12.12.1997

Neue Bruchlinien im Nahen Osten

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Neue Bruchlinien im Nahen Osten

1991, nach dem Ende des Golfkriegs, hatten die USA eine „neue Ordnung“ für den Nahen Osten in Aussicht gestellt. Dieses Versprechen blieb gleichwohl Illusion: Im ägyptischen Luxor werden Touristen Opfer von Anschlägen, die Spannungen im Südlibanon haben nicht abgenommen, in Kurdistan wird permanent gekämpft, der Friedensprozeß zwischen Israel und den Palästinensern ist blockiert, und der Konflikt im Irak kann jederzeit umschlagen. Die Frustration, die heute in der Region herrscht, geht vor allem auf die Haltung des Weißen Hauses zurück, die in ihrer Politik nach zweierlei Maß verfährt. Einerseits setzt die US-Regierung ihre Blockadepolitik gegen den Irak fort, andererseits weigert sie sich, Druck auf Israel auszuüben. Und dies, obwohl die Regierung Netanjahu sowohl gegen die Osloer Verträge als auch gegen diverse UN-Resolutionen verstößt. Der Einfluß der USA im Nahen Osten ist geschwächt: Die regionalen Bruchlinien treten stärker hervor, und die einzelnen Staaten sehen sich nach neuen Bündnispartnern um. Neben der militärischen Zusammenarbeit zwischen Israel und der Türkei zeichnet sich nun eine arabische Koalition zwischen Syrien, Saudi-Arabien und Ägypten ab.

Von unserem Korrespondenten ALAIN GRESH

NOCH immer ist der israelische Diplomat fassungslos. Dabei kennt er sich aus in der Türkei: Er hat viele Jahre dort gelebt, und er trifft seit über zehn Jahren mit Vertretern der türkischen Regierung zusammen. Aber was er von seinem Gesprächspartner, dem Unterstaatssekretär im türkischen Außenministerium, Onur Oymen, gerade zu hören bekommt, widerspricht jeglichen diplomatischen Gepflogenheiten: „Wie könnt ihr Verhandlungen mit Syrien führen? Seid ihr denn verrückt geworden? Ihr müßt das sofort stoppen, das ist die offizielle Position meiner Regierung.“

Die Szene spielte Anfang 1996 in Jerusalem; erst wenige Wochen zuvor war Jitzhak Rabin ermordet worden, und der neue israelische Premier, Schimon Peres, hatte sich zunächst abwartend gezeigt. In den Verhandlungen mit Damaskus hatten sich vielversprechende Ansätze ergeben; nun stellte sich ihm die Frage, ob er den Prozeß beschleunigen sollte, um noch vor den israelischen Parlamentswahlen im Oktober desselben Jahres zu Vereinbarungen zu kommen, oder ob er diese Perspektive aufgeben und den Wahltermin vorziehen sollte. Die Entscheidung fiel, wie man weiß, zugunsten der zweiten Lösung mit all ihren katastrophalen Folgen: In den Wahlen vom Mai 1996 siegte Netanjahu, und seitdem unterliegt der Friedensprozeß einer chronischen Auszehrung.

Haben die türkischen Bedenken gegen ein israelisch-arabisches Abkommen dabei eine Rolle gespielt? Vielleicht. Doch in jedem Fall machen sie deutlich, daß es heutzutage im Nahen Osten nicht nur um die Beendigung des Konflikts zwischen Israel und den arabischen Staaten geht (und um die palästinensische Tragödie, die im Mittelpunkt dieses Konfliktes steht), sondern um eine umfassende Neudefinition der Ordnung in der gesamten Nahostregion.

Das türkisch-israelische Verhältnis berührt also eine ganze Reihe von Fragen: Was wird aus der Allianz zwischen Damaskus und Teheran? Wie soll die Zukunft des Irak und Kurdistans aussehen? Welchen Platz kann die Türkei einnehmen, welche Mächte werden künftig eine bestimmende Rolle in der Region spielen? Wird es gelingen, das Wettrüsten im Bereich der konventionellen wie der nichtkonventionellen Waffen zu beenden?

Die alten Feindschaften zwischen den Verbündeten der USA und den ehemaligen Verbündeten der erloschenen Sowjetunion gelten nicht mehr, statt dessen treten neue Bruchlinien zutage: Die Konflikte entstehen heute zwischen den Verbündeten der USA. Die neue Liga von Syrien, Ägypten und Saudi-Arabien könnte schon bald zur Bedrohung für die türkisch-israelische Achse werden.

Mosche Arens ist im Lager der israelischen Rechten eine höchst angesehene Figur. Der ehemalige Verteidigungsminister und Außenminister in der Regierung Schamir war in den achtziger Jahren ein Förderer von Benjamin Netanjahu, ist aber inzwischen zu seinem ehemaligen Schützling auf Distanz gegangen. Dennoch kann man von ihm erfahren, welche Vorstellungen die Politik der heutigen Regierung in Tel Aviv leiten: „Der Nahe Osten wird noch einige Jahrzehnte eine instabile Region bleiben. Ein Abkommen mit Syrien hat eben nicht den gleichen Stellenwert wie, sagen wir, ein Vertrag mit Norwegen. Unsere Beziehungen zum Iran waren ausgezeichnet, als der Schah regierte, brachen dann aber von einem Tag auf den anderen ab. In dieser Weltgegend entscheidet sich die Zukunft der konkurrierenden Mächte nicht an der Wahlurne, sondern auf dem Schlachtfeld.“

