12.12.1997

Die Straßenverkehrskrankheit

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Die Straßenverkehrskrankheit

Der Streik der französischen Fernfahrer im November hat nicht nur die Irrtümer der Transportpolitik in Europa gezeigt, sondern darüber hinaus die falsche Perspektive der EU-Leitlinien ans Licht gebracht. Die von der Kommission angeregte Deregulierung ohne gleichzeitige Harmonisierung der arbeits- und steuerrechtlichen Vorschriften hat zu einem verschärften Wettbewerb geführt, der die Lastwagenfahrer zu Galeerensträflingen der Landstraße macht. Schon in den achtziger Jahren, als der Binnenmarkt auf dem Kontinent die Handelsbewegungen – und damit auch die Transportnachfrage – beschleunigte, setzten die Brüsseler Behörden bei den staatlichen Eisenbahngesellschaften den Rotstift an. Dabei bietet sich gerade hier eine wirtschaftliche und zugleich ökologische Alternative zur absoluten Priorität des Straßentransports. Die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Straßengüterverkehr und Schiene, Binnenschiffahrt und Seeverkehr wieder ins Lot bringen läßt, wird somit zu einem Problem der gesamten Gemeinschaft. Bei der Personenbeförderung dagegen liegt die Entscheidung nach wie vor bei den einzelnen Staaten und Gebietskörperschaften. Es ist an der Zeit, die Priorität des Individualverkehrs zu revidieren.

Von LAURENT CARROUÉ *

FRANZÖSISCHE Eisenbahner im Herbst 1995, französische und dänische Fernfahrer im November 1996, spanische Fernfahrer im Frühjahr 1997 und wiederum französische und italienische Fernfahrer im Herbst 1997: Die Kette dieser Arbeitskämpfe ist bezeichnend für die wachsende Bedeutung des Transportwesens in Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch für die archaischen Arbeitsbedingungen, mit denen sich die Lohnabhängigen dieses Sektors herumschlagen müssen, und für die miserablen Löhne, die man ihnen dafür bezahlt. Der Bedarf an Mobilität und Warenverkehr hat sich vervielfacht, und das Transportwesen ist, unter den Zwängen von Deregulierung und schneller Rentabilität, in den Strudel einer entfesselten Konkurrenz geraten.

In der Alten Welt vervielfachen sich die transportierten Warenströme und -mengen. Gründe dafür sind die Globalisierung des Handels, die Errichtung des Einheitsmarktes, die Internationalisierung des Produktionsapparats der Firmen, die unter Zeitdruck arbeiten, die sektorale und funktionale Spezialisierung der Räume und die Veränderung des Wohn-Arbeits- Verhältnisses. Zwischen 1983 und 1993 stieg der Warenaustausch innerhalb der EU um 82 Prozent und erreichte ein Volumen von 1333 Milliarden ECU1 ; die Warenströme in und aus Drittländern haben ebenfalls um 50 Prozent zugenommen.

Auch die Personenbeförderung hat eine entsprechende Zunahme erfahren, etwa in Frankreich (30 Prozent in der Zeit von 1984 bis 1995) oder in Deutschland, wo sich die tägliche und wöchentliche Mobilität zwischen 1960 und 1990 verdoppelt hat. Alle Prognosen deuten auf eine Fortsetzung dieser strukturellen Dynamik hin: Bis 2010 soll der Güterverkehr im derzeitigen Europa der Fünfzehn um 70 Prozent zunehmen. Noch alarmierender sind die Prognosen, die sich auf Deutschland beziehen: Zuwächse von 95 Prozent beim Straßenverkehr, 250 Prozent beim Schwerverkehr, 55 Prozent auf der Schiene, 84 Prozent bei der Binnenschiffahrt und 180 Prozent beim Transitverkehr.

Das Transportwesen wird für die Staaten, die Unternehmen (Auto- und Eisenbahnbau, Verkauf und Reparatur, Erdölkonzerne, Versicherungen, Baubranche einschließlich öffentliches Bauwesen, Logistik) und die Gebietskörperschaften zu einem beträchtlichen Wirtschafts- und Finanzfaktor. In Frankreich bringen 1997 die Binnensteuer auf Erdölprodukte (taxe intérieure sur les produits pétroliers; TIPP)2 und die Mehrwertsteuer auf Brennstoffe 181 Milliarden Franc ein. Das ist mehr, als die Körperschaftssteuer einbringt. 1995 gab Frankreich 16 Prozent seines Haushaltsvolumens, insgesamt 670 Milliarden Franc, für den Posten Verkehr aus, 25 Prozent mehr als 1980. In diesen fünfzehn Jahren wurde 1 Billion Franc für die Verkehrsinfrastruktur bereitgestellt, von denen 65 Prozent auf das Straßennetz und 17 Prozent auf die Eisenbahnen entfielen3 .

