12.12.1997

DER UNABHÄNGIGKEITSKRIEG 1947-1949 WIRD IN ISRAEL NEU BEWERTET

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DER UNABHÄNGIGKEITSKRIEG 1947-1949 WIRD IN ISRAEL NEU BEWERTET

■ Die schmerzhafte Revision eines Ursprunsmythos

VOR 25 Jahren, am 29. November 1947, beschloß die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Aber der Krieg von 1948 bis 1949 hat alles verändert: Israel vergrößerte sein Staatsgebiet um ein Drittel, der Rest der Totgeburt „Palästinensischer Staat“ wurde von Transjordanien und Ägypten erobert. Mehrere hunderttausend Palästinenser mußten fliehen – diese Flüchtlinge stehen im Zentrum der nicht enden wollenden Auseinandersetzungen. In den letzten zehn Jahren haben sich „neue Historiker“ in Israel mit dem Beginn der Tragödie befaßt und dabei auch einige Mythen widerlegt.

Von DOMINIQUE VIDAL

„Nur wenige gaben zu, daß die Geschichte der Rückkehr, Erlösung und Befreiung ihrer Väter auch eine Geschichte von Eroberung, Vertreibung, Unterdrückung und Tod ist.“

Yaron Ezrachi, „Rubber Bullets“

In der Zeit zwischen dem 29. November 1947, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Teilung Palästinas beschloß, und dem Waffenstillstand von 1949, der das Ende des ersten (durch die ägyptisch-jordanische Invasion vom 15. Mai 1948 ausgelösten) israelisch-arabischen Krieges markierte, verließen mehrere hunderttausend Palästinenser ihre Heimat.1 Ihre Häuser und Wohnungen befanden sich auf dem Territorium, das Israel okkupierte.

Aus der Sicht palästinensischer und arabischer Historiker handelt es sich um eine Vertreibung. Die große Mehrheit der (auf 700000 bis 900000 Personen geschätzten) Flüchtlinge seien, so sagen sie, im Verlauf der israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen und später im israelisch-arabischen Krieg vertrieben worden. Der Vertreibung habe ein politisch-militärischer Plan zugrunde gelegen, dessen Umsetzung auch von zahlreichen Massakern begleitet war. Diese These wurde bereits 1961 namentlich von Walid Khalidi in seinem Aufsatz „Plan Dalet: Master Plan for the Conquest of Palestine“2 vertreten und in jüngerer Zeit von Elias Sanbar in seinem Buch „Palestine 1948. L'expulsion“3 aufgegriffen.

Die traditionelle israelische Geschichtsschreibung hingegen behauptet, die Flüchtlinge (maximal 500000) seien in der Mehrheit freiwillig geflohen, vor allem auch auf Veranlassung ihrer politischen Führung, die ihnen eine schnelle Rückkehr nach dem Sieg in Aussicht stellte. Eine planmäßige Vertreibung durch die Jewish Agency und die spätere israelische Regierung wird heftig bestritten; die Verantwortung für die Übergriffe, die es bedauerlicherweise gegeben habe – allen voran das Massaker von Deir Jassin am 9. April 1948 – wird Mitgliedern extremistischer Gruppen wie Menachem Begins Irgun und Jitzhak Schamirs Lechi angelastet. Seit den fünfziger Jahren wurde diese Version allerdings von einzelnen Persönlichkeiten aus dem Umfeld der kommunistischen Bewegung und der zionistischen Linken (insbesondere der Mapam-Partei) angezweifelt. Nun hat sich seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre eine Gruppe von israelischen Wissenschaftlern (die „neuen Historiker“) dieser Kritik angeschlossen, darunter Simha Flapan, Tom Segev, Avi Shlaim, Ilan Pappé und nicht zuletzt Benny Morris, der mit seinem Buch „The Birth of the Palestinian Refugee Problem“ den Skandal losgetreten hat.4 Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte, Methoden und Ansichten ist es das gemeinsame Interesse dieser Historiker, die Mythen der israelischen Geschichtsschreibung5 und insbesondere des ersten israelisch-arabischen Krieges zu demontieren und – zumindest in Teilen – die Wahrheit über die Massenflucht der Palästinenser ans Licht zu bringen. Damit haben sie den Zorn der orthodoxen Historiker auf sich gezogen, die alles versuchen, um die Arbeit der neuen Historiker zu diskreditieren.6