Mosche Arens verteidigt die Entscheidung der israelischen Rechten, den Golan nicht zurückzugeben, auch nicht im Rahmen eines Friedensvertrages: „Diese Abtretung könnte uns sehr teuer zu stehen kommen. Im Oktober 1973 wurden die Golanhöhen von den syrischen Truppen fast vollständig zurückerobert. Sie hätten ihren Vorstoß bis Haifa fortsetzen können, wenn unsere Reserven nicht im letzten Augenblick eingegriffen hätten. Und was wäre geschehen, wenn wir den Golan nicht als Schutzschild gehabt hätten?“

Mosche Arens sieht den Nahen Osten heute als Schauplatz des Kräftemessens zwischen Regionalmächten, wie sie Europa im 19. Jahrhundert kannte. Folglich muß Israel vor allem seine Trümpfe ausspielen: die enorme militärische Überlegenheit, die Sicherheitsregelungen, die entmilitarisierten Zonen und so weiter. Es geht um einen „Frieden, der sich auf Stärke gründet“, so hat es Benjamin Netanjahu formuliert.1

Gemeinsam gegen den Iran

NACH Ansicht von Mosche Arens hat das 1995 unter Jitzhak Rabin ausgehandelte militärische Bündnis zwischen Israel und der Türkei „die Kräfteverhältnisse in der Region verändert“. Im Februar und im August 1996 wurden zwei Vertragstexte unterzeichnet, die auch einige geheime Bestimmungen enthielten. Zweck des Abkommens war vor allem die Durchführung gemeinsamer Manöver der See- und Luftstreitkräfte, die Benutzung von Häfen und für die israelische Luftwaffe die Möglichkeit, Übungsflüge über ganz Anatolien durchzuführen. Die dabei gewonnenen Erfahrungen, insbesondere was das Fliegen über gebirgigen Regionen angeht, könnten bei einem Militärschlag gegen den Iran von Nutzen sein, von dem in Israel immer häufiger die Rede ist.2

Im Kampf gegen den Terrorismus ist die seit langem bestehende Kooperation noch enger geworden. Ankara kann nun bei der Sicherung seiner Grenzen auf die „Erfahrung“ zurückgreifen, die Israel vor allem in der „Sicherheitszone“ im Südlibanon gesammelt hat; die USA helfen beim Aufbau eines Überwachungssystems, das den Einsatz von hochempfindlichen Sensoren, von Kameras und Satelliten einschließt. Auch hochrangige Offiziere tauschen häufiger Besuche aus; im Oktober 1997 wurde der israelische Generalstabschef General Amnon Lipkin Schahak in Ankara herzlich empfangen.

Anders als man in der arabischen Welt und vor allem in Damaskus glaubt, ist die Initiative zu dieser Verbindung nicht von Israel, sondern von der türkischen Generalität ausgegangen, die seit langem die Außen- und Sicherheitspolitik des Landes bestimmt: In der Türkei ist der Verteidigungsminister dem Chef des Generalstabs untergeordnet. Regelmäßig treffen im Außenministerium Diplomaten und Generäle zusammen, um in allen heiklen Bereichen (Irak, Zypern, Griechenland usw.) die politischen Schritte abzustimmen. Die kurze Phase (von Juni 1996 bis Juni 1997), in der Necmettin Erbakan und seine islamistische Partei Refah die Regierung anführten, hat den allgegenwärtigen Einfluß der Militärs noch deutlicher werden lassen: Sie waren es, die Druck auf die Abgeordneten ausübten, um ihren fundamentalistischen Gegner zu Fall zu bringen. In Ankara, wo im November 1997 auf Verlangen des Generalstabs ein Verfahren mit dem Ziel des Verbots der Refah eröffnet wurde, spricht man ironisch vom „ersten postmodernen Staatsstreich in der Geschichte“.

Die Hinwendung der Türkei zu Israel erklärt sich aus dem Ende des Kalten Krieges. Jahrzehntelang hatte die türkische Armee in vorderster Front gestanden, unmittelbar konfrontiert mit der sowjetischen Bedrohung, und so lange waren erhebliche Hilfsgelder aus den Vereinigten Staaten und der Nato gesichert. Diese Sonderrolle endete von einem Tag auf den anderen; hinzu kam, daß die Europäische Union deutliche Vorbehalte gegenüber den dringenden Beitrittsersuchen aus Ankara erkennen ließ. Ein israelischer Diplomat meint dazu: „Für Europa ist heute Tschechien wichtiger als die Türkei.“ Und in den USA verbünden sich die armenische und die griechische Lobby mit den Menschenrechtsorganisationen, um den Verkauf von Waffen an die Türkei zu unterbinden.

Angesichts der drohenden Marginalisierung des Landes versuchte der Generalstab also, eine neue Rolle für die Türkei im Rahmen der westlichen Strategie zu definieren. Die besten Möglichkeiten, ihre Wichtigkeit unter Beweis zu stellen, boten sich der Armee natürlich im Nahen Osten und am Golf, in einer Region, die für die Vereinigten Staaten von entscheidender Bedeutung ist. „Indem sie den islamischen Fundamentalismus zum inneren Feind erklärte, hat sich die Armee ihre Rolle in der antiiranischen Strategie gesichert“, erklärt ein türkischer Journalist. „Und durch das Bündnis mit Israel verschafft sie sich erheblichen Rückhalt in den USA und im amerikanischen Kongreß.“ Inzwischen tritt die proisraelische Lobby im Kongreß für die Belange Ankaras ein.

