Wenn Tiger und Drachen sich als lahme Enten erweisen
MIT alarmierenden Vokabeln wie „weltweite Depression“ und „Bedrohung für die ganze Erde“ operiert die angelsächsische Presse, um das Währungsdebakel zu kennzeichnen, das auf Seoul und Tokio übergreift, nachdem es schon die ehemaligen „Tiger“-Länder Südostasiens getroffen hat. Der Internationale Währungsfonds (IWF) stellte soeben – Hals über Kopf, aber mit drakonischen Auflagen – rund 60 Milliarden Dollar für Süd-Korea bereit.
Vor einigen Wochen hatte er bereits 17 Milliarden Dollar für Thailand und 23 Milliarden für Indonesien lockermachen müssen. Wie 1994 in Mexiko ist die Bevölkerung das erste Opfer dieser Anpassungsmaßnahmen, die das „asiatische Wirtschaftswunder“ ins Wanken bringen. Schon zeichnet sich die Gefahr eines Zusammenbruchs des japanischen Bankensystems wegen eines Überhangs an dubiosen, zum Teil nicht mehr realisierbaren Forderungen ab, darunter Darlehen in Höhe von circa 300 Milliarden Dollar, die man zehn südostasiatischen Ländern und Hongkong gewährt hatte. Und wenn Japan ins Wanken gerät, rücken die Vereinigten Staaten und Europa in die vorderste Frontlinie und müssen einer beispiellosen asiatischen Handelsoffensive mit Tiefstpreisen standhalten. „Die Kapitalbewegungen stützen Investitionen, Wachstum und Wohlstand, indem sie die Spargelder auf schnellstem Wege ihrer produktivsten Verwendung zuführen.“ Vor zwei Monaten, anläßlich der Jahrestagung des IWF (in Hongkong), entwickelten alle Finanzminister der Erde gemeinsam diese glänzende Zukunftsaussicht. Was erneut beweist, mit welcher Blindheit diejenigen geschlagen sind, die meinen, daß die Märkte den Lauf der Welt bestimmen sollen.
Von MICHEL CHOSSUDOVSKY *
Am 27. Oktober, fast auf den Tag genau zehn Jahre nach dem berüchtigten „schwarzen Montag“ von 19871 , stürzten die Börsenkurse rund um die Welt ab. Der Dow Jones verlor 554 Punkte und 7,2 Prozent seines Wertes. Frankfurt, Paris und London zogen nach. Am Donnerstag, dem 23. Oktober, sank der Hang-Seng-Index in Hongkong um 10,41 Prozent, am darauffolgenden Montag um weitere 6,7 Prozent und einen Tag danach nochmals um 13,7 Prozent. Ein paar Wochen später verursachte der Kurseinbruch an den Börsen von Seoul und Tokio den Absturz des koreanischen Won.
An Vorzeichen für eine schwere Finanzkrise hatte es keineswegs gefehlt. Im vergangenen Sommer hatte ein Spekulationsfieber die südostasiatischen Währungen erfaßt.2 Die Wall Street erlebte am 15. August 1997 mit einem Verlust von 247 Punkten ihren ersten Schwächeanfall seit 1987. Die Symptome glichen denen des Börsenkrachs vor zehn Jahren: „Institutionelle Spekulanten“ hatten große Aktienpakete abgestoßen, in der Hoffnung, sie nach eingetretener Baisse billiger wieder zurückkaufen zu können. Aber aus diesem stümperhaften Zündeln entstand ein echter Brand. Durch unterschiedliche Finanzinstrumente wie den Markt für „Futures“ und „Optionen“3 wurde ein Kurssturz ausgelöst.
Die vorläufig letzte Krise ist noch keineswegs im Griff, und es steht zu befürchten, daß sie weit mehr Unheil anrichten wird als die von 1987. Vor zehn Jahren waren die Landeswährungen noch relativ fest. Diesmal fallen Turbulenzen an der Aktienbörse mit dem Wertverlust einiger Währungen zusammen. Börse und Devisenmarkt stehen heute in engstem Kontakt. Die „institutionellen Spekulanten“ wissen nicht nur, wie man Aktienkurse manipuliert; sie haben auch gelernt, die Devisenreserven der Zentralbanken zu plündern, und auf diese Weise, sozusagen im Vorübergehen, ganze Volkswirtschaften aus dem Lot gebracht.