Alle getroffenen Entscheidungen gehen in Richtung einer vollständigen Deregulierung und eines unkontrollierten Wettbewerbs der Unternehmen und der verschiedenen Verkehrsträger. Diese Leitlinien, 1978 in den Vereinigten Staaten aufgestellt, wurden in Europa zuerst in Margaret Thatchers Großbritannien und dann auf dem Kontinent durchgesetzt – 1985 in Frankreich und 1993 in Deutschland. Vor allem die staatlichen Eisenbahngesellschaften wurden geschwächt, privatisiert und sogar zerstört: Strecken wurden stillgelegt, Stellen abgebaut und Dienstleistungen gestrichen; die Gesellschaften wurden in autonome Einheiten zerschlagen, die Verwaltungen der Infrastruktur, des Frachtbereichs und der Personenbeförderung getrennt und abgekoppelt. All dies sollte einer vollständigen Liberalisierung den Weg bereiten. Dafür steht auch die Absicht der Brüsseler Kommission, die Einrichtung eines Netzes von freeways durchzusetzen, das heißt von Verkehrsachsen, welche ausschließlich für den Frachtbereich bestimmt sind, dem Wettbewerb unterliegen und von einer supranationalen Behörde geregelt werden.

In Großbritannien wurde British Rail in mehr als 100 Firmen aufgeteilt. Gleise, Rollmaterial, Bahnhöfe, Wartungsdienste und Gastronomie wurden verkauft. Zwar gehörten der Firma Railtrack die Gleise, doch es wurden 25 verschiedene Nutzergesellschaften gegründet, was zu völliger Desorganisation des nationalen Systems führte und die Sicherheit des Schienenverkehrs erheblich beeinträchtigte. Der Eisenbahngüterverkehr im Inland ging zwischen 1983 und 1992 um ein Drittel, der internationale Verkehr um 67 Prozent zurück – zugunsten der Straße, auf die 90 beziehungsweise 97 Prozent aller Warenströme entfielen.

In Frankreich führte die ganz auf den Hochgeschwindigkeitszug TGV abgestimmte Strategie der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF (174 Milliarden Franc Investitionen zwischen 1988 und 1996) und die Weigerung des Staats, seiner Verantwortung als Aktionär nachzukommen, zu einer Überschuldung der Gesellschaft und einer drastischen Verschlechterung der Passagier- und Güterdienstleistungen auf den Provinz-, den Vororts- und den großen Querverbindungsstrecken. Die Zahl der Nutzer sank entsprechend weiter. Der Lenkungsausschuß zur Vorbereitung des Planvertrags zwischen SNCF und Staat für den Zeitraum 1995-2000 sah die Stillegung von 16000 Kilometer Strecke (20 Prozent des Netzes) und die Streichung von 33000 Stellen vor. Dieses Vorhaben scheiterte zum Glück an dem Streik vom Dezember 1995. Wollte die SNCF ausschließlich finanzbezogen argumentieren, dann müßten 15 große Inlandsstrecken stillgelegt werden, weil sie defizitär sind, darunter Lyon-Bordeaux, Nantes-Lyon, Paris- Amiens-Boulogne, Straßburg-Lyon, Nantes-Bordeaux und Paris-Toulouse. Der Anteil der SNCF am Gütertransport zu Lande ist zwischen 1984 und 1994 von 38 Prozent auf 27 Prozent gefallen.

Die aus der Verschmelzung der Deutschen Bundesbahn mit der Deutschen Reichsbahn hervorgegangene Deutsche Bahn AG (DB AG) strich zwischen 1992 und 1997 46 Prozent ihres Personals. Der Staat übernahm 1993 die Schulden in Höhe von 80 Milliarden Mark, und die Gesellschaft wurde langsam privatisiert: Die Eisenbahnbediensteten verloren ihren Beamtenstatus, und ihre Gehälter sanken. Die Folgen des Verlusts so zahlreicher Errungenschaften ließen nicht lange auf sich warten: In Deutschland sank der Anteil der Schiene am Güterverkehrsvolumen zwischen 1978 und 1993 von 24 Prozent auf 18 Prozent, obwohl dieses um 9 Prozent angewachsen war. Davon profitierte der Straßengüterverkehr mit einem Anstieg von 48 Prozent auf 63 Prozent, also einer Erhöhung des Volumens um 90 Prozent.