Die Forschungen wurden vor allem durch zwei Faktoren gefördert: Zum einen durch die Öffnung der öffentlichen und privaten israelischen Archive über den fraglichen Zeitraum. Aus ihnen beziehen die Forscher den Großteil ihrer Informationen – was zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche ausmacht. Denn die zugegebenermaßen schwerer zugänglichen Archive der arabischen Staaten lassen sie ebenso weitgehend unberücksichtigt wie das mündlich überlieferte Wissen der palästinensischen Bevölkerung, das mittlerweile von anderen Forschern ausgewertet wird. Wie der palästinensische Historiker Nur Masalha zu Recht schreibt, sollte die Geschichte und Geschichtsschreibung nicht den Siegern überlassen werden.7 Zum anderen hätte das Durchforsten israelischer Archive kaum so fruchtbare Resultate erbracht, wäre nicht in Israel selbst in den zehn Jahren seit Öffnung der Archive – infolge der Invasion im Libanon 1982 und des Ausbruchs der Intifada 1987 – die Spaltung zwischen dem nationalistischen und dem Friedenslager schärfer hervorgetreten. Die Ursprünge des Palästinenserproblems werden also zu einem Zeitpunkt neu aufgearbeitet, da das Problem selbst wieder aktuell geworden ist.

In einem kürzlich in der Revue d'études palestiniennes erschienenen Artikel8 betont Ilan Pappé, einer der Pioniere dieser neuen Geschichtsschreibung, die Bedeutung des in dieser Phase eingeleiteten israelisch-palästinensischen Dialogs. Für diesen „wesentlich unter der Leitung von Akademikern“ geführten Dialog trifft er die erstaunliche Feststellung: „Erst diesem Dialog ist es zu verdanken, daß die meisten israelischen Forscher, die sich mit der Geschichte ihres Landes befassen, ohne einer der radikalen politischen Gruppierungen nahezustehen, die Geschichtsversion ihrer palästinensischen Kollegen kennengelernt haben. Sie wurden sich des grundlegenden Widerspruchs zwischen den nationalen zionistischen Zielen und ihrer Umsetzung auf dem Rücken der einheimischen Bevölkerung Palästinas bewußt.“

Wobei zu ergänzen ist, daß Geschichtsmanipulation zu politischen Zwecken natürlich nicht nur eine israelische Spezialität, sondern generell ein Merkmal des Nationalismus ist. Immer wieder jedoch wurden solche Geschichtsfälschungen von jüngeren Generationen auf verschiedene Weise entlarvt. Im Vorgehen der neuen Historiker und der Resonanz, auf die sie in der israelischen Gesellschaft stoßen, drückt sich wie so oft eine zunehmend laizistische Einstellung zur eigenen Geschichte aus.

Der Goliath, der keiner war

WELCHE Schlußfolgerungen ziehen die neuen Historiker aus ihren Archivstudien? In der Frage des Kräfteverhältnisses zwischen Juden und Arabern in den Jahren 1947 und 1948 widersprechen sie der gängigen Darstellung, die mit dem Bild „David gegen Goliath“ arbeitet: eine schwache, schlecht bewaffnete jüdische Gemeinschaft in Palästina, von der Vernichtung bedroht durch eine geeinte, waffenstrotzende arabische Welt. Sie betonen im Gegenteil die deutlichen Vorteile, die der im Entstehen begriffene jüdische Staat gegenüber seinen Feinden hatte.

Sie verweisen besonders auf den Zerfall der palästinensischen Gesellschaft, die Spaltung der arabischen Welt, die zahlenmäßige Unterlegenheit der arabischen Armeen, ihre schlechte Ausbildung und Bewaffnung. Hinzu kommt der strategische Vorteil, den Israel aus dem Abkommen mit Emir Abdallah von Transjordanien ziehen konnte: Dieser verpflichtete sich, Israel im Austausch für das Westjordanland in dem von der UNO zugesprochenen Gebiet nicht anzugreifen. Außerdem befürworteten die Briten den territorialen Kompromiß, den auch die USA und die Sowjetunion unterstützten. Zudem darf man nicht den Einfluß der öffentlichen Weltmeinung vergessen, die den Israelis damals sehr gewogen war. All dies erklärt unter anderem den vielfach überwältigenden Erfolg der jüdischen Offensiven im Frühjahr 1948 gegen die palästinensischen Kräfte wie auch, seit dem 15. Mai, gegen die in Palästina einmarschierenden arabischen Truppen.

