12.12.1997

Südostasien am Morgen nach der Party

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Südostasien am Morgen nach der Party

Welche Tugenden hat man nicht den asiatischen „Tigern“ zugeschrieben! Seit den jüngsten Börsenturbulenzen sind die Länder Südostasiens, die man uns als Lösungsmodelle für unsere ökonomischen Probleme andiente, selbst zum Problem für die Stabilität der Weltwirtschaft geworden.

Von PHILIP GOLUB *

STEILE Wachstumskurven, ein ständig steigender Lebensstandard und gesellschaftlicher Konsens waren die Merkmale des „goldenen Zeitalters“ in Südostasien. Damit ist es nun endgültig vorbei. Nach Jahren der Börseneuphorie, die großenteils durch den Zufluß ausländischen Kapitals angeheizt wurde, ist die Spekulationsblase geplatzt. Das Ergebnis ist eine Deflation, welche die eher schwachen Fundamente, auf denen das politische und gesellschaftliche Gleichgewicht der Region beruht, durchaus ins Wanken bringen könnte. Das asiatische Finanzdebakel der letzten Monate – eine mit der mexikanischen Krise von 1994/95 strukturell vergleichbare Erschütterung mit allerdings weitreichenderen Auswirkungen – stellt nämlich ein Entwicklungsmodell in Frage, das einigen Ländern der Dritten Welt zum Einstieg in eine prekäre Modernität verholfen hat.

Die Länder Südostasiens sind heute Opfer der Internationalisierung ihrer Volkswirtschaften und ihrer Integration in weltweite Kapitalströme, die im Laufe der letzten zehn Jahre zu ihrer raschen, dabei aber höchst unausgewogenen Entwicklung beigetragen haben. Die erste Phase des wirtschaftlichen Take-off der „Tigerländer“1 wurde zwar durch massive Kapitalzuflüsse aus Japan angestoßen, doch seit Beginn der neunziger Jahre wird ihr Wachstumsmodus zunehmend geprägt und verzerrt durch den gigantischen Zufluß von vagabundierendem Kapital, das auf hochrentable Investitionen in den Schwellenländern aus ist.2

Diese per definitionem volatilen Geldströme – Anlagen von Kapitalfonds, Staatsobligationen und kurzfristige Bankanleihen – haben die (produktiven und spekulativen) Inlandsinvestitionen, die Kapitalakkumulation, das Wirtschaftswachstum und die Verschuldung (alles Faktoren des „asiatischen Wirtschaftswunders“) auf einem sehr hohen Niveau gehalten. Aber klassischerweise führten sie auch zu den unvermeidlichen „Finanzblasen“ auf den inländischen Aktien- und Immobilienmärkten.

Dieses Phänomen war besonders auffällig in Thailand, dem Epizentrum der Krise, wo trotz aller warnenden Anzeichen für eine bevorstehende Deflation im überhitzten Immobiliensektor und für eine Schwächung des schon angeschlagenen Bankensystems die ausländischen Nettoinvestitionen (ohne Direktinvestitionen) von 2,5 Milliarden Dollar 1994 auf 4,1 Milliarden 1995 anstiegen. Die kurzfristige Verschuldung erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 29,2 auf 41,4 Milliarden. Das deflationäre Schrumpfen des thailändischen Aktien- und Immobilienmarktes im Jahre 1996 (die Kurse sanken damals um 40 Prozent) war lediglich ein Vorbote der wesentlich brutaleren Krise dieses Jahres.

Die wirtschaftliche Dynamik kehrte sich aber erst um, als zum einen 1996 in der ganzen Region die Wachstumsrate der Exporte zurückging und damit die strukturelle Anfälligkeit von Volkswirtschaften offenbarte, die auf kleine Exportnischen mit konkurrenzfähigen Produkten (Textilien, Elektronik) setzen, und zum zweiten im Jahre 1997 eine Neubewertung der Währungen einsetzte, die an den steigenden Dollar angebunden waren. Die Spekulation richtete sich im Mai 1997 zuerst gegen die thailändische Währung, den Baht, ergriff dann die gesamte Region und löste eine massive Kapitalflucht aus. Die Wirkung dieses Finanzschocks auf die einzelnen Länder war um so radikaler, je stärker die einzelnen Volkswirtschaften von externen Geldzuflüssen abhängig waren. Länder wie Indien oder Vietnam, die weniger in die Weltwirtschaft integriert sind, sind demgegenüber von der Krise weitestgehend verschont geblieben.

