12.12.1997

Der Tod aus dem Fläschchen

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Der Tod aus dem Fläschchen

EINEINHALB Millionen Neugeborene sterben jährlich weltweit, weil den Müttern die Fähigkeit zur richtigen Ernährung ihrer Kinder genommen wird. Obwohl die Gefahren der Trockenmilchnahrung in den Ländern der Dritten Welt längst bekannt sind, versuchen die Milchpulver-Fabrikanten mittels Werbung gezielt, die Mütter für die künstliche Babynahrung einzunehmen. Die Stillziffern sowie die durchschnittliche Stilldauer sind nach wie vor rückläufig, was nicht unwesentlich zur anhaltenden Unterernährung beiträgt. Dabei hatten alle Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1981 einen Kodex verabschiedet, der den mißbräuchlichen Geschäftspraktiken entgegenwirken soll und verbietet, daß Frauen zum Kauf des teuren Milchpulvers animiert werden.

Von CLAIRE BRISSET *

In den 1860er Jahren entwickelte ein Chemiker in Frankfurt am Main ein Produkt, dem er eine große Zukunft voraussagte: das „Kindermehl“, eine Mischung aus Mehl und dehydrierter Kuhmilch, die zur Säuglingsernährung dienen sollte. Der Chemiker hieß Henri Nestlé.

Damals schossen im nördlichen Europa überall Fabriken aus dem Boden. Die massenhaft auf den Arbeitsmarkt vordringenden Frauen konnten nicht selber stillen und sahen sich daher gezwungen, ihre Säuglinge bei Ammen zu lassen. Ob Henri Nestlé ahnte, welch kolossaler Erfolg seinem neuentwickelten Produkt weltweit beschieden sein würde, wissen wir nicht. Ganz gewiß jedoch handelte es sich um eine bedeutende Entdeckung, die – eigentlich – einen Riesenfortschritt in der menschlichen Ernährung hätte bedeuten können.

Doch die Geschichte dieser Entdeckung ist in der Folge leider auf Abwege geraten. Als Henri Nestlé 1867 guten Glaubens schrieb, dieses Pulver sei auf ernährungswissenschaftlich solider Grundlage entwickelt, es sei ein Lebensmittel, wie man es besser nicht wünschen könne, war nicht vorauszusehen, daß seine Erfindung sich eines Tages derart gegen die Kinder richten würde, daß hundert Jahre später, nämlich 1974, eine Streitschrift unter dem Titel „Nestlé tötet Babies“ verfaßt werden sollte. Er konnte auch nicht ahnen, daß man sein Unternehmen zusammen mit einigen Firmen vergleichbarer Größe am Ende des 20. Jahrhunderts offen kritisieren würde, weil es ethische Grundsätze mißachtet und sich nicht an die grundlegenden Prinzipien der Säuglingsnahrung hält.

Erst unlängst wurden in London unter dem Titel „Cracking the code“1 in einer Anklageschrift erneut die wichtigsten Fakten und Daten aus den letzten Jahren zusammengetragen. Sie zeigen, daß die multinationalen Babynahrungs-Firmen in keiner Weise den vor 16 Jahren (1981) unterzeichneten Internationalen Verhaltenskodex über Produktion und Vertrieb von Babynahrung einhalten.

Anfang der siebziger Jahre waren die Wirtschaftsstrategien der Babynahrungskonzerne – und besonders die Strategien von Nestlé – zu einem wichtigen Thema geworden. Nestlé ist eine der größten Firmen der Welt, ihr Umsatz ist höher als der Staatshaushalt der Schweiz, und ihre Werbeausgaben liegen höher als das Budget der Weltgesundheitsorganisation (WHO).2

Die multinationalen Lebensmittelkonzerne hatten ermittelt, daß Mütter, die sich nicht davon abbringen ließen, ihre Kinder selbst zu stillen, ein mächtiges Hindernis für ihre Absicht darstellten, weltweit (und vor allem in der Dritten Welt) den Markt mit den eigenen Produkten zu durchdringen. Es waren diese Mütter, die dafür sorgten, daß das Milchpulver nur einen geringen Anteil am Gesamtumsatz ihrer Unternehmen ausmachte – im Falle von Nestlé etwa waren es weniger als 10 Prozent –, während die anderen Geschäftszweige exponentielle Zuwachsraten aufwiesen.

Es galt also, die Mütter zu umgarnen. Und die beste Methode bestand offenbar darin, die Orte zu belagern, an denen die Mütter sich vor, während und unmittelbar nach der Geburt aufhielten: die Krankenhäuser.