Überdies erlaubt die Annäherung an Israel dem türkischen Militär, sich mit dem Segen des Pentagon die Waffen und die Technologie zu verschaffen, die wegen des Konflikts mit Griechenland und der Menschenrechtssituation aus den Vereinigten Staaten und Europa nicht mehr so leicht zu bekommen sein dürften. Unter diesem Aspekt bieten die ersten Verträge mit Israel bereits bemerkenswerte Aussichten.

In Ankara wie in Tel Aviv betont man immer wieder, daß die Annäherung zwischen den beiden Ländern nicht gegen „Drittländer“ gerichtet sei. Aber die geopolitische Realität, die mit solchen Phrasen verschleiert werden soll, sieht anders aus. Man muß nur einen Blick auf die Landkarte werfen: Uri Or, General der Reserve und ehemals stellvertretender Verteidigungsminister unter der Regierung Peres, kommt zu dem Schluß, daß „die Türkei zwar niemals auf unserer Seite in einen Krieg eingegriffen hat, aber für Israel ist es ein Vorteil, daß Syrien auch mit einem Gegner an seinen nördlichen Grenzen rechnen muß“. Und er fügt hinzu: „Syrien wird die Türkei niemals angreifen, den umgekehrten Fall kann man jedoch nicht ausschließen. Die Türkei hat schon häufig Militäroperationen außerhalb ihrer Staatsgrenzen durchgeführt, vor allem im Norden des Irak.“

Es gibt verschiedene Gründe für die ausgeprägt feindselige Haltung der Türkei gegenüber Syrien: historische Rivalitäten, die Frage der Aufteilung des Euphrat- Wassers und vor allem die Unterstützung des baathistischen Regimes für die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die seit über fünfzehn Jahren in Südostanatolien ihren bewaffneten Kampf führt. Der türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz hält die PKK für „eine der gefährlichsten Terroristenorganisationen der Welt; sie verfügt über 3000 bis 4000 Kämpfer. Aber unter den Kurden in der Türkei genießt sie keine Sympathien mehr, und ihre Kampfkraft ist geschwächt. Ohne Unterstützung aus den Nachbarländern könnte sie ihre Aktivitäten nicht fortsetzen.“

Gemeint ist hier vor allem der „Nachbar“ Syrien. Daß die Verantwortlichen in Ankara die syrische Unterstützung für die PKK zum Prüfstein der bilateralen Beziehungen machten, ergab sich erst im Laufe des Jahres 1995. Man zeigte sich sehr beunruhigt, als die kurdische Organisation versuchte, in der Provinz Hatay Fuß zu fassen – die Annexion des früheren Sandschak Alexandretta durch die Türkei im Jahre 1939 ist von Syrien niemals anerkannt worden.3

Anfang 1996 brach die Türkei alle offiziellen Kontakte zu Syrien ab, nachdem man zuvor offiziell die Auslieferung des PKK-Führers Abdullah Öçalan gefordert hatte. Öçalan wird seit Oktober 1997 vor dem Staatssicherheitsgerichtshof in Ankara in Abwesenheit der Prozeß gemacht. Im Frühjahr 1996 gab es in Syrien eine Reihe von Anschlägen auf Einrichtungen, die angeblich von der PKK betrieben wurden; am 31. Dezember des Jahres starben acht Menschen bei einem Bombenanschlag auf einen Linienbus, der zwischen Damaskus und Aleppo verkehrte. Das syrische Regime sieht den türkischen Geheimdienst als Urheber, und obwohl sich die Situation wieder etwas entspannt hat, ist das Verhältnis zwischen den beiden Ländern miserabel.

In Damaskus weist man die türkischen Vorwürfe nachdrücklich zurück. „Wir gewähren der PKK keinen Unterschlupf“, erklärt Außenminister Faruk al-Scharaa, der dieses Amt seit 1984 innehat. „Die Kurdenfrage ist in erster Linie ein innenpolitisches Problem der Türkei. Militärisch ist es nicht zu lösen, der Irak hat es ja versucht, aber ohne Erfolg.“ Für al-Scharaa ist klar, daß die Beziehungen zwischen den beiden Ländern „auf Betreiben außenstehender Kreise“, mit anderen Worten der israelischen Regierung, auf Eis gelegt sind. Tatsächlich scheint die türkisch-israelische Allianz deutlicher gegen Syrien gerichtet, seit in Tel Aviv die Rechte an der Macht ist. Das kam auch in einer bemerkenswerten symbolischen Geste des türkischen Verteidigungsministers zum Ausdruck.

Bei einem offiziellen Besuch in Israel besuchte Turhan Tayan nämlich im Mai 1997 die Golanhöhen und fand sich dort sogar bereit, in einer jüdischen Siedlung Wein aus lokalem Anbau zu verkosten. Im türkischen Verteidigungsministerium hieß es dazu, dieser Besuch sei „im Rahmen der bilateralen Beziehungen erfolgt. Er hat keine weitere Bedeutung.“ Offenbar hat man vergessen, daß der Golan besetztes Gebiet ist.