Priorität wird ganz offen dem Straßenverkehr eingeräumt – zum Nachteil aller anderen Verkehrsträger. In der EU ging der Anteil der Schiene am Güterverkehr zwischen 1970 und 1995 von 31,8 auf 14,8 Prozent zurück. Zwischen 1985 und 1995 nahm das Volumen der auf der Straße transportierten Güter um 40 Prozent zu, im Bereich der Schiene hingegen um 4 Prozent ab. Verglichen mit den anderen Verkehrsträgern und abgesehen von einigen unmittelbaren technischen Vorteilen ist der Straßenverkehr jedoch nur konkurrenzfähig durch zahlreiche Kunstgriffe, die die Preis- und Wettbewerbssysteme verfälschen. Anders als bei der Schiene werden den Straßengüterverkehrsunternehmen nicht die Infrastrukturkosten der Autobahnen, die sie benutzen, in Rechnung gestellt. Die durch die Konzentration auf den Lastwagenverkehr bedingten indirekten Mehrkosten, die in den Bereichen Wirtschaft, Medizin und Gesellschaft anfallen, werden an die nationalen, regionalen und lokalen Körperschaften weitergegeben. In Frankreich werden die Kosten, die aus den Auswirkungen des Lärms auf die Gesundheit resultieren, auf jährlich 20 Milliarden Franc, die der Luftverschmutzung auf 30 bis 40 Milliarden und die der Gefährdung im Straßenverkehr auf 60 Milliarden Franc geschätzt.4

Der Boom des Straßenverkehrs erklärt sich aus soziotechnischen Strukturen, die den großen Auftraggebern die Möglichkeit bieten, die direkten Kosten zu senken. Mit Ausnahme der Niederlande ist allgemein eine Zersplitterung des Sektors festzustellen, die auf zwei Komponenten beruht. Die erste ist eine Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen. So beschäftigen von 38000 französischen Unternehmen 85,5 Prozent weniger als 10 und 71 Prozent weniger als 5 Angestellte. In Deutschland haben 92 Prozent der 44000 Unternehmen weniger als 10 Beschäftigte. In Italien beschäftigen 91 Prozent der 145000 Betriebe durchschnittlich 1,4 Arbeitnehmer. In Spanien verfügen 96 Prozent der 534000 Unternehmen des Sektors über weniger als 5 Lastwagen. Zweites Charakteristikum: die Existenz brutal ausgebeuteter Scheinselbständiger, eines regelrechten Proletariats, das nur seinen Lastwagen und seine Arbeitskraft besitzt und der Illusion einer vorgeblich für alle erreichbaren Scheinfreiheit aufsitzt.

Die 1986 von der Regierung Chirac durchgeführte Deregulierung schlug sich in Frankreich in der Gründung von 8700 neuen Firmen ohne jede soziale Absicherung nieder. In Italien sind von den 400000 Erwerbstätigen des Sektors nur 50000 bis 60000 lohnabhängig, gewerkschaftlich gut organisiert und besser geschützt. In Großbritannien entfallen auf 500000 Fernfahrer 200000 Selbständige. In Frankreich arbeiten mehr als 25000 Selbständige ausschließlich als Zulieferer für die großen Transportfirmen, während 25 Firmengruppen sich etwa 50 Prozent des Markts teilen.

Der Straßenverkehr ist also der Bereich, in dem die Arbeitsbedingungen und das Einkommensniveau5 bei den Arbeitnehmern und in den kleinen und mittleren Betrieben am ungünstigsten sind. Verantwortlich dafür ist in erster Linie der außerordentliche Preisdruck, den die großen Industriekonzerne und die Auftraggeber im kommerziellen Bereich – die Spediteure – sowie die großen Logistik- und Transportfirmen ausüben. Die Deregulierung führt zu einem massiven Preisverfall – in Frankreich in den letzten zehn Jahren um 25 bis 30 Prozent, in Deutschland seit 1983 um bis zu 60 Prozent. Der Wettbewerb wird immer schärfer: Die Kosten des spanischen Straßengüterverkehrs liegen um 40 bis 50 Prozent unter den französischen Kosten, und im internationalen Verkehr liegen die spanischen Kosten um 20 Prozent unter dem Durchschnitt der ausländischen Transportunternehmen. In Spanien selbst schließlich sind die Lohnkosten sehr uneinheitlich, denn sie beruhen auf Tarifverträgen, die nicht landesweit, sondern auf regionaler Ebene ausgehandelt werden.