Während der letzten fünf Monate wurden zig Milliarden Dollar an Devisenreserven der Zentralbanken südostasiatischer Länder (Thailand, Indonesien, Malaysia, Philippinen) von Spekulanten aufgesogen und auf private Finanzinstitute transferiert. Investitionsbanken und Maklergesellschaften haben wissentlich den Aktien- und Devisenmarkt manipuliert. Paradoxerweise sind es häufig dieselben westlichen Finanzinstitute, die erst die Barbestände aus den Zentralbanken der Entwicklungsländer abgezogen und dann angeboten haben, den Währungshütern Südostasiens „zu Hilfe zu eilen“.4
Sachverständige und Wirtschaftswissenschaftler wischen den Gedanken an eine mögliche Finanzkrise leichthin vom Tisch und behaupten nach wie vor „gute Gesamtperspektiven für die westliche Wirtschaft“. Die G-7-Staaten (die sieben reichsten Länder) befürchten, daß eine Warnung oder vorbeugende Aktionen „schlechte Signale aussenden und Anleger verschrecken könnten“. Die Wall- Street-Beobachter sehen zwar Chancen für eine Kurskorrektur (nach unten), ohne sich jedoch ernstlich um die wirtschaftliche Gesamtlage zu sorgen. Und der breiteren Öffentlichkeit haben die Medien so viele Bilder von quasi universellem Wachstum und Wohlstand eingebleut, daß sie nicht umhin kann, weiterhin an eine blühende Wirtschaftsentwicklung – für die anderen – dank neoliberaler „Reformen“ zu glauben. Widerspruchslos präsentiert man daher die „gesunden makroökonomischen Maßnahmen“, das heißt Haushaltsdisziplin, Deregulierung, Umstrukturierungen und Privatisierungen, als die eigentlichen Schlüssel zum „wirtschaftlichen Glück“. Die wirklichen Tatsachen hingegen werden verschleiert oder manipuliert, gesellschaftliche Indikatoren verschwiegen und wirtschaftliche Grundauffassungen in ihr Gegenteil verkehrt.
Den Absturz der Wall Street am vergangenen 27. Oktober schrieb man gelassen den „strukturschwachen Volkswirtschaften“ Südostasiens zu, Staaten, die man eben noch als „Drachen“ oder „Tiger“ bezeichnet hatte, bevor man sie eher als „lahme Enten“ identifizierte. Solche Fehldiagnosen haben die Experten aber keineswegs vorsichtiger gemacht. Voller Zuversicht meint Alan Greenspan, der Präsident der amerikanischen Federal Reserve, die Lage Südostasiens erkläre sich aus der „Ansteckungsgefahr zwischen Volkswirtschaften, die ihre Schwächen aufeinander übertragen“.
Nach Außerkraftsetzung des 1944 in Bretton Woods geschaffenen Systems fester Wechselkurse im Jahre 1971 vollzog sich die Herausbildung der heutigen Finanzwelt in mehreren Etappen. Fast zeitgleich mit der Ära Thatcher-Reagan hat die Schuldenkrise der achtziger Jahre eine Welle von Fusionen, Konkursen und Umstrukturierungen ausgelöst. Diese Umgestaltungen ließen ihrerseits eine neue Generation von Financiers in den Geschäftsbanken, Maklerfirmen und großen Versicherungsgesellschaften aufsteigen.
Der Börsenkrach hat hier wie ein Sieb gewirkt: Nur die besten konnten überleben. Außerdem vollzieht sich seit zehn Jahren eine massive Konzentration der Finanzmacht. Mit den „institutionellen Spekulanten“ tauchten einflußreiche Akteure auf, die den traditionellen, beispielsweise an produktive Tätigkeiten gebundenen Interessen überlegen sind. Dank eines äußerst vielfältigen Instrumentariums können sich diese Spekulanten nun einen Teil der Reichtümer aneignen, die in Form von Gütern und Dienstleistungen produziert werden. Ohne mit der Realwirtschaft verbunden zu sein, sind sie dennoch imstande, große Industrieunternehmen in den Konkurs zu treiben.
1995 war der tägliche Devisenumsatz (1500 Milliarden Dollar) höher als die Summe der Devisenreserven aller Zentralbanken weltweit.5 Mit anderen Worten: Der Einfluß der „institutionellen Spekulanten“ auf die Devisenreserven ist größer als der der Emissionsbanken, die weder jede für sich noch gemeinsam in der Lage sind, gegen die Spekulation vorzugehen.
