Die Räuber und der Präsident
DIE Niederlage der Regierungspartei bei den Teilwahlen vom 26. Oktober war ein klares Anzeichen dafür, daß die Wähler das Modell ablehnen, welches der peronistische Präsident Carlos Menem seit 1990 verficht. Es sieht so aus, als seien die Bürger entschlossen, die beunruhigende Entwicklung zu stoppen: Vierzehn Jahre nach Ende des Militärregimes ist die Regierung verstrickt in Korruption und Justizskandale. Die zunehmende Arbeitslosigkeit und die Unsicherheit in den Städten tun ein übriges, und längst lautet für viele die Alternative nicht mehr: Diktatur oder Demokratie, sondern: republikanische Ordnung oder Mafiachaos.
Von CARLOS GABETTA *
In der traditionellen Vorstellung ist Argentinien ein kultiviertes, entwickeltes, quasi europäisches Land, das Land von Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, mit einer gesunden Mittelklasse, fruchtbaren Landstrichen und Atomfabriken. Ein anderes, zwar neueres, aber ebenso vereinfachendes Bild stellt die seit 1991 geltende Konvertibilität (1 Peso = 1 US-Dollar) in den Vordergrund, den Sieg über die Inflation (1990 noch 1343,9 Prozent, 1996 nur noch 0,1 Prozent), das anhaltende Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) (zwischen 1990 und 1996 durchschnittlich 4,5 Prozent), die Modernisierung des Staats durch Privatisierungen (zwischen 1989 und 1995 im Gegenwert von 24,7 Milliarden Dollar) sowie die steigenden Investitionen aus dem Ausland.
Genannt werden auch der Erfolg und die vielversprechende Zukunft des Mercosur, des großen lateinamerikanischen Marktes, der Brasilien, Uruguay und Paraguay vereint und dessen Herzstück Argentinien ist. Doch auch wenn man einmal davon absieht, welche sozialen Kosten die Politik nach sich zieht, sind allein schon die makroökonomischen Daten, auf die die Verfechter der neoliberalen Anpassung so gerne verweisen, beunruhigend. Argentinien hatte von jeher eine positive Handelsbilanz (8,2 Milliarden Dollar 1990), doch eine gnadenlose Deregulierung und die Überbewertung des Peso haben den Trend seit 1991 umgekehrt. 1994 betrug das Handelsdefizit 5,8 Milliarden Dollar, das sind 58 Prozent mehr als im Vorjahr; 1997 dürfte es bei 4 Milliarden liegen.1 Auch die Auslandsverschuldung ist trotz der durch die Privatisierungen bedingten Staatseinnahmen angestiegen: Betrug sie 1989 noch 62 Milliarden, so war sie Mitte 1997 schon bei 98,25 Milliarden oder 31 Prozent des BIP angelangt; das sind viermal so viel wie die Exporterlöse.
Obwohl die Regierung die „Mammutindustrieunternehmen“ aufgegeben und eine Unzahl von Beamten entlassen hat, obwohl die Löhne und Gehälter unsicher sind, wird das steuerliche Defizit dieses Jahr auf 9 Milliarden Dollar (3 Prozent des BIP) steigen. „Die Kapitalflucht beläuft sich jährlich auf 40 Milliarden“ (fast 50 Prozent der Staatseinnahmen), erklärt ein Abgeordneter der Regierungspartei.2 Noch skandalöser als diese Zahl aber ist das Steuersystem: Nur 17,3 Prozent der reichen Familien zahlen Vermögensteuer. Die Einkommensteuer ist sehr niedrig (33 Prozent gegenüber 45 Prozent in den USA), während die Mehrwertsteuer, die den Konsum belastet und von allen gezahlt werden muß, von 14 zuerst auf 17 und unter der derzeitigen Regierung dann auf 21 Prozent stieg.