Diese aus Dumping und Preisdruck zusammengesetzte Logik ist verheerend – zum einen finanziell, denn sie führt zu Margen von oft weniger als 2 Prozent, zum andern wirtschaftlich, weil es zahlreiche Konkurse gibt (1400 in Deutschland im Zeitraum 1995-1996), und schließlich auch sozial, denn die französischen Gewerkschaften meinen, allein durch die Beachtung der vorgeschriebenen Arbeitszeitbegrenzung könnten 50000 Arbeitsplätze geschaffen werden. In Frankreich liegt der Durchschnitt in der Tat bei 54,6 Stunden pro Woche, davon 35 Stunden Lenkzeit; 34 Prozent der Fernfahrer arbeiten jedoch zwischen 48 und 60 Stunden pro Woche und 28,5 Prozent zwischen 60 und 70 Wochenstunden.

Auch der Personenverkehr verlagert sich immer mehr auf den Pkw-Sektor – zum Nachteil der öffentlichen Verkehrsmittel, vor allem in den Hauptstadtrandgebieten und den ländlichen Räumen. In der Europäischen Union hatte der Schienenverkehr 1995 nur noch einen Anteil von 7 Prozent an der Personenbeförderung. Der TGV, kommerzielles und technologisches Aushängeschild, der gerade 1 Prozent des gesamten Bahnpassagieraufkommens bewältigt, kann nicht über den allgemeinen Rückgang hinwegtäuschen. In Deutschland ist der öffentliche Personenverkehr von 32 Prozent aller zurückgelegten Strecken im Jahr 1960 auf 17 Prozent im Jahr 1990 gefallen, während der motorisierte Individualverkehr von 56 auf 78 Prozent anstieg. Während der allgemeine Reiseverkehr in Frankreich zwischen 1984 und 1995 um 30 Prozent anstieg, nahm der motorisierte Individualverkehr im gleichen Zeitraum um 37 Prozent zu, der öffentliche Personenverkehr hingegen um 7 Prozent ab.

Die explosionsartige Zunahme der Verkehrsströme in Verbindung mit den oben erwähnten Entscheidungen führt zu alarmierenden Ungleichgewichten und Funktionsstörungen. Die Bevorzugung des Straßenverkehrs wird von den Infrastrukturen her immer kostspieliger. Die Europäische Kommission schätzt, daß die Entwicklung des EU-Straßennetzes in zehn Jahren bis zu 300 Milliarden Mark in Anspruch nehmen wird. In Deutschland hat sich das Autobahnnetz zwischen 1970 und 1990 verdoppelt, während das Schienennetz geschrumpft ist. Der französische Rechnungshof schätzte 1992, daß die Baukosten für eine Autobahn 25 bis 30 Prozent höher liegen als die Kosten für den Bau einer Doppelgleisstrecke in beide Richtungen, doch das Autobahnnetz ist zwischen 1970 und 1994 um fast das Vierfache gewachsen. In den Verkehrsplanungen der Regierung Balladur waren für den Zeitraum 1994 bis 2003 insgesamt 140 Milliarden Franc zum Bau von weiteren insgesamt 2600 Kilometer Autobahn vorgesehen. Die Regierung Balladur hatte eine Autobahnplanung ausgearbeitet, in die zwischen 1994 und 2003 140 Milliarden Franc zum Bau weiterer 2600 Kilometer fließen sollten. Dieses Vorhaben wurde von der Regierung Jospin glücklicherweise zum Teil eingefroren oder abgeändert.