Durch die Wechselkurskrise der letzten Monate sind Milliarden von Dollar in die Taschen der institutionellen Spekulanten geflossen: ein Angriff auf die Zentralbanken, mit dem die Finanzkrise eine völlig neue Dimension gewinnt. Nachdem die Spekulanten in Asien auf ihre Kosten gekommen sind, steht zu befürchten, daß sie die Zentralbanken der übrigen „Schwellenländer“ aufs Korn nehmen und so eine heillose Verkettung von Abwertungen und Verarmungsprozessen nach mexikanischem Muster auslösen.6
Die weltweite Umstrukturierung der Finanzinstitute und Finanzmärkte hat die Anhäufung eines ungeheuren privaten Reichtums beschleunigt, der oft aus spekulativen Geschäften stammt. Allein in den Vereinigten Staaten ist die Zahl der Dollarmilliardäre von 13 im Jahre 1982 auf 149 im Jahre 1996 angestiegen. Der „Weltclub der Milliardäre“ zählt mittlerweile 450 Mitglieder und repräsentiert ein Vermögen, das wesentlich größer ist als die Summe der Bruttosozialprodukte aller armen Länder, die 56 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.7
Es ist unnötig geworden, Güter oder Dienstleistungen zu erzeugen. Die Bereicherung vollzieht sich hauptsächlich außerhalb der eigentlichen Volkswirtschaften. Nach Forbes sind die Erfolge von Wall Street „auf die sprunghaft angestiegene Zahl der Milliardäre zurückzuführen“8 . Und ein Teil der so eingestrichenen Milliarden landet auf Nummernkonten in Steuerparadiesen.
Gleichzeitig sinken die Einkommen bei der großen Masse der Erzeuger von Gütern und Dienstleistungen – also der Lebensstandard der meisten Gehaltsempfänger. Öffentliche Gesundheits- und Erziehungsprogramme werden gekürzt, und die Ungleichheit wächst. Der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge gibt es weltweit 1 Milliarde Arbeitslose, das heißt fast ein Drittel der Erwerbstätigen.9
Vor beinahe 70 Jahren konnte man – wenige Monate vor dem Börsenkrach des 28. Oktober 1929 – aus den Kursschwankungen an der Wall Street auf eine gewisse Nervosität der Anleger schließen. Die republikanischen Präsidenten Calvin Coolidge und Herbert Hoover waren dennoch entschlossen, nicht in die Märkte einzugreifen. Die Federal Reserve teilte dieses Vertrauen in das Laisser-faire-Prinzip. Außerdem stützte das Establishment der „Sachverständigen“ und sonstigen Wirtschaftsexperten den Konsens zwischen der obersten politischen und der obersten Währungsinstanz. Fast niemand mochte an ein mögliches Finanzdebakel glauben, die Illusion des Wohlstands überdauerte den Börsenkrach sogar noch um einige Jahre. 1930 erklärte zum Beispiel Professor Irving Fisher von der Yale- Universität: „(...) wenigstens für die nächste Zukunft bestehen glänzende Aussichten.“ Und in Harvard tönte man ganz ähnlich: „Die gewerbliche Tätigkeit befindet sich wieder im Aufwind.“10
Dieselbe Selbstsicherheit ist auch heute verbreitet. Die tonangebenden Orthodoxen negieren die Existenz einer Rezession und bestreiten die Möglichkeit einer Finanzflaute. Robert Lucas, Professor an der Universität Chicago und Träger des Nobelpreises für Wirtschaft, erklärt sogar, die Entscheidungen der wirtschaftlichen Akteure beruhten auf „rationaler Antizipation“ und systematische Irrtümer, die die Börsenkurse in die falsche Richtung treiben, gebe es nicht. Es ist eine seltsame Ironie, wenn die Königlich-Schwedische Akademie zeitgleich mit der aktuellen Währungskrise den Nobelpreis für Wirtschaft ausgerechnet an zwei Amerikaner verleiht, die beide ausgezeichnet werden „für ihre Pionierarbeit bei der Bewertung von Stock-options, welche sich Tausende von Maklern und Anlegern zunutze machen“.
Schon 1987 hatte man sich mit einer eher laxen Erforschung der Ursachen des Börsenkrachs begnügt. Die Frage der Reglementierung wurde im Grunde gar nicht gestellt, nachdem der vom Präsidenten eingesetzte Untersuchungsausschuß unter Vorsitz von Nicholas Brady (ab Januar 1989 Finanzminister im Kabinett Bush) befunden hatte, die vorhandenen Regeln seien „adäquat“. Beharrlich pries man „gesunde makroökonomische Praktiken“ als „Stein der Weisen“ und Allheilmittel.
Da dem Staat eine Intervention untersagt war, forderte man die Börsen von New York und Chicago auf, ihre Funktionsregeln marginal zu ändern. Die taten das auch, indem sie ihre EDV-Programme zur Kursbewertung mit sogenannten circuit breakers versahen, um einem Schneeballeffekt vorzubeugen. (Vorher führte der Kurssturz auf ein Niveau x automatisch zum Verkauf der betroffenen Papiere, was ebenso automatisch ihren Sturz auf das Niveau y hervorrief etc.) Aber die circuit breakers erwiesen sich als untauglich. Am 27. Oktober dieses Jahres löste eine dieser „Sicherungen“ nach einem Kurseinbruch um 350 Punkte die Unterbrechung der Notierungen für eine halbe Stunde aus, was die Panik nur vergrößerte. 25 Minuten nach Wiederbeginn der Notierungen hatten die Kurse weitere 250 Punkte eingebüßt, damit wurde eine zweite „Sicherung“ aktiviert. Sie sperrte die Notierung für den Rest des Tages.