1997 wird das Land etwa 6 Milliarden Dollar Zinsen auf seine Auslandsschulden zu zahlen haben (die Verschuldung des Privatsektors beläuft sich auf 30 Milliarden). Das Defizit der Leistungsbilanz (Summe des Handelsbilanzdefizits, der Zinsen und der ins Ausland transferierten Gewinne) wird 13 Milliarden Dollar (das heißt 4 Prozent des BIP) erreichen und könnte 1998 sogar auf 5 Prozent des BIP ansteigen.3 Natürlich wird all dies über die Neuverschuldung finanziert. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat die Vergabe weiterer Kredite an die Verbesserung der Staatsfinanzen (er forderte die Annullierung eines Beschäftigungsplans) und die Verabschiedung eines Gesetzes über die Flexibilisierung der Arbeitszeit geknüpft. Die Opfer sind immer dieselben, obwohl diesmal auch die Reichen zur Kasse gebeten werden. Die Strukturschwäche der Wirtschaft hatte 1995 nach dem mexikanischen tequilazo zu Panik in Finanzkreisen und zu einer Rezession geführt (Verringerung des BIP um 3,9 Prozent), und der Zusammenbruch der Börse von São Paulo in Argentiniens wichtigstem Handelspartnerland Brasilien im Gefolge des Börsenkrachs von Hongkong läßt nun in Buenos Aires die schlimmsten Befürchtungen aufkommen.
Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Seit 1996 häufen sich die Protestbewegungen, die bereits ein Todesopfer und mehrere Verletzte forderten, und es kam zu einem landesweiten Streik. Im Bildungsbereich sank die Anzahl der Schulen von 41986 im Jahre 1991 auf 38294 im Jahre 1994. Im gleichen Zeitraum gingen die Schülerzahlen von zehn Millionen auf unter neun Millionen zurück und die Anzahl der Lehrer von 729384 auf 626821. Die Soziologin Susana Torrado von der Universität Buenos Aires ist jedoch der Meinung, daß der schlimmste Schaden „sich nicht beziffern läßt“. „Wir meinen den krassen Wertverlust der Diplome, der dazu führt, daß man ein immer höheres Ausbildungsniveau nachweisen muß, um an Arbeitsplätze zu kommen. Die Ausbildung von Millionen Menschen ist obsolet geworden (...), das ist um so schlimmer, als jeder seine Umschulung selbst finanzieren muß. Ein Arbeitsplatz verlangt heute immer mehr Kenntnisse, aber wenn man arbeitslos ist, fehlt einem bekanntlich das Geld für die Weiterbildung.“
Argentinien ist heute ein Wirrwarr aus Dollarmillionen, die ins Land und wieder hinaus fließen, aus exorbitanten makroökonomischen Indikatoren in Verbindung mit beunruhigenden Sozialdaten, aus schnell akkumuliertem Geld, während weite Teile der Gesellschaft in Armut und Elend leben, aus Luxusgeschäften in den Innenstädten, während am Stadtrand Slums und Kriminalität immer größer werden. Das politische Klima könnte einem traditionellen Schelmenroman entstammen, die Korruption und die Skandale allerdings passen eher zu einem Mafiathriller als zu einem Land der „ersten Welt“. 1992 beschwerte sich Terence Todman, damals US-Botschafter in Buenos Aires, vor der Presse über die Höhe der Schmiergelder (coimas), die argentinische Beamte von investitionswilligen US- amerikanischen Unternehmern forderten.
Strohmänner und Schwägerinnen
DER Justiz wurde 1994 eine „unvollständige“ Liste mit „70 Ministern, stellvertretenden Ministern, Gouverneuren, Parlamentsabgeordneten, Verwaltungschefs, Beamten, Geschäftsleuten und Freunden des Präsidenten“ überreicht.5 Auf dieser Liste erscheinen die Schwägerin und frühere Sekretärin des Präsidenten, Amira Yoma, die wegen „Drogengeldwäsche“ in Untersuchungshaft genommen wurde, ihr früherer Mann, ein syrischer Staatsbürger, der kein Spanisch spricht, aber ein hohes Amt in der Zollverwaltung innehatte, Carlos Grosso, ehemaliger Verwaltungschef von Buenos Aires, der in „elf Untersuchungsverfahren (...) wegen unzulässiger Bereicherung“ verstrickt ist, Miguel Vicco, „früherer Privatsekretär des Präsidenten, angeklagt, dem Staat im Rahmen seiner Armenhilfsprogramme verseuchte Milch geliefert zu haben“, und José Luis Barrionuevo, ehemaliger Aufsichtsbeamter des staatlichen Gesundheitsfürsorgesystems, der erklärte, „vom Arbeiten“ sei „noch keiner reich geworden“. Im März 1996 war die Liste der „Beamten, Parlamentsabgeordneten, Richter, Steuerbeamten und Freunde der Macht“, gegen die Korruptionsverfahren liefen, auf 108 angewachsen.6 Zulema Yoma, die frühere Ehefrau von Präsident Menem, beschuldigte vor Gericht „die Entourage des Präsidenten“, für den Tod ihres Sohnes Carlos Menem jr. verantwortlich zu sein, der vor zwei Jahren bei einem Hubschrauberunfall ums Leben kam. Frau Yoma behauptet, es habe sich um einen Mafiamord gehandelt.