Das Anwachsen der Autobahninfrastrukturen wird immer wirkungsloser. Denn anstatt Abhilfe für die Probleme zu schaffen, wirken sie wie eine riesige Saugpumpe, mit deren Hilfe die neuen Einrichtungen rasch gesättigt werden, da auf andere Verkehrsträger verzichtet wird. Das Denken, das der Straße überragende Priorität einräumt, reiht sich tatsächlich in eine selektive räumliche Logik ein, die die Verbindungen zwischen den dichtesten und dynamischsten sozioökonomischen Räumen bevorzugt: In Frankreich finden 25 Prozent des gesamten Verkehrs auf weniger als 15000 Kilometer Straße statt. Die Autobahnen A1 (Lille-Paris) und A6 (zwischen Lyon und Beaune) werden täglich von mehr als 13000 Lastwagen befahren, in der Ile-de-France werden sie von 170000 Fahrzeugen pro Tag benutzt. Die europäischen Nord-Süd-Achsen (Alpenübergang, Rhonetal), auf denen das Verkehrsaufkommen alljährlich um 10 Prozent steigt, stehen kurz vor dem Infarkt. Frankreich wird daher gezwungen sein, entweder die Autobahn A6 auf der Rhonestrecke auf das Doppelte auszubauen oder einen Teil dieser Verkehrsströme nach Westen auf die Durchgangsstrecke durch das Zentralmassiv (A75) und über die Flußmündungen oder über die Alpen (A51, Grenoble-Sisteron) zu verlegen, während die Schweiz genau wie Österreich 1994 völlig zu Recht die Durchfahrt eines Teils des Transitschwerverkehrs durch ihr Staatsgebiet erst begrenzte und danach untersagte (siehe Kasten).

Natürlich wurden die Nebenkosten des wuchernden Straßenverkehrs bis heute absichtlich niedrig geschätzt. In den fünfzehn Ländern der EU fordern Verkehrsunfälle jedes Jahr 1,664 Millionen Opfer, darunter 46500 Todesopfer. Ebenso fatal ist der starke Anstieg des Schadstoffausstoßes. Zwar nahm in Frankreich die allgemeine Luftverschmutzung in fünfzehn Jahren um 29 Prozent ab, doch der Anteil des Verkehrs daran stieg von 63 Prozent des Gesamtausstoßes im Jahre 1980 auf 75 Prozent im Jahre 1994. Vor allem die Schwefeldioxidemissionen stiegen um 30 Prozent, der Stickoxidausstoß um 18,5 Prozent.6

Die Zunahme des Straßengüterverkehrs ist keineswegs vom Schicksal vorgegeben, sie kann gebremst und schließlich umgekehrt werden. Der Widerstand der Schweiz und Österreichs gegen die drohende Verwandlung ihrer Gebiete in Transitverkehrsachsen zeigt, welcher Weg eingeschlagen werden muß. Auch die Europäische Kommission unternimmt Schritte in diese Richtung. Angeregt von Verkehrskommissar Neil Kinnock verabschiedete sie 1996 ein Weißbuch mit dem ausgewiesenen Ziel einer „Revitalisierung der Eisenbahn in der Gemeinschaft“, die bis zum Jahr 2010 völlig zu verschwinden droht (5 Prozent des Gesamtverkehrs). Der Anteil der Schiene an den EU-Haushaltsmitteln im Bereich Transport stieg 1996 von 23 Prozent auf 60 Prozent. Ein Bruch mit der Vergangenheit wäre durchaus möglich, denn die erforderlichen Instrumente sind vorhanden. Er wäre darüber hinaus in zweifachem Sinn der Modernität verbunden.

Zunächst in sozialer Hinsicht: Für streitbare Arbeitgeber riecht, angesichts der fast feudalen sozioökonomischen Verhältnisse, schon die Achtung der Gesetze (Arbeitsrecht, Tarifverträge, Straßenverkehrsgesetzbuch) und der bereits unterzeichneten Verträge – in Frankreich der „Vertrag für den Fortschritt“, das Fiterman-Gesetz von 1993 und das Raffarin- Gesetz von 1996 gegen „anormal niedrige Preise“ – nach Subversion.

Einfach den Zug nehmen

ABER die Modernisierung der sozialen Verhältnisse führt auch über eine gerechte Bezahlung der lohnabhängigen oder selbständigen Arbeit.7 Nach dem Streik der französischen Fernfahrer vom November stehen die europäischen Regierungen und die Kommission mit dem Rücken zur Wand, denn der freie Verkehr und die völlige Öffnung des europäischen Marktes am 1. Juli 1998 verlangen Maßnahmen zur Regulierung, zur Kontrolle und auch zur Förderung eines authentischen europäischen Sozialmodells.

Was den technischen und ökologischen Aspekt der Modernität betrifft, so ist es durch die immer häufigere Verwendung von Containern möglich geworden, mehrere Verkehrsträger miteinander zu verbinden (siehe Kasten vorige Seite). Aufgrund der Abwicklung von mehr als 50 Prozent des Langstreckenverkehrs über den kombinierten multimodalen Verkehr – vor allem Straße-Schiene – ist Deutschland hier an führender Stelle (im Europa der Fünfzehn betrug die entsprechende Größe 1995 4 Prozent). Diese Politik stützte sich ebenso auf Anreize für die Straßenspediteure, die sich am kombinierten Verkehr beteiligen (Freistellung von der Vignette, Sonn- und Feiertagsfahrerlaubnis), wie auf Abschreckung in Form von Steuern von 1500 bis 2500 Mark für deutsche und ausländische Lastwagen, die Autobahnen befahren. Diese Variante des Fernverkehrs hat sich vom Volumen her in zehn Jahren verdoppelt und erreichte 1994 32 Milliarden Tonnen Güter – zwei Millionen Lastwagen weniger auf den Straßen.