Worüber man offiziell nicht sprechen will, ist das politische Tauschgeschäft, zu dem dieser Besuch gehörte: Bislang war Israel nicht bereit gewesen, die Aktivitäten der kurdischen Gruppen öffentlich zu verurteilen, man lag mit ihnen ja nicht im Streit.4 Doch wenige Tage vor dem Ausflug von Minister Tayan auf den Golan sprach sich Benjamin Netanjahu im türkischen Fernsehen gegen den Plan eines kurdischen Staates aus und verurteilte erstmals die PKK: „Die Türkei ist Opfer der terroristischen Angriffe der PKK, und wir sehen keinen Unterschied zwischen dem Terror der PKK und dem Terror, unter dem Israel leidet.“

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Am 2. Juni 1997 erklärte Halil Atas, Mitglied des Zentralkomitees der PKK, auf einer Pressekonferenz in Beirut: „Wir planen, türkische, amerikanische und israelische Einrichtungen anzugreifen, aber die Zivilbevölkerung soll nicht getroffen werden (...). Unsere Ziele werden vor allem Touristenzentren in der Türkei sein.“ 1996 haben 350000 israelische Touristen das Land besucht.

In Ankara wie in Damaskus sind die Führungszirkel offenbar außerstande, zu begreifen, welche Probleme im „Nachbarland“ im Vordergrund stehen. Man tut die Befürchtungen der anderen Seite einfach als Lügen oder Böswilligkeiten ab und bleibt befangen in Vorstellungen, die bestimmt sind durch eine lange Reihe von Katastrophen, die nach dem Ersten Weltkrieg begann: Die Türkei sieht sich als Land, dem damals zahlreiche Gebiete entrissen wurden und das nur durch den Aufstand unter Mustafa Kemal gerettet wurde. Die Syrer wiederum beklagen, daß sie damals bereits Palästina und den Libanon einbüßten, bevor sie auch noch den Sandschak von Alexandretta an die Türkei verloren. Heute finden sich beide Länder umgeben von Gefahren und zahllosen Feinden: Die Türkei hat nicht nur zu Syrien ein gespanntes Verhältnis, sondern auch zum Iran, Armenien und Griechenland, ganz zu schweigen von Zypern. Syrien lebt im Kriegszustand mit Israel, und seine Beziehungen nicht nur zur Türkei, sondern auch zu Jordanien sind auf dem Tiefpunkt. Auch das Verhältnis zwischen Präsident Hafis al-Assad und Saddam Hussein ist miserabel.

Angesichts der regionalen Umstände und unter dem Druck der geschichtlichen Hypotheken tendieren die Führer in Damaskus und Ankara dazu, jedes Ereignis, jede Entscheidung der Gegenseite als Teil einer Verschwörung zu begreifen. Die Gemeinsamkeit, daß die politische Macht in beiden Ländern weltlich orientiert ist und sich gegen das Vordringen der Islamisten sperrt, kommt ihnen nicht in den Blick. Und in keiner der beiden Hauptstädte scheint man zu der Einsicht fähig, daß ihre Konflikte, vor allem der Streit um das Wasser, mit etwas Vernunft vielleicht lösbar wären.

Das Wasser als Druckmittel

IM Rahmen ihres Kampfes gegen den Separatismus hat die Türkei das Projekt Südostanatolien (GAP) begonnen, das die Umleitung des Euphrat einschließt. Der Fluß entspringt in der Türkei und fließt dann durch Syrien und den Irak. Seit 1990 der Atatürk-Stausee gefüllt wurde, haben diese beiden Länder weniger Wasser. Der Einsatz des Wassers als Machtmittel könnte beunruhigende Folgen haben: Bis zum Jahr 2010 sollen die GAP-Vorhaben verwirklicht sein, dann dürfte sich in Syrien die jährliche Durchflußmenge, die derzeit 30 Milliarden Kubikmeter beträgt, auf die Hälfte reduzieren, der Irak könnte sogar einen Rückgang um zwei Drittel erleben. Nach Meinung unabhängiger Experten wird sich außerdem die Qualität des Wassers verschlechtern, weil bei der Ausweitung der Landwirtschaft in Südostanatolien Pestizide und Düngemittel in großen Mengen zum Einsatz kommen werden.

Immerhin war 1987 in Ankara und Damaskus ein Vertragsprotokoll unterzeichnet worden, das Syrien eine Durchflußmenge von 500 Kubikmetern pro Sekunde zusicherte; diese Vereinbarung soll nach dem Willen des baathistischen Regimes nunmehr zu einem rechtlich einwandfreien Vertrag werden, in dem man aber auch einen größeren Anteil am Euphratwasser festschreiben will. Daß es darüber immer wieder zu Streitigkeiten kommen konnte, lag an der Rechtsunsicherheit in diesen Fragen: Im internationalen Recht bestehen unterschiedliche Auffassungen über die Nutzung des Wassers von Flüssen, die mehrere Länder durchfließen.

Inzwischen ist allerdings eine ganz neue Situation entstanden: Am 21. Mai 1997 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Entschließung verabschiedet (Convention on the law of non-navigational use of international watercourses), die de facto den Nutzern am Unterlauf eines Flusses – im Fall des Euphrat also Syrien und Irak – weitergehende Rechte einräumt als denen am Oberlauf und letztere verpflichtet, den flußabwärts gelegenen Staaten keinen Schaden zuzufügen. Die Frage ist nun, ob die Türkei diesen Beschluß einfach zurückweisen kann; sie würde damit die deutliche internationale Isolation verstärken, in die sie durch das Kurdenproblem und die Zypernfrage bereits geraten ist.