Durch die Forschungen fällt aber auch ein neues Licht auf die Umstände, die zur palästinensischen Massenflucht führten. Diese erfolgte in zwei etwa gleich großen Wellen vor und nach dem Wendepunkt, der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel am 14. Mai 1948 und der Intervention der Armeen der arabischen Nachbarstaaten am 15. Mai. Daß Tausende wohlhabende Palästinenser – insbesondere aus Haifa und Jaffa – in den Wochen nach Annahme des UNO-Teilungsplans freiwillig das Land verließen, ist unbestritten. Doch wie sieht es danach aus?

Eine umfassende Antwort bietet Benny Morris auf den ersten Seiten seines Buches „The Birth of the Palestinian Refugee Problem“: Anhand einer Karte, auf der die 369 arabischen Städte und Dörfer in Israel (in den Grenzen von 1949) eingezeichnet sind, versucht er, für jede einzelne Ortschaft die Gründe aufzuführen, die zur Flucht führten.9 In 45 Fällen gibt er zu, diese nicht zu kennen. Weitere 228 Ortschaften wurden im Zuge des Angriffs durch jüdische Truppen verlassen, wobei es sich in 41 Fällen um direkte Vertreibungsaktionen der Armee handelte. In weiteren 90 Ortschaften flohen die Palästinenser infolge der Panik, die sich nach dem Fall eines benachbarten Dorfes ausgebreitet hatte, aus Angst vor einem feindlichen Angriff oder aufgrund der Gerüchte, die von der israelischen Armee gestreut wurden – und die sich insbesondere nach der Nachricht über das Massaker an 250 Einwohnern des Dorfes Deir Jassin am 9. April 1948 wie ein Lauffeuer im ganzen Land ausbreiteten.

Dagegen registriert Morris nur sechs Fälle, in denen die Palästinenser ihre Häuser nach Aufforderung durch örtliche arabische Behörden verließen. Er schreibt: „Es läßt sich nicht beweisen, daß die arabischen Staaten oder das palästinensische Arab Higher Committee die Massenflucht gewünscht oder eine allgemeine Weisung beziehungsweise Aufforderung herausgegeben hätten, um die Palästinenser zum Verlassen ihrer Häuser zu bewegen (nur in gewissen Zonen erteilten arabische Befehlshaber oder das Arab Higher Committee, überwiegend aus strategischen Gründen, einen Räumungsbefehl).“ („The Birth ...“ S. 129) Den Flüchtenden drohten sogar schwere Strafen. Was die vielzitierten Fluchtaufrufe betrifft, die angeblich über arabische Sender verbreitet wurden, beweist das Abhören der aufgezeichneten Programme, daß es sich um propagandistische Erfindungen handelt.

In „1948 and After“ geht Benny Morris detailliert auf ein Dokument aus der Anfangsphase der Fluchtbewegung ein, das er im wesentlichen als glaubwürdig beurteilt: ein vom Geheimdienst der israelischen Armee am 30. Juni 1948 verfaßter Bericht mit dem Titel „Die Emigration der palästinensischen Araber im Zeitraum vom 1. 12. 1947 bis zum 1. 6. 1948“. Darin wird die Zahl der Palästinenser, die das Gebiet, das sich zu diesem Zeitpunkt in israelischen Händen befand, bereits verlassen hatten, auf 391000 geschätzt. Und die verschiedenen Faktoren, die zur Flucht geführt haben, werden von den Experten wie folgt gewichtet: „Die Flucht ist zu mindestens 55 Prozent auf unsere Operationen zurückzuführen.“ Zu diesen Operationen rechnen sie auch diejenigen von abtrünnigen Gruppen wie Irgun und Lechi, die in 15 Prozent der Fälle direkt für die Emigration verantwortlich sind. Weitere 2 Prozent führt der Bericht auf ausdrückliche Räumungsbefehle jüdischer Soldaten und 1 Prozent auf psychologische Kriegführung zurück. Alles in allem werden damit Israelis in 73 Prozent der Fälle direkt für die Flucht verantwortlich gemacht. Darüber hinaus spricht der Bericht bei 22 Prozent der Fälle von der unter den Palästinensern verbreiteten Angst beziehungsweise einer Vertrauenskrise. Aufforderungen zur Flucht seitens der Araber werden nur in 5 Prozent der Fälle als Ursache aufgeführt.