Also kleideten die Multis Tausende (überwiegend weibliche) Firmenvertreter in weiße Kittel und schickten sie in die Entbindungsstationen der Dritten Welt. Dort sollten sie die Mütter davon überzeugen, daß die künstliche Nahrung der eigenen Milch überlegen sei. Die gleiche Strategie wurde gegenüber dem Krankenhauspersonal eingesetzt, das mit Prämien und Geschenken bedacht wurde. Auch die schlecht ausgestatteten und baufälligen medizinischen Einrichtungen und Entbindungsstationen selbst erhielten diverse Materialien, eine Menge Werbeproben, ja sogar Trockenmilchspenden. Wenn die Mütter mit ihren Kindern nach Hause gingen, bekamen sie nicht nur Milchpulver mit, sondern auch Fläschchen, Sauger und Herstellungsanleitung – mitsamt der festen Überzeugung, die industriell hergestellte Milch werde ihren Neugeborenen bekömmlicher sein. Auf diese Weise hatte sich die „Fläschchenkultur“ binnen kurzem durchgesetzt.

Diese Kultur hat seitdem auf der ganzen Welt an Boden gewonnen; kontinuierlich geht in den letzten dreißig Jahren das Stillen zurück: Weniger als die Hälfte der Mütter der Dritten Welt (44 Prozent) stillen heute noch ihre Kinder. Weltweit liegt der Anteil noch niedriger, bei etwa 33 Prozent.

Ein Verhaltenskodex, der ungeniert verletzt wird

DABEI ist längst erwiesen, daß die Muttermilch biologisch wertvoller ist. Die Ernährungswissenschaft weiß, daß die Muttermilch Antikörper enthält, die das Kind vor zahlreichen Infektionen schützen. Insbesondere das Kolostrum – die Milch, die die Mutter in den ersten Stunden und Tagen nach der Geburt bildet – ist reich an Immunstoffen. Außerdem enthält die Muttermilch alle Nährstoffe, die das Kind benötigt. Die ideale Ernährung bietet folglich eine Vollstillung des Säuglings während der ersten vier bis sechs Monate.

Die Flaschennahrung zwingt die Frauen, Wasser zu verwenden. Wasser ist aber bekanntlich in der Dritten Welt vielerorts verseucht; es muß also mindestens zwanzig Minuten gekocht werden, damit alle Mikroorganismen abgetötet sind. Dazu braucht man allerdings eine Energiequelle, also Holz oder einen anderen Brennstoff, der in der Regel teuer ist. Zudem braucht die Familie Geld, um das Milchpulver bezahlen zu können; hat sie es nicht, gerät sie leicht in Versuchung, das Pulver zu verdünnen, was der erste Schritt zur Unterernährung ist.

Es gibt also bei der Flaschenernährung gleich zwei Gesundheitsrisiken: Zum einen ist sie Ursache von zahlreichen Infektionen, ausgelöst durch das von Mikroben, Viren und Parasiten verschmutzte Wasser, durch mangelhafte Desinfektion der Fläschchen und durch das Fehlen einer geeigneten Konservierungsmethode; zum anderen führt das Strecken des Milchpulvers unmittelbar zu epidemischer Unterernährung. So schätzt das Internationale Kinderhilfswerk (Unicef), daß gegenwärtig jährlich eineinhalb Millionen Kinder an den direkten oder indirekten Folgen der Flaschenernährung sterben. Die überwiegende Mehrzahl dieser Kinder stirbt entweder an Wassermangel infolge einer Durchfallerkrankung oder an Erkrankungen der Atemwege, die bei gestillten Kindern dank der Abwehrstoffe aus der Muttermilch meist weniger schwer verlaufen. Hinzu kommt, daß das Stillen eine empfängnisverhütende Wirkung hat, vor allem solange es die einzige Nahrungsquelle des Säuglings bleibt, denn durch das Saugen werden bei der Mutter weibliche Hormone produziert, die das Wiedereinsetzen des Eisprungs verhindern. Schließlich entsteht durch das Stillen zwischen Mutter und Säugling ein intensiver Kontakt, der für die seelische Entwicklung des Kindes von großer Bedeutung ist.

Diese Zusammenhänge sind seit Ende der sechziger Jahre bekannt. Anfang der siebziger Jahre entstanden Bürgerinitiativen, und 1974 erschien – zunächst in Großbritannien, dann in der Schweiz – eine Broschüre mit dem bewußt provokanten Titel: „Nestlé tötet Babies“, der den Verfassern einen vielbeachteten Verleumdungsprozeß einbrachte. Zwar wurden die Autoren zwei Jahre später tatsächlich verurteilt, doch der Kläger aus dem schweizerischen Vevey wurde über diesen Sieg nicht recht glücklich, weil das Gericht in seinem Urteil unmißverständlich die Werbepraktiken des „Nebenklägers“ (Nestlé) gerügt hatte. Wenn dieser, hieß es in dem Urteil, künftig nicht mehr eines unmoralischen Verhaltens bezichtigt werden wolle, so müsse er seine Produktwerbung grundlegend verändern.