Aber die eigentlichen Folgen dieses Finanzdebakels stehen noch aus.3 Länder mit bislang stetiger, wenn auch anarchischer Entwicklung und einer relativen Stabilität, die aus dem Rückgang der Armut resultierte, müssen künftig mit einer sinkenden Wachstumsrate, zunehmender Arbeitslosigkeit in den Städten und einem drastisch verfallenden Lebensstandard fertigwerden. Die Abwertung der lokalen Währungen (um 25 bis 40 Prozent) hat automatisch die Auslandsverschuldung in die Höhe getrieben. Diese wuchs in Indonesien, wo sie schon vorher 110 Milliarden Dollar (50 Prozent des BSP) betragen hatte, bis Ende Oktober um 37 Prozent, in Thailand (43 Prozent des BSP) um 35 Prozent und in Malaysia um 27 Prozent. Dabei handelt es sich vornehmlich um Privatschulden örtlicher Banken, die den Inlandsmarkt mit Krediten versorgten und sich selbst bei einem enormen Zinsgefälle auf den internationalen Bankmärkten verschuldet hatten. Als nun ein Großteil ihrer Kunden zahlungsunfähig wurde, führten die Abwertungen bei den Banken zu einer ganzen Reihe von Insolvenzen, die künfig noch weit heftigere Erschütterungen erwarten lassen.4

Die Abwertung der Währungen führt dabei nicht zwingend zu einem exportgeleiteten Wiederaufschwung: Höhere Zinssätze zwecks Beruhigung ausländischer Anleger und der bedeutende Anteil von importierten Werkstoffen an den Exporterzeugnissen (besonders im Elektroniksektor) werden das verarbeitende Gewerbe nämlich eher belasten und die aus der Abwertung resultierenden Konkurrenzvorteile in engen Grenzen halten.5 Außerdem verlangt der IWF im Gegenzug für seine Hilfeleistungen an die Länder der Region (37 Milliarden Dollar für Indonesien und 17 Milliarden für Thailand) Austeritätsmaßnahmen, eine „Stabilitätspolitik“ und eine verstärkte Liberalisierung der Wirtschaft. Das alles wird die deflationistischen Auswirkungen der Währungsturbulenzen eher verstärken: Das Wachstum wird in Thailand (6,8 Prozent in 1996) 1997/98 auf null sinken und sich in Indonesien – bestenfalls – halbieren.

Auch Japan mit seinem gefährdeten Wachstum und einem Bankensystem, das durch Zusammenbrüche – wie den des Wertpapierhauses Yamaichi – zusätzlichen Erschütterungen ausgesetzt ist, wird nicht ungeschoren davonkommen: Als Haupthandelspartner und größter Gläubiger der südostasiatischen Länder (die japanischen Exporte nach Südostasien belaufen sich auf 15 Prozent an den Gesamtausfuhren) dürfte Japan die Rückwirkungen einer Wirtschaftsflaute in Südostasien durchaus zu spüren bekommen.

Das Versiegen von Kapitalzuflüssen und die notwendigen Haushaltskürzungen werden künftig ganz besonders die öffentlichen Investitionen belasten, die indes für die Entwicklung der städtischen Infrastrukturen unerläßlich sind. Die noch vor der Krise ermittelten Zahlen zum unverzichtbaren Bedarf der Region in puncto Energie- und Wasserversorgung, Sanitärinstallationen, Verkehrswege und Telekommunikationsnetze geben eine Vorstellung vom Ausmaß des Problems: Schon 1995 schätzte die Weltbank den Bedarf der südostasiatischen Länder an Investitionen, um auch nur die drängendsten Mißstände zu beseitigen, auf jährlich 6,5 bis 7 Prozent ihres BSP (gegenüber 5 Prozent im Jahre 1993). Dies würde im Zeitraum 1995 bis 2015 für Indonesien 192 Milliarden, für Malaysia 50 Milliarden, für Thailand 145 Milliarden und für die Philippinen 48 Milliarden Dollar bedeuten: Ein solches Investitionsvolumen ist derzeit unvorstellbar.