Trotz all dieser Streitfragen bleibt man in Damaskus zurückhaltend. An der 820 Kilometer langen Grenze zur Türkei herrscht Ruhe, auf syrischer Seite ist der Staat nur mit einigen weit auseinanderliegenden Polizeiposten präsent. Für Präsident Hafis al-Assad geht die größte Bedrohung nach wie vor von Israel aus, und sie ist gewachsen, seit der Wahlsieg von Benjamin Netanjahu den Friedenshoffnungen ein Ende gemacht hat.

„Der Friedensprozeß? Es gibt ihn, auf dem Papier, aber er befindet sich in einer schweren Krise.“ Ist er nicht schon begraben? „Man könnte sagen, daß er kurz vor dem Scheitern steht, daß er im Koma liegt, oder auch daß er auf Eis gelegt ist.“ Außenminister Faruk al-Scharaa, will noch keine Leichenrede auf den Friedensprozeß halten, er glaubt sogar, daß „noch eine kleine Chance besteht, ihn zu retten“.

Daß US-Außenministerin Madeleine Albright im September 1997, während ihrer ersten Nahostreise, auch in Damaskus Station machte, zeigt an, daß für die USA das mancherorts schon abgeschriebene Syrien noch immer eine Rolle spielt. Mitte November hat die amerikanische Regierung, trotz israelischer Proteste, Syrien und den Libanon von der Liste der Länder gestrichen, die Drogen produzieren oder den Drogenhandel zulassen.

Wenngleich man in Damaskus betont, man werde langfristig an der Friedenspolitik entschieden festhalten, gibt es zwischen Damaskus und Tel Aviv eine grundsätzliche Meinungsdifferenz, seit die Regierung Netanjahu im Amt ist. Es geht um die Frage, ob völlig neue Verhandlungen aufgenommen werden sollen (wie es die israelische Seite fordert), oder ob man (wie es die Syrer wünschen) von dem Stand ausgehen soll, der bei der Aussetzung der Gespräche im Februar 1996 erreicht war.

David Bar-Ilan, früherer Chefredakteur der Jerusalem Post und heute einer der Berater von Benjamin Netanjahu, ist der Ansicht, daß man „uns nicht auf Dokumente verpflichten kann, die nicht unterzeichnet wurden. Wir sind bereit, die Verhandlungen mit Syrien wiederaufzunehmen, ohne Vorbedingungen, auf der Grundlage der Vereinbarungen von Madrid. Wir können sogar eine Formel der Art akzeptieren, daß wir die Ergebnisse früherer Verhandlungen berücksichtigen.“ Für Außenminister al-Scharaa sind diese Zugeständnisse völlig unzureichend: „Indem die israelische Regierung die Verpflichtungen früherer Regierungen nicht anerkennt, verletzt sie nicht nur rechtliche Grundsätze. Sie stellt vor allem die Glaubwürdigkeit aller früheren Regierungen in Frage und damit auch die Zusicherungen, die sie selbst vielleicht noch geben wird.“

Es geht um zwei Fragen, in denen man bereits eine Übereinkunft erzielt hatte: Zum einen hatte Rabin die bedingte Zusage gegeben, daß sich die israelischen Truppen im Falle einer umfassenden Regelung auf die Waffenstillstandslinien vom 4. Juni 1967 zurückziehen würden5 , und zum anderen war von den USA ein Dokument über Sicherheitsvereinbarungen mit dem Titel „Aims and Principles of Security Arrangements“ eingebracht worden, dem beide Verhandlungsparteien am 22. Mai 1995 zugestimmt hatten. Walid al-Mualim, syrischer Botschafter in Washington, der die Verhandlungen für sein Land geleitet hatte, ist der Überzeugung, daß die beiden Delegationen soweit waren, noch vor dem Sommer 1996 einen Vertrag abzuschließen.6

„Im Februar 1996 hatten wir den Durchbruch erzielt“, meint auch Uri Savir. „Man spürte, daß nunmehr ein Abkommen erreichbar war.“ Savir gehörte zu den wichtigsten Delegationsführern, als die Oslo-Verträge mit den Palästinensern ausgehandelt wurden. Nach der Ermordung Rabins im November 1995 übernahm er die Zuständigkeit für die Gespräche mit Syrien. Er ist überzeugt, daß der Frieden greifbar nahe war – weshalb also kamen die Verhandlungen nicht zum Abschluß? „Uns gingen die Gespräche zu langsam voran, wir wollten sie beschleunigen. Im Unterschied zu Rabin hatte Peres eingewilligt, den Zeitraum der Umsetzung des Vertrages zu verkürzen.7 Wir hielten ein Gipfeltreffen zwischen Peres und Assad für sinnvoll, um zu einem raschen Vertragsabschluß zu kommen. Der syrische Präsident zeigte sich grundsätzlich einverstanden, wollte sich aber nicht auf einen Termin festlegen. Uns blieb nicht mehr viel Zeit bis zu den Wahlen im Oktober, und wir konnten einfach nicht unter Termindruck verhandeln oder gar kurz vor den Wahlen einen Vertrag schließen, ohne Zeit zu haben, ihn der Öffentlichkeit zu vermitteln.“

Über zwei wichtige Fragen hatten sich die beiden Delegationen noch nicht geeinigt: Sicherheit und Wasser. Israel verlangte den Rückzug der syrischen Streitkräfte in Stellungen weit hinter der Grenze (was bekanntlich Besorgnis bei der Türkei auslöste) und wollte eine Frühwarnstation auf dem Golan behalten. Man machte Syrien sogar das Angebot, seinerseits einen Außenposten in der israelischen Stadt Safed zu installieren. Völlig unannehmbar, meinte die syrische Delegation, die darin einen Angriff auf die nationale Souveränität erblickte. Die Überwachung durch Satelliten, vor allem durch amerikanische, biete Israel genug Sicherheit. Der zweite Streitpunkt war zweifellos viel komplizierter: Es ging um die Nutzung der Wasservorräte des Golan, die nach unterschiedlichen Schätzungen, die schwer zu überprüfen sind, etwa ein Drittel des israelischen Bedarfs decken.