Die Bürgerinitiativen gaben nicht auf. Sie schlossen sich zum Internationalen Babynahrungs-Netzwerk (IBFAN, International Baby Food Action Network) zusammen, um einen Boykott von Nestlé- Produkten zu organisieren. In Nordamerika war die Resonanz besonders groß, doch es mußte mehr geschehen. Vor allem galt es, einen Verhaltenskodex zu entwickeln, der die Flaschenmilchindustrie auf moralisch vertretbare Praktiken verpflichten sollte.

Entworfen wurde dieser Kodex von der WHO, der Unicef – in Zusammenarbeit mit verschiedenen einschlägigen regierungsunabhängigen Organisationen – und nicht zuletzt von Vertretern der betroffenen Firmen, die man zur Mitarbeit bei der Ausarbeitung des Textes aufgefordert hatte. Diese Mitarbeit war wohl eher formaler Natur, wie ein Brief belegt, den ein bedeutender Babynahrungshersteller, die Abbott-Ross Laboratories, im April 1981 an die US-amerikanischen Senatoren verschickte. Darin heißt es, Abbott-Ross sowie die anderen großen amerikanischen Hersteller von Säuglingsmilch lehnten den Kodex ab und forderten die Regierung der Vereinigten Staaten auf, ihn ebenfalls abzulehnen. Als kurz darauf, am 21. Mai 1981, die Weltgesundheitsversammlung den Kodex verabschiedete, war die einzige Gegenstimme die der USA.

Gleichwohl war damit der Internationale Verhaltenskodex über Produktion und Vertrieb von Babynahrung in Kraft getreten. Er verbot unter anderem jede Art offener oder verdeckter Werbung für Milchpulver, sowohl gegenüber dem Verbraucher als auch gegenüber den medizinischen Einrichtungen; außerdem sollte jede kostenlose Verteilung von Trockenmilch untersagt werden, auch in Form von Warenmustern und Probepackungen; Verkaufsprämien und Zuwendungen an das Gesundheitspersonal wurden ebenso untersagt wie die Verbreitung der Behauptung, Milchpulver sei gehaltvoller oder gesünder als Muttermilch. Alle Mitgliedsstaaten der WHO wurden aufgefordert, die wesentlichen Bestimmungen des Kodex in ihre Gesetze zu übernehmen. Die derart unter Kontrolle gestellte Industrie unterzeichnete diesen Kodex und erklärte, sie wolle die Einhaltung eigenständig kontrollieren. Und tatsächlich verschwanden die schlimmsten Praktiken für einige Jahre; der Boykott erlahmte.

1994 griff die anglikanische Kirche das Thema ganz offiziell von neuem auf und gründete gemeinsam mit 27 anderen Organisationen die Interagency Group on Breastfeeding Monitoring (IGBM), die sich vorgenommen hat, in einer breitangelegten Untersuchung herauszufinden, inwieweit der WHO-Kodex wirklich eingehalten wird. Diese Untersuchung wurde 1996 in vier Ländern durchgeführt: Südafrika, Bangladesch, Polen und Thailand. Befragt wurden in jedem Land 800 junge Mütter und 120 Mitarbeiter von 40 verschiedenen Fürsorgeeinrichtungen. Die Untersuchung zeigt, daß 32 Wirtschaftsunternehmen – darunter Nestlé und Abbott-Ross, aber auch BSN, Heinz, Gerber (Sandoz), Johnson und andere – gegen den Verhaltenskodex verstoßen. Alle 32 Unternehmen verteilen nach wie vor Informationsbroschüren, die dem Stillen ein Negativimage verpassen und behaupten, die Milchpulverernährung sei für den Säugling gesünder; alle diese Unternehmen verteilen weiterhin Proben und ganze Gratispackungen und schicken ihre Mitarbeiter in Entbindungskliniken, um dort Informationsmaterial zu verbreiten. So haben in Polen 56,4 Prozent und in Thailand 32,5 Prozent der befragten Kliniken solche Besuche erhalten. In Thailand haben überdies ein Viertel aller befragten Mütter sowie die Hälfte des in Gesundheitseinrichtungen beschäftigten Personals Milchpulverproben bekommen; ein Drittel der Einrichtungen bezog kostenlose Milchpulverlieferungen. In Polen und Bangladesch ist es üblich, dem Personal kleine Geschenke zukommen zu lassen. Und in allen vier Ländern – besonders häufig in Thailand und Bangladesch – gehen „Besucherinnen“ in den Kliniken um, die über die guten Eigenschaften des Milchpulver-Produkts informieren.