1992 sah das Großprojekt 2010 die Errichtung von 44 Umschlagplätzen und den Bau von neuen Gleisstrecken vor. Zielvorgabe ist es, 2010 ein Volumen von 100 Millionen Tonnen zu erreichen, und zwar durch eine Vielzahl von Bahnhöfen mit Umschlagterminals, Direktzüge, eine computerisierte Verwaltung des Datenflusses, die Überwachung des Wegs der Ladung per Satellit und schließlich eine bessere Koordinierung mit den Wasserstraßen und der Luftfracht. Der Bundesverkehrswegeplan für den Zeitraum 1992-2002 sieht vor, daß 213 Milliarden Mark in die Eisenbahn, aber nur 209 Milliarden Mark in das Straßenwesen investiert werden sollen.

Aufgrund des hohen internationalen Transitverkehrs – 40 Millionen Tonnen pro Jahr, drei Viertel davon auf der Straße, zwei Millionen Lkw – könnte auch Frankreich diesem Beispiel folgen, denn die Hälfte dieses Verkehrs betrifft den Transit von und zur Iberischen Halbinsel, und 40 Prozent des Volumens gehen auf Erzeugnisse aus dem Nahrungsmittelbereich; ein Drittel sind verarbeitete Produkte. Der Kanaltunnel ist in dieser Hinsicht auf paradoxe Weise beispielhaft: Warum sollen Lastwagen, einmal auf Pendelzüge verladen, ihren Weg nicht einfach fortsetzen, indem sie bis zum Zielort auf der Schiene verbleiben?

dt. Sabine Scheidemann

* Professor an der Universität Paris-VIII, Forscher am CRIA (Universität Paris-I).

Fußnoten: 1 „Eurostat“ (1995), Jahrbuch 1995, Brüssel. 2 Diese Steuer stieg zwischen 1982 und 1995 von 75 Prozent auf 82 Prozent des Tankstellenpreises für verbleites Superbenzin. Durch diesen Zugriff des Fiskus stiegen die Benzinpreise zwischen 1980 und 1995 um 77 Prozent. 3 Insee, „Les transports en 1995“, Insee-résultats, Economie générale, Paris 1996. 4 Dominique Bron et al., „Pour une politique soutenable des transports“, Arbeitseinheit Prognosen und Strategie, Ministerium für Umwelt, Paris. 5 1995 hatten die Löhne, Gehälter und Sozialabgaben in Frankreich lediglich einen Anteil von 26 Prozent an den Gesamtkosten des Straßengüterverkehrs. Die Arbeitgeberorganisationen (FNTR, CNR) schätzen die Auswirkungen der 1994-1995 unterzeichneten Sozialvereinbarungen auf „zusätzliche Kosten“ von 10 Prozent. 1995 lag das Nettogrundgehalt eines Fernfahrers bei 6900 Franc. Das Gehalt im Straßengüterverkehr liegt um 10 bis 15 Prozent unter dem Durchschnitt der französischen Volkswirtschaft. 6 „Tableaux de l'économie française, 1996-1997“, Paris (Insee) 1996. 7 Am 7. November, dem Ende des jüngsten Konflikts, erbrachten die von der CFDT, der Hauptgewerkschaft dieses Berufsstands, und den Arbeitgebern des Straßenverkehrsbereichs unterzeichneten Vereinbarungen ein Monatsgehalt von 10000 Franc bis zum 1. Juli 2000 auf der Grundlage von 200 Arbeitsstunden in der bestbezahlten Kategorie für Langstrecken-Fernfahrer und von 8135 Franc für 169 Monatsstunden für einfache Fahrer sowie eine allgemeine rückwirkende Erhöhung der Gehälter zum 1. November um 3 bis 5 Prozent. Für 200000 einfache Fahrer bedeutet dies nach Angaben der Gewerkschaft FO lediglich eine Erhöhung um 120 Franc.

Le Monde diplomatique vom 12.12.1997, von LAURENT CARROUÉ