Anfang 1996 machten die USA dazu einen originellen Vorschlag: Sollte man nicht die Türkei in die Verhandlungen einbeziehen, da doch das in Syrien verbrauchte Wasser überwiegend aus dem Norden komme? „Man schlägt uns vor, Syrien für das Wasser zu entschädigen, das auf dem Golan an Israel abgetreten wird“, entrüstete sich ein türkischer Diplomat. „Das ist völlig ausgeschlossen!“ Im Zusammenhang mit einem israelisch- syrischen Friedensvertrag träumte man wohl von einer Annäherung an die Türkei, die für Syrien den Verlust der Achse mit dem Iran hätte kompensieren können, die nach der Anerkennung des „zionistischen Feindes“ zweifellos zu Bruch gehen würde. Die erste Ablehnung durch die Türkei machte auf Washington keinen großen Eindruck; im März 1996 bereitete Dennis Ross, der Nahost-Sonderbeauftragte des US-Außenministeriums, seinen Besuch in Ankara vor.

Aber als sich Damaskus nicht zu einer Verurteilung der Welle von Anschlägen bereit fand, die im Februar und März 1996 ganz Israel erschütterten, brach Schimon Peres die Verhandlungen ab. Alle Hoffnungen auf einen Frieden mit Syrien wurden vertagt. In Israel kommt noch niemand auf den Gedanken, daß damit eine Chance vertan wurde, die sich vielleicht nie wieder bieten wird. Unter den israelischen Verantwortlichen beeilt man sich, die Schuld der anderen Seite zuzuschieben: Präsident Assad, heißt es, habe die historische Chance nicht genutzt, die Golanhöhen zurückzuerlangen.

Das sieht man in Damaskus ganz anders: „Jede israelische Regierung hat auf Zeit gespielt. Jitzhak Rabin wollte sich nicht mit Palästina und Syrien zugleich befassen, deshalb mußte er das Ende der Oslo-II-Verhandlungen abwarten [die Verträge wurden im September 1995 unterzeichnet]. Nach der Ermordung Rabins hatten wir uns auf einen Zeitplan geeinigt, der die Verhandlungen bis Juni 1996 zum Abschluß bringen sollte. Und dann hat Peres erst den Wahltermin vorverlegt und danach den einseitigen Abbruch der Gespräche verfügt.“ Peres und sein Kabinett sahen dagegen in der „Zähigkeit“ der syrischen Reaktionen ein Zeichen mangelnden Verhandlungswillens, ihnen fehlte das Verständnis für Hafis al-Assads Vorgehen. Wenn man bedenkt, daß es nicht nur um den Golan ging, sondern um die Rolle Syriens in einer künftigen Ordnung der Region, ist allerdings durchaus begreiflich, daß der syrische Präsident nicht im Eilverfahren zu einem Vertragsschluß kommen wollte.

Besonders häufig war von offizieller israelischer Seite der Vorwurf zu hören, Assad habe keine Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Israel genommen. „Wir haben ihm nahegelegt, sich an die israelische Öffentlichkeit zu wenden“, erklärt Itamar Rabinowitsch, der frühere israelische Botschafter in Washington, „aber er war dazu nicht bereit“. „Das ist nicht unsere Aufgabe“, meint man dazu in Syrien. „Die israelische Regierung möchte, daß wir ihr die Arbeit abnehmen. Aber wir haben genug zu tun mit unserer eigenen Öffentlichkeit.“ Man kann nicht leugnen, daß in dieser Hinsicht ernsthafte Bemühungen unternommen worden sind. Es ist längst nicht mehr so, daß in der syrischen Presse kein Unterschied zwischen dem Likud und der Arbeitspartei gemacht würde. Als im August 1997 eine Delegation von Vertretern der arabischen Minderheit in Israel nach Damaskus reiste, der unter anderem auch Abgeordnete der Arbeitspartei und des Meretz-Blocks angehörten (Organisationen also, die sich auf den Zionismus berufen), nahmen die syrischen Medien den Besuch zum Anlaß, die Komplexität der israelischen Gesellschaft zu verdeutlichen.

Wäre das baathistische Regime auch bereit, eine Delegation der jüdisch-israelischen Friedensbewegung einzuladen? „Wir haben noch keine Entscheidung getroffen, aber wir sind interessiert“, erklärt Mohammad K. al-Wadi, Chefredakteur der Tageszeitung Tischrin. Faruk al-Scharaa äußert sich vorsichtiger: „Erst wenn ein Friedensvertrag in Aussicht steht. Wir machen durchaus einen Unterschied zwischen den verschiedenen politischen Kräften, aber für uns bleibt Israel eine Besatzungsmacht.“

