Der Staatsbürger – eine aussterbende Spezies
Von FRANÇOIS BRUNE *
ES gehört zum Wesen des Staatsbürgers, daß er nicht nur die vollen Bürgerrechte besitzt, sondern sich an den aktuellen Entscheidungen beteiligt und sich als Teil eines souveränen Volkes fühlt. Doch das, was man „staatsbürgerliches Bewußtsein“ nennen könnte, schwindet offensichtlich unaufhaltsam dahin. Eine neuere französische Umfrage bezeugt, daß die Fünfzehn- bis Neunundzwanzigjährigen in puncto res publica alle Illusionen verloren haben und ihr mit Gleichgültigkeit begegnen. „Wir haben es mit einem umfassenden Glaubwürdigkeitsverlust der Institutionen zu tun“, heißt es in einem Kommentar. „Besonders bei jungen Leuten stoßen die Repräsentanten der Öffentlichkeit auf immer breitere Ablehnung.“1
Um Staatsbürger zu sein, muß man die eigenen Lebensbedingungen durch ein gemeinschaftliches Engagement tatsächlich beeinflussen können. Doch tagtäglich und allüberall wird dem Bürger vermittelt, wie ohnmächtig er ist: Im ökonomisch-sozialen Bereich sind die Freiheiten des Individuums weitgehend illusorisch; die Medien spiegeln nurmehr eine Öffentlichkeit wider, die sie zuvor selbst konditioniert haben; und die Politik scheint das Staatsvolk nur noch zu repräsentieren, um es zu verraten.
Die Wirtschaftsordnung preist weiterhin den Kanon des Einheitsdenkens: Wir müssen uns, so heißt es, den Gesetzen des Markts beugen, Lohnzurückhaltung üben und die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse hinnehmen, die die Entscheidungsträger ihren Beschäftigten unter Verweis auf die mit der Globalisierung verbundenen Zwänge aufnötigen. Die Menschen reagieren teils skeptisch, teils mit kopfloser Panik. Fest steht, daß die „Logik der Wirtschaft“ den sozialen Errungenschaften zuwiderläuft.2 Wenn man das Recht auf Arbeit als integralen Bestandteil der Bürgerrechte ansieht, dann widerlegt die fortbestehende Massenarbeitslosigkeit eindringlich die Behauptung, in Europa herrsche „Demokratie“.3
Die Wortführer der Konsumgesellschaft trösten uns mit dem Hinweis, in der Privatsphäre genieße jeder Teil die Freiheit der Warengesellschaft, „frei zu wählen“, welche Produkte, Gegenstände und Kleidungsstücke, ja welcher „Partner“ und welches „Selbstverständnis“ zu ihm passen.
Doch selbst wenn ein Bürger das nötige Geld besitzt, ist er nicht frei, sondern ein Büttel all der auf ihn einströmenden, nicht überprüfbaren Informationen. Die Konditionierung durch Werbung, die Beschränkung des Handlungsspielraums der Verbraucherorganisationen (Verbot von Boykottaufrufen), die Undurchschaubarkeit von Herkunft und Zusammensetzung der angebotenen Produkte (Skandale wie der um den Rinderwahnsinn werden immer erst nachträglich bekannt) und die Tatsache, daß der Bürger keinerlei Einfluß auf die international gültigen Reglementierungen hat, die ihm das Alltagsleben schwermachen – all dies deutet darauf hin, daß er konsumieren soll und im übrigen den Mund zu halten hat. Die Art und Weise, wie ihm die ständige Unterbrechung von Fernsehfilmen durch Werbung aufgenötigt wurde, zeigt, daß er zwar Anspruch aufs Nebensächliche hat, sich zum Beispiel über das Preis-Leistungs-Verhältnis beklagen darf, daß aber die Unterordnung seines gesellschaftlichen Daseins unter die Erfordernisse des Konsums und die damit einhergehende Ideologie auch nicht ansatzweise in Frage gestellt wird.
Das Mediensystem verstärkt diese Ohnmacht. Der Bürger, der in Wirklichkeit weder als Produzent noch als Konsument das Gefühl haben kann, ein Bürger zu sein, wiegt auch als Öffentlichkeit nicht mehr. Im wesentlichen beschränkt sich seine Rolle darauf, das Weltbild der Medien über sich ergehen zu lassen.
Das ganze Theater, das ihn von der traurigen ökonomischen Wirklichkeit ablenkt, verschleiert ihm die zentrale Einsicht: daß die Entscheidungen ohne ihn stattfinden. Im übrigen wird er mit Nachrichten bombardiert, die jedoch keinerlei Einfluß auf sein Leben haben. Er ist angestöpselt ans Weltdorf, darf alles miterleben, was sich auf dem Globus ereignet, insbesondere die großen Tragödien unserer Tage – den Tod von Prinzessinnen zum Beispiel –, doch dieser rituell ausgelegte Köder und entfremdende Gefühlsersatz lenkt nur in falsche Bahnen, was ihm an demokratischem Mitbestimmungswillen noch bleiben mag, und hält ihn davon ab, handelnd in die Entwicklung dieser Welt einzugreifen, in der er nur Mitläufer ist.