Morris faßt zusammen, der Bericht untergrabe das traditionelle israelische Erklärungsmuster, wonach die Massenflucht auf Weisung und Aufforderung der arabischen Führung erfolgt sei. Dies um so mehr, als in dem aufgefundenen Text „betont wird, daß der Exodus den politisch- strategischen Interessen des Arab Higher Committee und der arabischen Nachbarstaaten zuwiderlief“. Der Bericht „bestätigt jedoch auch nicht die traditionelle arabische Erklärung für die Massenflucht, die von einer vorsätzlichen, zentralisierten und systematischen jüdischen Kampagne ausgeht, die auf die vollständige Vertreibung der einheimischen palästinensischen Bevölkerung gezielt habe“. Die zweite Phase, für die Morris von 300000 bis 400000 geflüchteten Palästinensern ausgeht, ist für den Autor allerdings „eine andere Geschichte“.

Kennzeichnend für diese neue Etappe ist die Vertreibung der Araber aus Lydda (dem heutigen Lod) und Ramleh am 12. Juli 1948, die im Rahmen der Operation Dani erfolgte: Ein Scharmützel mit jordanischen Panzern diente als Vorwand für ein blutiges Einschreiten, bei dem 250 Menschen, darunter entwaffnete Gefangene, getötet wurden. In der Folge kam es zur zwangsweisen Evakuierung der palästinensischen Zivilbevölkerung, von der 70000 Personen – rund ein Zehntel der gesamten Flüchtlinge zwischen 1947 und 1949 – betroffen waren, begleitet von Plünderungen und zahlreichen standrechtlichen Exekutionen. Ähnliche Vorfälle gab es, wie Morris zeigt, im Zentrum und im Norden von Galiläa sowie im Norden des Negev – nicht zu vergessen die Vertreibung der Palästinenser aus Al Majdal (Aschkelon) noch nach Beendigung des Krieges. Alle Operationen mit Ausnahme der letzten waren von Grausamkeiten begleitet, die den Landwirtschaftsminister Aharon Zisling in der Kabinettssitzung vom 17. November 1948 zu den Worten bewogen: „Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Was hier vor sich geht, verletzt mich, meine Familie und uns alle in unserer Seele (...). Nun verhalten sich auch die Juden wie Nazis, und das bringt meine ganze Existenz ins Wanken.“10

Rückkehr der Flüchtlinge unerwünscht

IM sechsten Kapitel von „1948 and After“ kommt Benny Morris noch einmal ausführlich auf einen anderen bezeichnenden Aspekt der Vertreibungen zu sprechen. Wie er belegt, wurden Anfang Mai 1948 die jüdischen Bauern angewiesen, die Felder der geflüchteten Palästinenser zu übernehmen. Seit Juni sollten israelische Soldaten auf Palästinenser schießen, die versuchten, zur Ernte auf ihre Felder zurückzukehren. Schlimmer noch: sofern die Israelis nicht in der Lage wären, die Felder abzuernten, sollte die Ernte vernichtet werden. Morris folgert: „Das Abernten der arabischen Felder im Frühsommer 1948 ist eine bedeutsame Etappe im Prozeß der Ent- und Aneignung verlassener arabisch-palästinensischer Böden durch die Juden.“

In dieser Phase lief die Politik der israelischen Regierung darauf hinaus, eine Rückkehr der Flüchtlinge zu verhindern – „um jeden Preis“, wie sich David Ben Gurion ausdrückte –, obwohl die Resolution der Generalversammlung der UN vom 11. Dezember 1949 die Rückkehr verlangte. Die palästinensischen Dörfer wurden zerstört oder mit jüdischen Immigranten besiedelt, die Böden unter den umliegenden Kibbuzim aufgeteilt. Das Gesetz über verlassenen Grundbesitz legalisierte seit Dezember diese allgemeinen Konfiskationen. Über 400 arabische Ortschaften und die meisten arabischen Viertel in den gemischten Städten wurden so von der Landkarte gelöscht oder judaisiert. Wie aus einer Bilanz aus dem Jahr 1952 hervorgeht, beschlagnahmte Israel insgesamt 73000 Wohnungen, deren Besitzer geflüchtet waren, 7800 Geschäftslokale, Werkstätten und Lagerräume sowie fünf Millionen auf Bankkonten liegende palästinensische Pfund und vor allem 300000 Hektar Land.11