Als Vorbedingung für die Wiederaufnahme von Verhandlungen fordert Damaskus eine Bestätigung der israelischen Zusicherung, sich auf die Linien vom 4. Juni 1967 zurückzuziehen. „Was hätte es für einen Sinn, die Gespräche wiederaufzunehmen, solange die Regierung Netanjahu ständig betont, daß sie nicht bereit ist, den Golan zurückzugeben?“ Die syrische Führung hat den Besuch von Außenministerin Albright erfreut zur Kenntnis genommen, zeigt sich aber verärgert, daß Washington zögert, die israelische Regierung in dieser Frage unter Druck zu setzen. Im September 1996 hatte sogar Warren Christopher in einem Brief an Netanjahu die israelische Position bekräftigt und erklärt, ein „tentative agreement“ sei für Israel nicht bindend. Und die amerikanische Außenministerin hat jüngst in einem Interview geäußert, daß „Israels Positionen mit dem internationalen Recht vereinbar sind.“8

Faruk al-Scharaa meint, die USA könnten „wesentlich mehr tun, ohne daß wir von ihnen verlangen, ihr Bündnis mit Israel aufzugeben. Aber sie können nicht Israel Protektion gewähren und zugleich erwarten, daß die Araber sie weiterhin als Freunde betrachten. Im übrigen zeichnet es sich schon ab, daß das Netz der Beziehungen zwischen Amerika und dem Nahen Osten sich auflöst.“

Tatsächlich haben die USA innerhalb weniger Monate eine Reihe von eklatanten politischen Fehlschlägen hinnehmen müssen: Im Juni 1997 beschlossen die arabischen Staaten, das Embargo gegen Libyen zu lockern; die Versuche, den Friedensprozeß wieder in Gang zu bringen, sind gescheitert; die Mehrzahl der arabischen Staaten ist der arabisch-nordafrikanischen Wirtschaftskonferenz in Doha (vom 16. bis 18. November 1997) ferngeblieben; vor allem aber ist es Washington nicht gelungen, seine arabischen Verbündeten für eine Strafaktion gegen den Irak zu gewinnen.

Damaskus erweitert sein Bündnissystem

SYRIEN dagegen scheint durch eine Reihe diplomatischer Erfolge an politischem Spielraum gewonnen zu haben. Wichtigstes Ergebnis ist die Festigung der politischen Achse Damaskus-Riad-Kairo. Durch diesen Dreibund kann Syrien auf breite Unterstützung im arabischen Lager für seine politischen Positionen rechnen: Die Normalisierung der Beziehungen zu Israel wird abhängig gemacht von Fortschritten im Friedensprozeß, die Türkei wird aufgefordert, ihr Militärabkommen mit Israel auszusetzen.

Außerdem hat der Besuch von Hafis al- Assad in Teheran, am 31. Juli und 1. August 19979 , erneut deutlich gemacht, daß die Beziehungen zwischen Syrien und Iran stabil sind: Diese Allianz besteht seit 1979 und hat alle politischen Wechselfälle überstanden – eine bemerkenswerte Leistung in einer Region, in der neue Bündnisse geschlossen werden, sobald sich der Wind dreht. Syrien spielte eine Vermittlerrolle im Prozeß der Entspannung zwischen den Golfstaaten und dem Iran. Daß der Dialog zwischen Riad und Teheran wieder aufgenommen wurde und Saudi- Arabien im Dezember am Gipfeltreffen der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) in Teheran teilnahm, ist ein Zeichen für den Erfolg dieser Bemühungen. Zugleich wird damit deutlich, daß die von Washington und Tel Aviv gesteuerte Kampagne gegen die „Aufrüstung mit nichtkonventionellen Waffen“, die von der Islamischen Revolution betrieben werde, nicht allzu wirksam war.10 Damaskus ist überdies eine dezente Politik der Verständigung mit Bagdad gelungen (siehe Seite 6).

Soll man davon ausgehen, daß die syrische Führung, wie in Israel immer wieder zu lesen ist, auch militärische Optionen in Betracht zieht? Außenminister al-Scharaa widerspricht entschieden. „Wir haben nicht die Absicht, einen Krieg zu beginnen. Wenn ich die aufgeregten Artikel in der israelischen Presse lese, fällt mir nur eine Erklärung ein: Die Regierung Netanjahu bereitet die nationale und internationale Öffentlichkeit auf ein militärisches Abenteuer vor.“ Der Stillstand der Verhandlungen in vielen Bereichen nährt natürlich alle möglichen Ängste und könnte am Ende zu einer unkontrollierbaren Eskalation führen. Das weiß man auch in Israel. Ein Militärexperte meint dazu: „Jeder Zwischenfall, jede Truppenbewegung des Gegners wird ganz anders bewertet, wenn man nicht mehr mit ihm verhandelt und statt dessen der Kontakt abgebrochen ist.“

Niemand bestreitet, daß das Kräfteverhältnis zwischen Syrien und Israel auf der Ebene der konventionellen Waffen heute günstiger denn je für Israel ausfällt. Dies spricht gegen eine „begrenzte Militäraktion Syriens auf dem Golan“, wie sie etwa im Oktober 1973 durchgeführt wurde; zugleich ist, aufgrund des Friedens mit Ägypten, ein Zweifrontenkrieg derzeit nicht zu erwarten. Andererseits hat Damaskus seine Raketen weiterentwickelt, die Anlagen zur Montage von Scud-Raketen ausgebaut und auch das nichtkonventionelle Arsenal, vor allem im Bereich der Chemiewaffen, ausgeweitet. Die Machthaber halten diese Abschreckung für unverzichtbar.