Im übrigen trägt das Bild, das dem Bürger von seinem eigenen Dasein wie von der Entwicklung der Gesellschaft vermittelt wird, alle Züge horoskopischer Weissagung. Nicht nur die spektakulären und dramatischen Ereignisse werden ihm als schicksalsgegeben präsentiert; auch ein Großteil der aktuellen Mißstände, die auf Entscheidungen von Regierungen oder Unternehmensleitungen zurückgehen, werden dargestellt, als hätten die Sterne sie verhängt. Die Nachrichtensendung von France3 beispielsweise handelt die Arbeitslosenzahlen unter der Rubrik „Das Beschäftigungswetter“ ab.
Die postmodernen Demokraten behaupten dagegen, durch Meinungsumfragen und die Meßbarkeit von Einschaltquoten nehme die Öffentlichkeit permanent Einfluß auf die Gesellschaft. Dabei besitzen Meinungsumfragen vom demokratischen Standpunkt aus keine Aussagekraft: Sie befragen die Menschen nur zu den ideologisch vorgeformten Ereignissen, sie geben flüchtige Eindrücke als reifliche Überlegungen aus und verkünden die Ergebnisse mit einem großen Gestus („Die Franzosen meinen ...“), dem sich der minoritär gebliebene Befragte nur ergeben kann. Der Meinungs-Mythos dient letztlich der Einschüchterung, ja Irreführung: „Die Wähler wissen nicht mehr, welcher Umfrage sie Glauben schenken sollen“4 , sagte kürzlich ein Kommentator auf France-Info.
So spiegeln die Medien weder die Anschauungen des Bürgers, noch gewähren sie ihm einen Zugang zur Realität. Sie tragen vielmehr dazu bei, ihn weiter zu „entpolitisieren“. Es sind die Medien, die ein Verständnis unserer Zeit verbauen, Orientierungslosigkeit schaffen, die verschiedenen Wertvorstellungen und Meinungen verschwimmen lassen und all diejenigen, die ihnen aufs Wort glauben, in haltlose Abhängigkeit stürzen.
Die politische Sphäre, in der das demokratische Leben ja zum Ausdruck kommen soll, bietet dem Bürger kaum noch die Möglichkeit, seinem staatsbürgerlichen Willen effektiv Geltung zu verschaffen. Zwischen dem Medienrummel beispielsweise, der den französischen Wahlkampf im Mai 1997 begleitete, und der Realität konnte der Graben tiefer nicht sein. Man rief die Bürger zu den Urnen, man pries ihre Macht, endlich und abermals alles in der Hand zu haben, man steigerte mit allen Mitteln der Kunst die Spannung in Erwartung der Wahlergebnisse, man inszenierte Wahlabende in den Parteizentralen, wo ein letztes Mal den Wählern die großen Veränderungen angepriesen wurden. Die Zahlen allerdings zeigen, wie wenig sich tatsächlich bewegt hat. Zählt man die Wahlberechtigten, die sich nicht in die Wählerlisten eintrugen, die Nichtwähler und die ungültigen oder leeren Stimmzettel zusammen, so ergibt sich, daß sich rund 40 Prozent der stimmberechtigten Bürger willentlich oder unabsichtlich der Wahl ihrer politischen Repräsentanten enthielten. Die derzeitige Regierungsmehrheit also stützt sich auf knapp ein Viertel des souveränen Volks, und die „Wende“ verdankt sich einer vergleichsweise kleinen Zahl von Wechselwählern.5
Auch diejenigen, die sich durch die neue Regierung repräsentiert wähnten, mußten sich bald eines Besseren belehren lassen und einmal mehr feststellen, daß ihr staatsbürgerlicher Akt im Grunde eine reine Formsache war. Eine nach der anderen verschwanden die einschneidenden Veränderungen, die von „der Linken“ im Wahlkampf in Aussicht gestellt worden waren, von der Tagesordnung. Die neue Regierung unterzeichnete den vormals so heftig kritisierten wirtschaftlichen Stabilitätspakt; sie schloß die Renault- Fabrik im belgischen Vilvoorde; sie erhöhte den gesetzlichen Mindestlohn um einen lediglich symbolischen Betrag, wo eine kontrollierte Ankurbelung der Konsumnachfrage erwartet wurde; und sie schrieb die Privatisierungspolitik fort – lediglich die Sprachregelung wurde geändert: Nun ist nur noch von der Öffnung des Kapitalbesitzes für Privataktionäre die Rede.
dt. Bodo Schulze
* Autor von „Les médias pensent comme moi!“, Paris (L‘Harmattan) 1997.