Im vierten Kapitel schildert Morris ausführlich die Rolle des damaligen Direktors der Abteilung für Bodenfragen des Jüdischen Nationalfonds, Josef Weitz. Am 20. Dezember 1940 schrieb Weitz, ein überzeugter Zionist, in sein Tagebuch: „Eines muß klar sein: In diesem Land ist kein Platz für zwei Völker (...), die einzige Lösung ist ein Land Israel, oder zumindest ein Land Israel im Westen ohne Araber. In diesem Punkt kann es keinen Kompromiß geben! (...) Es gibt keine andere Lösung, als die hiesigen Araber in die Nachbarländer zu transferieren. (...) Nicht ein Dorf, nicht ein (Beduinen-)Stamm darf übrig bleiben.“ Sieben Jahre später sollte Josef Weitz die Gelegenheit erhalten, dieses radikale Programm zu verwirklichen. Von Januar 1948 an koordinierte er an verschiedenen Stellen die Vertreibung der Palästinenser. Im April erreichte er die Einrichtung einer Institution, „die den Krieg mit dem Ziel dirigierte, so viele Araber wie möglich zu vertreiben“. Das zuerst informell und Ende August 1948 formell gegründete Transfer-Komitee überwachte die Zerstörung der verlassenen arabischen Dörfer oder ihre Wiederbesiedlung durch neu ankommende jüdische Immigranten, womit eine Rückkehr der Flüchtlinge verhindert werden sollte. Im Juli übertrug man dem Komitee eine weitere Aufgabe: die Errichtung neuer jüdischer Siedlungen an den Grenzen.

Den Kampf mit dem Ziel, den exilierten Palästinensern eine Rückkehr auf jeden Fall zu verwehren, führte Israel auch auf diplomatischer Ebene. Wie Henry Laurens12 feststellt, „hat die Öffnung und Auswertung der Archive die Berichtigung verschiedener Einschätzungen erlaubt. Entgegen einem allgemein verbreiteten Klischee waren die arabischen Verantwortlichen durchaus kompromißbereit.“ Nach dem Krieg versuchten sie, wie Ilan Pappé im Detail belegt13 , auf der Konferenz von Lausanne eine Regelung durchzubringen, die von arabischer Seite eine Anerkennung des UNO-Teilungsplans vorsah, sofern Israel im Gegenzug in die Rückkehr der Flüchtlinge einwilligen würde. Trotz internationalen Drucks, allen voran seitens der USA, scheiterte dieser Versuch an der Unbeugsamkeit der israelischen Führung, insbesondere nachdem der jüdische Staat in die Vereinten Nationen aufgenommen worden war.

Trotz seines umfangreichen eigenen Beweismaterials beharrt Morris in seinem ersten Buch noch auf der These: „Das palästinensische Flüchtlingsproblem entsprang dem Krieg und nicht einer – jüdischen oder arabischen – Absicht.“ („The Birth ...“, S. 286) Diese Aussage schwächt er selbst allerdings in seinem zweiten Buch schon ab, wo er einräumt, der palästinensische Exodus erkläre sich „aus einem mehrstufigen Prozeß, aus miteinander verzahnten Ursachen und aus einem wesentlichen Beschleunigungsfaktor – sozusagen einem Gnadenstoß: dem Angriff von Hagana, Irgun und israelischen Verteidigungskräften auf jede einzelne Ortschaft“. („1948 and After“, S. 32) Aber immer noch lehnt er jeden Gedanken an einen jüdischen Vertreibungsplan ab und entlastet den damaligen Vorsitzenden der Jewish Agency, ersten Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister des israelischen Staates, David Ben Gurion.

Wie Norman G. Finkelstein in einer so brillanten wie polemischen Textanalyse14 zeigt, gerät Morris mit dieser doppelten Leugnung offenbar vor allem mit sich selbst in Widerspruch. Laut Morris bestand die „Essenz“ des im Januar 1948 entwickelten und seit März umgesetzten Plans mit der Bezeichnung Dalet (hebräisch für den Buchstaben D) darin, „alle feindlichen und potentiell feindlichen Kräfte aus dem voraussichtlichen jüdischen Staatsgebiet zu entfernen, eine territoriale Verbindung zwischen den wichtigsten Orten mit hoher jüdischer Bevölkerungskonzentration zu schaffen und die künftigen Grenzen des jüdischen Staates vor und gegenüber einer erwarteten arabischen Invasion zu sichern“. („The Birth ...“, S. 62) Und er räumt ein, Plan D sei zwar keine Blankovollmacht für die Ausweisung der Zivilbevölkerung gewesen, habe aber „den Front-, Bezirks-, Brigade- und Bataillonskommandanten eine ideologische und strategische Grundlage für die Vertreibung“ geliefert, die ihnen erlaubte, ihre Handlungen im nachhinein zu decken und zu rechtfertigen (S. 63). Morris schreibt einerseits, der Plan D sei kein „politischer Plan zur Vertreibung der palästinensischen Araber“ gewesen, aber nur zwei Seiten weiter meint er, seit Anfang April habe es „klare Anzeichen für eine Vertreibungspolitik auf nationaler wie lokaler Ebene“ gegeben. (S. 62 und S. 64.)