Einen gewissen militärischen Druck auf Israel kann Syrien auch weiterhin im Südlibanon ausüben. Der bewaffnete Widerstand, in den die Hisbollah inzwischen auch nichtschiitische Gruppen einbezieht, hat der Besatzungsmacht schwere Verluste zugefügt. Präsident Assad ist daher nach wie vor nicht bereit, über den Golan und den Libanon getrennt zu verhandeln. Walid al-Mualim, der syrische Botschafter in Washington, erinnert daran, daß sich beide Länder während der Friedensverhandlungen bereits geeinigt hatten, daß „zwei Verträge gleichzeitig unterzeichnet werden sollten: ein syrisch-israelischer und ein israelisch-libanesischer (...). Der Zeitplan für die Umsetzung der beiden Abkommen hätte einige Monate auseinander liegen können.“ Netanjahus Bemühungen, zuerst über einen Rückzug aus dem Libanon zu verhandeln, fanden wenig Interesse.

In Israel wird inzwischen über den einseitigen Rückzug aus der „Sicherheitszone“ diskutiert. Die Regierung lehnt dies bislang ab, weil es wie eine vollständige Niederlage der Besatzungstruppen erscheinen würde. Aber gäbe es nach dem Rückzug überhaupt Garantien für die Sicherheit Galiläas? „Von einem Norden Israels wissen wir nichts, für uns handelt es sich um den Norden des besetzten Palästina. Die Existenz des israelischen Nordens werden wir niemals anerkennen.“11 Diese ungewöhnliche Erklärung, die der Hisbollah-Führer Scheich Hassan Nasrallah kürzlich abgegeben hat, wurde in Tel Aviv als deutliches Signal aus Damaskus verstanden: Das baathistische Regime wäre auch mit einem einseitigen Abzug aus dem Libanon nicht zufrieden.

Die Aussichten auf einen arabisch-israelischen Frieden, wie ihn die USA verheißen hatten, sind sechs Jahre nach der Niederwerfung des Irak trübe. Am Himmel des Friedens sind bedrohliche Wolken aufgezogen: Die Zerschlagung des Irak ist vollzogen, in Kurdistan flammen die Kämpfe auf, die Aufrüstung mit Massenvernichtungswaffen nimmt zu. Desillusioniert bemerkte Uri Schahor, ein ehemaliger General und einer der Führer der Arbeitspartei, bei einem Treffen mit Jassir Arafat: „Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels. Höchstens das Licht des Zuges, der uns überrollen wird.“

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Vgl. die Rede, die Netanjahu am 14. August 1997 bei der Verleihung der Abschlußurkunden an die Kadetten der Nationalen Militärakademie gehalten hat (siehe die Web-Site des israelischen Außenministeriums; www.israel-mfa.gov.il/). 2 Vgl. u. a. Michael Eisenstadt, „Turkish-israeli military cooperation: An assessment“, Policywatch, Nr. 262, Washington (The Washington Institute for Near East Policy) Juni 1997. 3 Frankreich hatte diese Provinz 1939 an die Türkei abgetreten, in der Hoffnung, damit den freundlichen Beziehungen zwischen Ankara und dem nationalsozialistischen Deutschland entgegenwirken zu können. 4 In den siebziger Jahren hatte Israel sogar die nationale Bewegung der Kurden im Irak unterstützt. 5 In Israel war diese Formel sehr umstritten, weil die Waffenstillstandslinien vom 4. Juni 1967 nicht mit den internationalen Grenzen übereinstimmen, die nach dem Ersten Weltkrieg festgelegt worden waren. Einige Teile des Mandatsgebiets Palästina waren nach dem Krieg von 1948/1949 zu entmilitarisierten Zonen erklärt worden. Sollten sie jetzt ihren alten Status wiedererlangen? 6 Den Verlauf der Verhandlungen aus syrischer Sicht schildert der syrische Botschafter in den USA, Walid al-Mualim, in einem Interview mit dem Journal of Palestine Studies, Nr.2, Washington, Winter 1997. 7 Rabin hatte stets gefordert, daß sich im Falle eines israelisch-syrischen Friedensvertrags der israelische Rückzug vom Golan in Etappen vollziehen müsse, die sich über mehrere Jahre erstrecken, um immer wieder prüfen zu können, ob Syrien sich an die Vertragsbestimmungen hält. Angesichts der katastrophalen Erfahrungen mit dem Oslo-Abkommen weigerte sich die syrische Regierung, dieser Bedingung zuzustimmen, und forderte seinerseits die Umsetzung des Abkommens innerhalb eines Zeitraums von höchstens einem Jahr. 8 Interview mit Ha'aretz, abgedruckt in der International Herald Tribune, Tel Aviv, 24. Oktober 1997. 9 Es war der zweite Besuch seit der Islamischen Revolution, der erste fand im September 1990 statt, unmittelbar nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait. 10 Teheran wird vorgeworfen, ein verdecktes Programm der Aufrüstung mit atomaren und chemischen Waffen zu betreiben. Während die Einschätzungen in dieser Hinsicht stark auseinandergehen, gibt es keinen Zweifel, daß der Iran dabei ist, sich mit einem Arsenal von Mittelstreckenraketen zu versehen: Derzeit wird die Eigenentwicklung Schihab 3 getestet, die eine Reichweite von 1300 Kilometer besitzt; die Schihab 4, mit einer Reichweite von 2000 Kilometer befindet sich im frühen Entwicklungsstadium. 11 Der Spiegel, 20. Oktober 1997.

Le Monde diplomatique vom 12.12.1997, von ALAIN GRESH