen zukünftigen Auseinandersetzungen wird es darum gehen: „Der Kapitalismus gibt die wachsende Menge von Leuten, für die er keine Beschäftigung mehr hat, der gesellschaftlichen Nutzlosigkeit anheim, und (...) die Gesellschaft erweist sich als unfähig, Menschen hervorzubringen, damit sie ihr nützlich sind, und sich die Menschen zunutze zu machen, die sie hervorbringt. Es gibt keine Gesellschaft mehr, die so umfassend wäre, daß alle Menschen sich in der Art und Weise, wie sie ihr nützen, wiederfinden können. Anstatt der Gesellschaft zu dienen, geht es jetzt darum, wieder Gesellschaft hervorzubringen.“

Zu diesem Zweck befürwortet Gorz, als Ergebnis eines stringenten Denkprozesses, bei dem er einige seiner früheren Positionen wieder aufgreift, eine gesamtgesellschaftliche Beihilfe, ein Sozialeinkommen, welches im äußersten Fall ermöglicht, „zu leben, ohne zu arbeiten“, aber auch – positiver formuliert – „zeitweilig zu arbeiten und ein multiaktives Leben zu führen, in dem berufliche Arbeit und unbezahlte Tätigkeiten einander ablösen und ergänzen.“ Dieser Vorschlag mag schockieren. Der Autor zeigt jedoch, wie viele Möglichkeiten zu seiner teilweisen Umsetzung in ihm stecken. Und es wird höchste Zeit, diese Richtung einzuschlagen, hin zu einer „Entfaltung der Sinne, zu einer Eigenbestimmung des Selbst und der Dinge, zu einer Verbindung mit den Mitmenschen“. Sonst drohen wir unterzugehen in „Un-Gesellschaften, deren dünne Herrschaftsschicht die verfügbaren Überschüsse an Reichtümern fast ganz für sich vereinnahmt, während das Fehlen von Zielvorstellungen und politischen Orientierungshilfen die Auflösung aller Bindungen und allgemeine Haßgefühle zur Folge hat, die sich selbst gegen das Leben und die eigene Existenz richten.“

André Gorz' Argumente überzeugen, weil es keine Gegenargumente gibt: Niemand kann die Fakten anfechten, auf denen sie fußen; niemand glaubt noch ernstlich an die Rückkehr zur Vollbeschäftigung, wie wir sie bis zu den siebziger Jahren hatten; niemand wagt aber auch, dies offen zu sagen. Wie ein Judoka, der die Kraft seines Gegners nutzt, um ihn auf die Matte zu legen, schlägt der Autor vor, die vom Kapital erzeugte Situation gegen das Kapital zu wenden und die allgemeine Unsicherheit der Arbeitsplätze umzuwerten: zu einem allenthalben bewußt gewählten Einsatz der Zeit. Solange wir noch Zeit dafür haben.

BERNARD CASSEN

dt. Margrethe Schmeer

Fußnoten: 1 André Gorz: „Misères du présent, Richesse du possible“, Paris (Galilée) 1997. 2 Der intellektuelle Werdegang von André Gorz ist nachzulesen bei Jacques Robin, „Une conscience toujours en éveil“, Politis, Nr. 464, 2. Oktober 1997.

Le Monde diplomatique vom 12.12.1997, von BERNARD CASSEN