„Was machen die noch hier?“

DERSELBE Widerspruch zeigt sich hinsichtlich der Verantwortung David Ben Gurions. Benny Morris weist unmißverständlich darauf hin, daß der Premierminister als Urheber des Dalet-Plans anzusehen ist. Er war es auch, der im Juli 1948 die Operationen in Lydda und Ramleh befahl. „Vertreibt sie!“ antwortete er Jigal Allon und Jitzhak Rabin – eine Stelle, die in Ben Gurions Memoiren gestrichen wurde, wie dreißig Jahre später die New York Times enthüllte.15 Über diesen Befehl gab es keine Beratung in der israelischen Regierung, wie Morris betont. Tatsächlich hatte die Mapam als Partnerin der regierenden Mapai kurz zuvor eine offizielle Weisung des Ministerpräsidenten durchgesetzt, die den Militärs Vertreibungsmaßnahmen ausdrücklich verbot. Bald darauf spottete Ben Gurion über die Heuchelei dieser zionistisch-marxistischen Partei, die Handlungen anprangere, an denen auch ihre eigenen Aktivisten – sei es als Palmach-Soldaten oder als Kibbuzniks – beteiligt waren, und erinnerte in diesem Zusammenhang an die Bewohner des Kibbuz Mischmar Haemek, die sich angesichts „einer grausamen Realität“, für den einzigen Ausweg entschieden, nämlich „die arabischen Dorfbewohner zu vertreiben und ihre Dörfer niederzubrennen.“ („The Birth ...“, S. 116)

General Chaim Laskov hatte in Nazareth die offizielle Weisung wörtlich genommen, und als er bei einem Besuch in der Stadt feststellte, daß die arabische Bevölkerung noch da war, rief er erzürnt: „Was machen die noch hier?“16 Ebenfalls im Juli inspirierte Ben Gurion, diesmal in Haifa, heimlich die Operation zur Umsiedlung der 3500 in der Stadt verbliebenen Araber und die teilweise Zerstörung ihrer ehemaligen Wohnviertel. Auch der Befehl, die Felder der palästinensischen Bauern abzuernten, dürfte von ihm gekommen sein. Er war es auch, der Josef Weitz mit der Leitung des Transfer-Komitees betraute und dessen Tätigkeit deckte.

Die Macht lag während dieser Zeit in den Händen Ben Gurions, wie auch Benny Morris unterstreicht. Alle Entscheidungen sowohl auf militärischer wie auf ziviler Ebene wurden in seiner Anwesenheit getroffen. Die Regierung wurde meist gar nicht einbezogen, geschweige denn die an ihr beteiligten Parteien. Angesichts dessen beweist die Tatsache, daß sich in den Archiven kein formeller Regierungs- oder Parlamentsbeschluß findet, der zur Vertreibung der Palästinenser aufruft, herzlich wenig: „Ben Gurion hat immer darauf verzichtet, klare oder schriftlich formulierte Vertreibungsbefehle zu erlassen“, räumt Morris selbst ein. „Seine Generäle sollten von selbst ,verstehen‘, was er erwartete. Er wollte es vermeiden, als großer Vertreiber in die Geschichte einzugehen.“ („The Birth ...“, S. 292f.)

Dennoch läßt die Geschichte keinen Zweifel daran, daß der Gründer des israelischen Staates unter Einsatz seiner eindrucksvollen Machtfülle darauf hinwirkte, das dem jüdischen Staat von der UN zugedachte Gebiet zu maximieren und seine arabische Bevölkerung auf ein Minimum zu reduzieren. Morris hat in einer wichtigen Studie17 selbst darauf hingewiesen, daß David Ben Gurion seit langem hinter den Transfer-Plänen stand. Im Vorwort von „1948 and After“ heißt es: „Bereits seit 1937 befürwortet Ben Gurion (wie die meisten führenden Zionisten) eine ,Transfer‘-Lösung für das ,Araberproblem‘ (...). Dann kam das Jahr 1948 mit den kriegsbedingten Wirren und Fluchtbewegungen, und schon nutzte Ben Gurion die Gelegenheit, den entstehenden jüdischen Staat zu ,judaisieren‘.“ (S. 33) An anderer Stelle schreibt Morris: „Im Lauf des Krieges verstärkte sich die Tendenz der örtlichen Militärbefehlshaber, die Palästinenser zur Flucht ,anzustoßen‘. Erheblichen Einfluß auf die Flucht der Palästinenser hatten die von Juden begangenen Grausamkeiten, die wesentlich weiter verbreitet waren, als es in den alten Darstellungen zugegeben wird. (So gab es außer Deir Jassin, Lydda und anderen Orten noch weitere Massaker an der arabischen Bevölkerung in Ad Dawajima, Eilabun, Jisch, Safsaf, Madj al Kurum, Hule (im Libanon), Saliha und Sasa).“ (S. 22)

