Die fünfte Kolonne in Brüssel
STEHT irgendwo geschrieben, daß sich die Wirtschaftspolitik der EU notwendig darauf beschränkt, internationalen Wettbewerb, Deregulierung, Freihandel und Marktdominanz voranzutreiben? Daß Sozialpolitik und Umweltschutz vernachlässigt bzw. auf ein Mindestmaß beschränkt sein müssen? Nein, es steht nirgends geschrieben, sondern ist das Produkt einer gezielten Organisations- und Finanzierungspolitik durch Europas mächtigste transnationale Konzerne.
Das zeigen jetzt die Wissenschaftler vom Corporate Europe Observatory mit ihrer bemerkenswerten Studie über die Infiltration europäischer Institutionen.1 Die fünfundvierzig Generaldirektoren, die dem European Roundtable of Industrialists (ERT) angehören, beherrschen die gesamte europäische Politik.2
Der 1983 gegründeten Industriellenrunde wurde von Anfang an eine privilegierte Stellung eingeräumt; das hatte sie vor allem Etienne Davignon, dem damaligen EU-Kommissar des Industriesektors (der inzwischen als Chef der belgischen Société générale selbst dem ERT angehört) sowie dem ehemaligen französischen Minister François-Xavier Ortoli zu verdanken. Vor allem aber war es die EU-Präsidentschaft von Jacques Delors, unter der der ERT zu beherrschendem Einfluß gelangt ist. Ob es sich um die Einheitswährung, um das europäische Straßennetz oder um Wachstum und Beschäftigung handelt: Den Autoren der Studie „Europe Inc.“ zufolge tragen alle großen Richtungsentscheidungen der Kommission die Handschrift des ERT. Besonders aktiv begleitete der Runde Tisch die Verhandlungen über den Maastricht-Vertrag, wozu er „regelmäßige Treffen mit Mitgliedern der EU-Kommission wie den Herren Andriessen, MacSharry, Sir Leon Brittain und Präsident Delors veranstaltete“. Seit 1985 steht für ihn die Einheitswährung ganz oben auf dem Programm.
DIESE fruchtbare Zusammenarbeit setzt sich unter Kommissionspräsident Jacques Santer ungebrochen fort; von ihm wurde insbesondere eine Arbeitsgruppe zur Wettbewerbsfähigkeit (Competitiveness Advisory Group) ins Leben gerufen, in der der ERT eine zentrale Rolle spielt. Sechs von den zwanzig Mitgliedern der Arbeitsgruppe Telekommunikation gehören gleichzeitig dem ERT an, während Verbraucher, Gewerkschaften und mittelständische Unternehmen überhaupt nicht vertreten sind.
Auch auf nationaler Regierungsebene kommt die Lobbyarbeit nicht zu kurz. Die Mitglieder des ERT sind sich einig in ihrer Forderung nach Öffnung der Weltmärkte auf allen Gebieten, Investitionen eingeschlossen. Sie machen geschlossen Front gegen Umweltschutzverordnungen und Sozialklauseln, drängen auf vollständige Dereglementierung des industriellen Sektors sowie auf Erweiterung des Straßennetzes und verweigern sich allen Vorschlägen für eine Energie- oder CO2-Steuer.
Die Ritter dieser Tafelrunde repräsentieren zusammen einen Jahresumsatz von 550 Milliarden Ecu und weltweit drei Millionen Arbeitsplätze; ihr privilegiertes Verhältnis zur EU-Kommission erlaubt es ihnen, das Drehbuch zu schreiben, in dem alle anderen sozialen Kräfte lediglich Statisten sind. Und jene, die ihnen so eifrig Gehör schenken, müssen sich über ihre Wähler keine Gedanken machen, aus dem einfachen Grund, weil sie nicht gewählt werden. Sie öffnen ihre Türen denjenigen – und nur denjenigen –, denen sie Gehör schenken wollen.
Die Autoren von „Europe Inc.“ behandeln in ihrer Studie noch etliche andere Lobbyverbände (darunter einige, die unmittelbar aus dem ERT hervorgegangen sind), die die Interessen transnationaler Konzerne gegenüber den europäischen oder internationalen Institutionen vertreten. Die jungen, aus unterschiedlichen Ländern stammenden Autoren haben begriffen, welche Rolle den Intellektuellen und Sozialwissenschaftlern in diesen für die Demokratie gefährlichen Zeiten zufällt: die kritische Beschäftigung mit denen, die Macht und Reichtum besitzen, und die Weitergabe ihrer Forschungsergebnisse an jene, denen weder das eine noch das andere zu Gebote steht.
SUSAN GEORGE
Wissenschaftlerin, Schriftstellerin, stellvertretende Leiterin des Transnational Institute in Amsterdam