Der Appetit der Milliardäre
IM Unterschied zur Situation in den zwanziger Jahren sind die wichtigsten Börsen der Welt heute Tag und Nacht über EDV miteinander vernetzt. Kursschwankungen in Wall Street führen zu unmittelbaren Reaktionen auf den Finanzmärkten in Europa und Asien. Die jüngsten Erfahrungen haben die destabilisierende Rolle der computergestützten Kursnotierung voll bestätigt: Heutzutage ist es möglich, daß der Dow Jones innerhalb von Minuten um Hunderte von Punkten steigt oder fällt – dank „Superdot“. Dieses EDV-System kann gleichzeitig durchschnittlich 375 gruppierte Kauforders pro Sekunde bearbeiten, was einer Kapazität von 2 Milliarden Aktien pro Tag entspricht. Alan Greenspan hat übrigens eingeräumt, die Leistungsfähigkeit der Finanzmärkte sei so hoch, „daß sich Irrtümer viel schneller verbreiten, als man es noch vor einer Generation für möglich gehalten hätte“11 . Da sich Tempo und Volumen der zu erwartenden Transaktionen seit 1987 verzehnfacht haben, ist das Risiko instabiler Finanzen enorm gestiegen, zumal die Volkswirtschaften durch ein Netz von Handels- und Finanztransaktionen immer enger miteinander verknüpft sind.
Aber auch die makroökonomischen Praktiken haben sich global ausgebreitet. Überall herrschen dieselben Austeritätsmaßnahmen, die der Aufsicht von Gläubigern und internationalen Finanzinstituten unterstehen. In der Dritten Welt und den Ländern des ehemaligen Sowjetblocks wurden die Volkswirtschaften durch Abwertungen destabilisiert, die immer wieder zu sozialen Unruhen, ethnischen Krisen und Bürgerkriegen führten.
Läßt man die Globalisierungseuphorie einmal beseite, ist die augenblickliche Lage in allen Regionen der Welt am besten als Stagnation zu beschreiben. Der Rückschritt in den Entwicklungsländern hat gravierendere Ausmaße angenommen als die große Depression der Vereinigten Staaten in den dreißiger Jahren. In den ehemaligen Sowjetrepubliken hat der wirtschaftliche Einbruch schlimmere Ausmaße als in den härtesten Zeiten des Zweiten Weltkriegs, als die deutsche Armee von der UdSSR ganz Weißrußland und einen Teil der Ukraine besetzt hielt und die industrielle Infrastruktur von der Wehrmacht zerbombt wurde.12
Die weltweite Kaufkraft hat sich auf wenige Märkte verengt. Mit Ausnahme des blühenden Marktes für Luxusgüter, die für das sozioökonomisch meistbegünstigte Kundensegment bestimmt sind, schrumpfen die Absatzchancen für gängige Konsumgüter immer weiter zusammen. Der Höhenflug der Aktienkurse steht also in keinem Bezug zur eigentlichen Wirtschaftslage. Daher kann es auch auf den Finanzmärkten „nicht ewig so weiter gehen“. Und das „Vertrauen“ der Unternehmer wird „durch die Rezession nicht gerade gestärkt“. Das augenblickliche Börsenfieber erinnert unter mehreren Gesichtspunkten an die albanischen „Finanzpyramiden“13 . Die Leute, die ihr Geld an der Börse anlegen, werden sich so lange bereichern, wie die Kurse steigen und sie selbst weiter an der Börse investieren.
Aber wenn die Kurstendenz umschlägt, sind ohne jede Vorwarnung die Ersparnisse für Ruhestand, Ausbildung oder andere Risikodeckungen dahin. Mehr als 40 Prozent aller erwachsenen Amerikaner haben einen Teil ihrer Ersparnisse an der Börse angelegt. Eine Finanzkrise könnte somit eine Kette von Konkursen auslösen, die sofort zu einer Schieflage der Banken führen würde. Derzeit sorgt sich Alan Greenspan lediglich wegen des „unübersehbaren“ Temposchwunds in der amerikanischen Wirtschaft. Und gerade von dieser erhofft man sich, daß sie für die südostasiatischen „Tiger“ in die Bresche springt.
dt. Margrethe Schmeer
* Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Ottawa.