Ilan Pappé, der an der Universität Haifa lehrt, widmet diesen Arbeiten ein ganzes Kapitel seines Buches „The Making of the Arab-Israeli Conflict, 1947-1951“. In seinen Schlußfolgerungen distanziert er sich von Morris' vorsichtigen Bemerkungen und schreibt: „Der Plan D ist in vielerlei Hinsicht als Vertreibungsstrategie zu werten. Dieser Plan kam nicht spontan zustande. Die Vertreibung wurde als eine der zahlreichen Vergeltungsmaßnahmen angesehen, um arabische Angriffe auf jüdische Konvois und Siedlungen zu vergelten. Nichtsdestoweniger galt sie auch als eines der besten Mittel, die jüdische Vorherrschaft in den von der israelischen Armee eroberten Gebieten sicherzustellen. („The Making ...“, S. 98)

Der Wortlaut des Plans D läßt in Wirklichkeit kaum Zweifel an den Absichten Ben Gurions und seiner Freunde aufkommen. Er entwirft „Operationen gegen feindliche Bevölkerungszentren, die sich innerhalb unseres Verteidigungssystems oder in dessen Nähe befinden, um zu verhindern, daß sie aktiven Armee-Einheiten als Basis dienen könnten. Diese Operationen können wie folgt durchgeführt werden: entweder indem Dörfer zerstört werden (durch Niederbrennen, Sprengen oder das Legen von Minen in den Ruinen), insbesondere bei schwer kontrollierbaren Bevölkerungszentren; oder mit Durchsuchungs- und Kontrollaktionen nach folgenden Richtlinien: Einkreisen und Durchkämmen des Dorfes. Im Fall von Widerstand ist die bewaffnete Einheit zu vernichten und die Bevölkerung über die Staatsgrenzen hinweg zu vertreiben.“ („The Making ...“, S. 92)

Herauszustreichen ist, welchen Mut die „neuen“ israelischen Historiker bei aller Begrenztheit ihrer Vorstöße gezeigt haben. Denn ihr Bemühen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, betrifft keine x-beliebige Episode der Geschichte, sondern die israelische Erbsünde schlechthin. Soll das Recht der Überlebenden des Hitlerschen Völkermordes, in einem sicheren Staat zu leben, das Recht der Töchter und der Söhne Palästinas ausschließen, ebenfalls in Frieden in ihrem Staat zu leben? Fünfzig Jahre danach ist es Zeit, endlich mit dieser kriegerischen Logik zu brechen und den Völkern ein Leben im Miteinander zu ermöglichen, ohne weiter schamhaft zu verschweigen, wie die Ursprünge der Tragödie ausgesehen haben.