Verurteilt wurden bisher insgesamt nur drei Personen; bei den meisten anderen wurde das Verfahren eingestellt. Der Journalist Horacio Verbitsky, von dessen Buch „Diebstahl für die Krone“ 1992 400000 Exemplare verkauft wurden (der Titel ist einem Satz des ehemaligen Innenministers José Luis Manzano nachempfunden, der sich ins Ausland abgesetzt hat und 1990 erklärt hatte: „Ich stehle für die Krone“7 ), erklärt den Mechanismus der Straflosigkeit so: „Erst erhöhte die Regierung die Anzahl der Mitglieder des Obersten Gerichtshofs. Danach richtete sie, zwecks Herstellung anderer Mehrheitsverhältnisse, eine neue Nationale Kassationsstrafkammer ein, in der sie dreizehn freie Sitze besetzte. Sie verfügt außerdem über neun Sitze in den neu eingerichteten Anhörungstribunalen, sechs Sitze, die durch Rücktritt, Versetzung oder Beförderung ihrer Inhaber aus anderen, bereits bestehenden Gerichten vakant geworden waren, über sechs Sitze in den kürzlich eingerichteten Bundesgerichten und über fünf in der Bundeskammer – allesamt in der Hauptstadt. Außerdem verfügt die Regierung über mehr als dreißig Funktionsträger auf diesen drei Ebenen, also über neun von zehn Stellen in der Beschlußfassungsinstanz, die die Untersuchungen gegen die Beamten der Zentralregierung leiten soll. Menems erster Justizminister Carlos Arslanian bezeichnete diese Leute als Strohmänner und trat danach zurück.“ Ein Richter, der unter diesen Verhältnissen wirklich anfängt, etwas zu untersuchen, wird „befördert“ und durch einen anderen ersetzt, der den Angeklagten freispricht. Das Verfahren gegen Amira Yoma, die Schwägerin des Präsidenten, wurde eingestellt.
Die Regierung, die ständig in den Medien angeprangert wird, hat die Journalisten zu ihren Hauptfeinden erklärt. 1995 mußte Carlos Menem den Entwurf eines Pressegesetzes, dem der Senat schon zugestimmt hatte, wieder zurückziehen. Es sah Gefängnisstrafen von bis zu sechs Jahren für Journalisten vor, die zum Thema Korruption auf Regierungsebene Artikel oder Kommentare verfaßten; wer dennoch darauf beharrte, konte sich der schweren Verleumdung und Schmähung schuldig machen; zudem sollte als neuer Straftatbestand die „Beeinträchtigung der Ehre einer juristischen Person“ (etwa der Regierung) eingeführt werden.
Im Januar 1995 wurde die verkohlte, Spuren von Folterungen aufweisende Leiche des Fotografen José Luis Cabezas aufgefunden – Höhepunkt einer Reihe von Drohungen, Provokationen und Übergriffen gegen zahlreiche Journalisten, die vorher nie belangt worden waren. Im Zusammenhang mit diesem Mord wurden mehrere Polizisten verhaftet und angeklagt, darunter auch der Chef der Leibwache von Alfredo Yabrán, einem mächtigen Geschäftsmann, der sein Vermögen mit stillschweigender Duldung der Machthaber angehäuft hat. Wegen seiner Beziehungen zu Yabrán mußte Justizminister Elias Jassan zurücktreten.
In dieses unerfreuliche Bild passen die Bombenanschläge auf die Botschaft von Israel 1992 und auf die Argentinisch-Israelische Gesellschaft (AMIA) im Juli 1994, die etwa zweihundert Todesopfer forderten. Trotz zahlreicher Indizien, die geradewegs zu hohen Polizeifunktionären und Regierungsbeamten führen, gehen die Untersuchungen zu beiden Anschlägen nur schleppend voran.8 Mit Rodolfo Barra, dem Nazi-Sympathien vorgeworfen wurden, mußte 1996 ein weiterer Justizminister zurücktreten.