Das dürfte das ohnehin labile Gleichgewicht in den städtischen Zonen zusammenbrechen lassen, die bekanntlich schon jetzt unter massiven Umweltproblemen leiden und elementare Bedürfnisse wie die nach Wohnraum sowie nach Trinkwasser- und Abwassersystemen nicht bedienen können.6 Die bäuerliche Bevölkerung, die in die Riesenstädte abwandert und dort lediglich Gelegenheitsarbeit findet, gehört zu den ersten Opfern des sozialen Rückschritts. Die Löhne beginnen nach einem Anstieg in der ganzen Region ausgerechnet in dem Moment wieder zu sinken, da die abwertungsbedingte interne Inflation (in Thailand sind die Preise seit Oktober 1996 um 7 Prozent gestiegen) bereits die Einkommen der Armen und der gerade entstehenden Mittelschicht beschneidet.

Diese tiefgreifende Wende droht also durchaus neue schwerwiegende soziale Spannungen zu erzeugen. Das Umkippen des Booms in die Regression, des höheren Lebensstandards in eine Verschärfung des gesellschaftlichen Ungleichgewichts, wird sehr viel schärfer, und seine Folgen werden sehr viel schwerer zu bewältigen sein, als man heute allgemein zugeben will7 , und das in einer Region, in der es weder soziale Netze gibt noch – mit Ausnahme von Thailand und den Philippinen – demokratische Verfahrensweisen. Deshalb entlädt sich die Unzufriedenheit gelegentlich in heftigen Gewaltausbrüchen.

Asiatischer Protestantismus?

DER gesellschaftliche Zusammenhalt beruhte bislang auf der Fähigkeit der politischen Führung, die materiellen Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern. Trotz bedeutender sozialer Diskrepanzen erzeugte die Dynamik des ständig wachsenden Wohlstands einen faktischen Konsens, der oppositionelle politische Tendenzen wie auch vorhandene ethnische Spannungen im Zaum hielt.8 Autoritäre Regime rechtfertigten ihre Politik damit, daß sie der für die Entwicklung notwendigen Stabilität diene.

In einer paradoxen Umkehrung von Max Webers Denkfigur der „Protestantischen Ethik“ verwies man auf die „asiatischen Werte“, um den wirtschaftlichen Erfolg der Region zu erklären, so als sei die kapitalistische Entwicklung aus spezifischen „kulturellen“ Tugenden entsprungen. Die Berufung auf diese „Werte“ wurde zum praktischen Legitimationsinstrument, mit dessen Hilfe die Herrschenden die Spannungen abbauen konnten, die für eine besonders rasche wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung typisch sind.

Dennoch bildeten sich im Zuge der sozialen Transformation die Ansätze einer neuen Zivilgesellschaft heraus, die innerhalb der politischen Systeme auch gewisse Freiräume nutzen konnte. So hat etwa die Mittelschicht in Thailand 1993 das Land auf den Weg zur Demokratisierung gebracht und die Armee allmählich aus dem politischen Bereich herausgedrängt. Auf den Straßen von Bangkok starben 3000 Thais, um diese Demokratisierung zu ermöglichen.

Ähnliche Forderungen regten sich auch in Indonesien, wo die Gewerkschaften (aller Knebelung zum Trotz) aktiv wurden und die politische Opposition Demonstrationen gegen den Präsidenten Suharto organisierte. Diese politischen oder gesellschaftlichen Protestbewegungen sind jedoch sporadisch oder marginal geblieben. Ohne institutionellen Apparat sind sie unfähig, politische Alternativen zu entwickeln und die amtierenden Regierungen herauszufordern. Selbst wenn die Währungskrise die Legitimität der autoritären Regime ankratzt, wäre es voreilig, darin schon ein Indiz für demokratische Fortschritte zu erblicken.