Kurz, die Untersuchung zeigt, daß die Firmen in ihrer Vermarktungsstrategie nach wie vor die Gesundheitseinrichtungen und Krankenhäuser heranziehen, umwerben und ausnutzen. Das gilt in erster Linie für Thailand und Bangladesch, die beiden ärmsten der vier Länder, wo die Entbindungsstationen schlecht ausgestattet und die Angestellten miserabel bezahlt sind. In Polen und Südafrika ist die Strategie breiter angelegt: Hier versucht man, die Frauen nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Gesundheitssystems zu erreichen.

Was können angesichts dessen diejenigen unternehmen, die sich für die Sache der Kinder einsetzen? Bereits seit mehreren Jahren haben Unicef und WHO Ideen entwickelt, wie man in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen das Bewußtsein verbreiten kann, daß die zu fördernde Säuglingsnahrung die Muttermilch ist. Zur Förderung einer Stillkultur wurden zehn „Bedingungen“ festgelegt. Dazu gehören unter anderem folgende Gebote: Die Säuglinge sollen bereits unmittelbar nach der Geburt angelegt werden, Schnuller oder Fläschchen sollen nicht angeboten werden, Pseudokrankenschwestern, die von Firmen ausgehalten werden, soll der Zutritt zur Klinik verwehrt sein und so weiter. Entbindungseinrichtungen, die diese zehn Punkte erfüllen, erhalten den Titel „babyfreundliches Krankenhaus“. Inzwischen sind Tausende von Kliniken Mitglieder dieses Netzwerks.

Selbstverständlich reicht das nicht aus. Komplementär müßten in einer weiteren Untersuchung noch mehr Länder einbezogen werden. Obwohl Frankreich den Kodex unterzeichnet hat, wird die „tour de lait“ praktiziert, die eindeutig gegen die Vorschriften verstößt: Nach Absprache veranstalten die Firmen „Milchrunden“, das heißt sie verteilen abwechselnd ihre Proben, Milchpackungen und andere Subventionen an die jeweiligen Einrichtungen. Deren Gegenleistung besteht darin, daß die Neugeborenen – je nachdem, welches Unternehmen gerade mit seiner „Runde“ dran ist – nur die Milch einer bestimmten Marke erhalten, und wenn die Mütter die Klinik verlassen, haben sie diverse Produkte einzig und allein der betreffenden Marke im Köfferchen. Einen Monat oder ein Quartal später kommt ein anderes Unternehmen mit seiner „tour de lait“ an die Reihe. In Frankreich werden zwei Drittel aller Säuglinge mit Milchpulver ernährt.

Diese Praxis verstößt gegen eine ganze Reihe von Verordnungen und Vereinbarungen, darunter auch gegen eine europäische Direktive, die seit 1994 in Kraft ist. Aber alle Seiten – außer dem Neugeborenen – profitieren davon. Die Babymilch- Unternehmen haben sich ihre „Runden“ in den Entbindungsstationen aufgeteilt. Als Gegenleistung stellen die Hersteller den Kliniken mitunter hohe Summen zur Verfügung, und zwar über eine gemeinnützige Einrichtung. Diese Mittel werden gewöhnlich zur Anschaffung von medizinischen Materialien oder zur Finanzierung von Weiterbildungen verwandt.

Niemand, der für das Stillen eintritt, würde bestreiten, daß unter bestimmten Bedingungen Trocken- und Folgemilch unerläßlich sind. Das gilt für den – äußerst seltenen – Fall, daß der Säugling die Muttermilch aus gesundheitlichen Gründen nicht verträgt, oder für den – wesentlch häufigeren – Fall, daß der Säugling seine Mutter durch Krieg oder andere Ursachen verliert. Doch ansonsten gilt es, die Frauen unbedingt zum Stillen ihres Kindes aufzufordern, und das auch in den Industriestaaten. In dieser Frage geht es in jedem Fall darum, ein Stück Freiheit zu gewährleisten – für die Mütter ebenso wie für ihre Kinder.

dt. Eveline Passet

* Journalistin und Pressechefin des französischen Unicef-Nationalkomitees. Verfasserin von „Un monde qui dévore ses enfants“, Paris (Liana Levi) 1997.

Fußnoten: 1 Die Dokumentation, publiziert in London von der IGBM (Interagency Group on Breastfeeding Monitoring), liegt bislang nur auf englisch vor. Zu den 29 Organisationen, die sich in der IGBM zusammengeschlossen haben, gehören u. a. die British Medical Association, die britische katholische Kirche, die anglikanische Kirche, Oxfam, der Ökumenische Rat der Kirchen, Save the Children und die europäischen Büros von WHO und Unicef sowie das britische Unicef- Komitee. 2 „La Lettre du Comité français pour l'Unicef“, Paris, Februar 1991.

Le Monde diplomatique vom 12.12.1997, von CLAIRE BRISSET