In der 1994 verabschiedeten Verfassung war eine Reihe von Gesetzen vorgesehen, welche die Macht des Präsidenten begrenzen und die Sicherheit der Bürger sowie größere Transparenz der Justiz gewährleisten sollten. Die Frist für die Verkündung des wichtigsten Gesetzes, das die Einrichtung eines beratenden Richtergremiums vorsieht, ist schon vor zwei Jahren abgelaufen, aber der Kongreß verhindert sein Inkrafttreten.
Vor diesem Hintergrund haben am 26. Oktober dieses Jahres Teilwahlen zum Parlament stattgefunden. Zu Jahresbeginn hatte es einen ersten Versuch gegeben, die Radikale Bürgerunion (UCR) des ehemaligen Präsidenten Raúl Alfonsin – die älteste Partei des Landes – mit der Front Solidarisches Land (Frepaso) zusammenzuschließen, in der peronistische Dissidenten, Sozialisten, Christdemokraten, Unabhängige, Exkommunisten und Exguerilleros, Gewerkschafter und Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen vereint sind.
Die 1991 gegründete Frepaso ist seit der Präsidentenwahl von 1995 zweitstärkste Kraft, stärker als die UCR. Alfonsin, der diskreditiert ist, weil er den wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilten Militärs das „Schlußpunktgesetz“ und das „Gesetz über den gebotenen Gehorsam“ geschenkt hatte (aber auch, weil er 1993 den „Olivos-Pakt“ unterzeichnet hatte, durch den Carlos Menem wiedergewählt werden konnte), war gegen das Bündnis. Nachdem er in den Meinungsumfragen in Buenos Aires auf einen erniedrigenden dritten Platz zurückgefallen war, weit hinter die Kandidaten der Regierungspartei und der Frepaso, mußte die UCR beschließen, sich mit der anderen großen Oppositionspartei zusammenzutun.
Im Wahlkampf griffen die Machthaber zu wirtschaftlicher Erpressung. Die meisten Argentinier sind in Dollar verschuldet (sämtliche Kredite, von Hypotheken- und Industriekrediten bis zu Kleinkrediten für den Kauf von Haushaltsgeräten, werden unter Berücksichtigung der derzeitigen Währungsparität in Dollar verbucht), und die Regierung stellte sich als einziger Garant der Konvertibilität dar. Dieses Argument war so durchschlagend, daß die Opposition gar nicht erst auf den Gedanken kam, diese Konvertibilität (die Achse des Wirtschaftsmodells) in Frage zu stellen. Dafür setzte sie an den Schwachpunkten der Regierung an: Korruption, Justizskandale, Arbeitslosigkeit und wachsende Unsicherheit in den Städten.
Die Partei von Präsident Menem, die nur auf 36,15 Prozent kam, erlitt eine schwere Niederlage, die Opposition dagegen holte mit 45,67 Prozent der Stimmen die wichtigsten Wahlkreise in der Bundeshauptstadt und den Provinzen Buenos Aires, Santa Fé und Córdoba. Sie gewann fünfzehn Wahlmännerstimmen, und die Regierungspartei verlor deren zwölf. Dieses Ergebnis markierte das Ende der absoluten Mehrheit des Peronismus im Kongreß. Bei den Wahlen setzte sich übrigens eine politische Außenseiterin, Graciela Fernández Meijide, durch, Menschenrechtskämpferin seit 1977, als ihr siebzehnjähriger Sohn Pablo von der Militärdiktatur entführt wurde und „verschwand“. Frau Fernández Meijide schlug in der Provinz Buenos Aires die Frau des peronistischen Gouverneurs, Hilda Duhalde, um Längen. Nach diesem Sieg ist „Graciela“, wie sie genannt wird, zur wichtigsten Präsidentschaftskandidatin für 1999 geworden.
Bis dahin müssen die führenden Persönlichkeiten des Bündnisses mit einer Mischung aus Geduld, Flexibilität und Unnachgiebigkeit manövrieren; die Mafiosi, die ihre Interessen durchsetzen wollen und sich fürchten, sich vor einer Justiz rechtfertigen zu müssen, welche sie nicht mehr kontrollieren, können das Land weiter destabilisieren. Die Schatten von Carlos Salinas de Gortari und Fernando Collor de Mello schweben über der argentinischen Politik.
dt. Sabine Scheidemann
* Journalist, Buenos Aires.