dt. Birgit Althaler

Fußnoten: 1 Diesem Artikel liegt ein Beitrag zugrunde, der im Verlauf des Kolloquiums über die Geschichte des heutigen Palästina am 13. Juni 1997 am Institut du Monde Arabe in Paris gehalten wurde. Er wird in erweiterter Fassung im Frühjahr 1998 im Verlag Editions de l'Atelier als Buch erscheinen. 2 In Middle East Forum, November 1961, neu aufgelegt und kommentiert im Journal of Palestine Studies, Beirut, Bd. XVIII, Nr. 69, 1988. 3 Elias Sanbar, in „Palestine 1948. L'expulsion“, erschienen in der Buchreihe der Revue détudes palestiniennes, Paris 1984. 4 Die wichtigsten Bücher sind: Simha Flapan, „The Birth of Israel, Myth and Realities“, New York (Pantheon Books) 1987; Tom Segev, „1949. The First Israelis“, New York und London (Free Press Macmillan) 1986; Avi Shlaim, „Collusion Across the Jordan: King Abdallah, the Zionist Movement and the Partition of Palestine“, Oxford (Clarendon Press) 1988; Ilan Pappé, „Britain and the Arab-Israeli Conflict, 1948-1951“, New York (Macmillan) 1988, und „The Making of the Arab-Israeli Conflict, 1947-1951“, London (I. B. Tauris) 1992; Benny Morris, „The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947-1949“, Cambridge University Press 1987, und „1948 and After, Israel and the Palestinians“, Oxford (Clarendon Press) 1990. 5 Die Neubewertung beschränkt sich nicht nur auf den ersten israelisch-arabischen Krieg. Hinterfragt werden auch die Haltung der zionistischen Führung gegenüber dem Völkermord (insbesondere Tom Segevs „Die siebte Million“, ins Deutsche übersetzt von Jürgen Peter Krause und Maja Ueberle-Pfaff, Hamburg, Rowohlt 1995) und der Charakter der jüdischen Besiedlung während des britischen Palästinamandats. Daneben hat Benny Morris seine Archivstudien auf die Frage der expansionistischen Politik Israels in den fünfziger Jahren ausgedehnt („Israels Border Wars: Arab Infiltration, Israeli Retaliation and the Countdown to the Suez War“, Oxford (Clarendon Press) 1993. Eine ähnliche Neuorientierung findet auch in anderen Fächern statt, insbesondere in der Soziologie, wo vor allem die Frage der Stellung der orientalischen Juden in der israelischen Gesellschaft von den Anfängen bis zum heutigen Tag behandelt wird. 6 Vgl. insbesondere Shabtei Teveth, „The Palestinian Refugee Problem and its Origins“, Middle Eastern Studies, Bd. 26, Nr. 2, 1990, und Efraim Karsh, „Fabricating Israeli History. The New Historians“, London (Frank Cass) 1997. 7 Nur Masalha, „1948 and After revisited“, Journal of Palestine Studies Nr. 96, Bd. XXIV, Nr. 4, Sommer 1995. 8 Ilan Pappé, „La critique post-sioniste en Israäl“ Revue détudes palestiniennes Nr. 12, Sommer 1997. 9 „The Birth ...“, a. a. O., S. XIV-XVIII. Ein genauer Vergleich zwischen den Aussagen im Buch selbst und der Auflistung, die für jedes Dorf den wichtigsten Fluchtgrund angibt, zeigt im übrigen – erstaunlicherweise – eine klare Unterbewertung der eigentlichen Vertreibungen in der Aufstellung. 10 Tom Segev, a. a. O., S. 26. (In der deutschen Ausgabe ist das Zitat vom 27. Juni 1948 datiert und lautet vollständig (S. 400): „Ich war nicht immer einverstanden, wenn der Begriff ,Nazis‘ auf die Briten angewendet wurde. Ich möchte diesen Ausdruck nicht auf sie anwenden, selbst wenn sie wie Nazis handelten. Doch auch Juden haben wie Nazis gehandelt, und ich bin äußerst schockiert darüber.“ B. A.) 11 Zitiert nach Simha Flapan, a. a. O., S. 107. 12 Henry Laurens, „Travaux récents sur l'histoire du premier conflit israélo-arabe“, Maghreb-Machrek, Paris, Nr. 132, April-Juni 1991. 13 „The Making ...“, a. a. O., Kapitel 8 bis 10. Vgl. auch Jean-Yves Ollier, „1949: la conférence de Lausannne ou les limites du refus arabe“, Revue détudes palestiniennes, Nr. 35, Frühjahr 1990. 14 Norman G. Finkelstein, „Image and Reality of the Israel-Palestine conflict“, London und New York (Verso) 1995, Kapitel 3. 15 The New York Times, New York, 23. Oktober 1979. 16 Berichtet von Michael Bar-Zohan, dem Biographen David Ben Gurions, wiedergegeben in der israelischen Tageszeitung Hadaschot, Tel Aviv, 19. Oktober 1986. 17 Benny Morris, „Remarques sur l'historiographie sioniste de l'idée d'un transfert de populations en Palestine dans les années 1937-1944“, in „Les nouveaux enjeux de l'historiographie israélienne“, hg. von Florence Heymann, Lettre d'information du Centre de recherche français de Jérusalem, Nr. 12, Dezember 1995. Über die Widersprüche in der Mapam, vgl. das erste Kapitel von Morris' „1948 and After“.

Le Monde diplomatique vom 12.12.1997, von DOMINIQUE VIDAL