Die politische Neugruppierung müßte sich vielmehr innerhalb der Führungsgruppen vollziehen. In Indonesien – dem größten, aber auch labilsten Asean-Land – liegt die Nachfolge Suhartos im dunkeln. Das Mandat des seit 1966 regierenden Autokraten erlischt theoretisch Ende 1998; um sein Amt bewerben sich zwar zahlreiche Anwärter aus zivilen und militärischen Kreisen, doch ist die Möglichkeit, daß die Armee in der Ära nach Suharto eine deutlichere politische Rolle spielt, nicht mehr auszuschließen. Dagegen sitzt in Malaysia trotz der Machtkämpfe zwischen dem Premierminister Mohammad Mahathir und seinem designierten Nachfolger, Vizepremier Anwar Ibrahim, die United Malay National Organization (UMNO) fest im Sattel. Auch in Thailand hat es nicht den Anschein, als werde die politische Führung ihr nepotistisches Verhalten aufgeben.

Wiederholte „antiimperialistische“ Reden und die Weigerung, eine innerasiatische Verantwortung für die Krise anzuerkennen, sind jedoch ein Beweis für die Klemme, in der einige asiatische Politiker stecken. Das zeigen sowohl die ständigen antiwestlichen Tiraden des malaysischen Premierministers Mahathir wie die Tatsache, daß er und Suharto die ungerechten Wirkungen der internationalen Finanzmärkte ziemlich spät „entdeckt“ haben. Solche Formeln dienen – wie die „asiatischen Werte“ – im politischen Diskurs als Legitimationsinstrumente, die nationalistische Gefühle wecken und den bedrohten nationalen Konsens bewahren sollen.

Derartige Reden wären freilich glaubwürdiger, hätten die Politiker nicht einst genau die Prinzipien verklärt, die sie heute in Grund und Boden verdammen. War die malaysische Zentralbank etwa nicht bis vor kurzem einer der Hauptakteure auf dem Devisenmarkt? Allerdings kann man die Fassungslosigkeit des Präsidenten Suharto nachempfinden, als er entdecken mußte, daß „die brüsken Fluktuationen der internationalen Geldströme und des Devisenhandels die wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte der Entwicklungsländer von heute auf morgen zunichte gemacht haben“9 .

Das Schwinden der Ressourcen als Begleiterscheinung der Kapitalflucht aus den südostasiatischen Märkten wird sich als sozial wie geopolitisch kostspieliger Prozeß erweisen. In sozialer Hinsicht wird – genau wie in Lateinamerika bei der Schuldenkrise zu Beginn der achtziger Jahre – die Globalisierung der Finanzen die Bevölkerung der Region belasten. In geopolitischer Hinsicht war die Asean bemüht, sich von den Vereinigten Staaten, China und Japan abzusetzen. Ein solcher Versuch muß künftig – selbst in zaghafter Form – als illusorisch gelten, denn die Abhängigkeit der Region ist durch die jüngste Krise noch stärker geworden.

dt. Margrethe Schmeer

* Journalist

Fußnoten: 1 In den siebziger Jahren reagierte Japan auf die Yen-Hausse mit der Verlagerung seines Kapitals in Länder, in denen die Arbeitskräfte billig waren. 2 Die Ströme privaten Kapitals in Schwellenländer stiegen seit 1990 von 50 Milliarden Dollar auf mehr als 300 Milliarden im Jahre 1996. 1995 und 1996 stand Südostasien weltweit an erster Stelle der Nutznießer ausländischer Kapitalzuflüsse. 3 Die Verluste vom vergangenen Oktober sind noch nicht genau zu beziffern. Im September hingegen gingen allein in Südostasien zwischen 200 und 250 Milliarden Dollar verloren. Zuzüglich Hongkong sähen die Zahlen noch schlechter aus. Diese Verluste fallen im Verhältnis wesentlich schwerer ins Gewicht als die 500 Milliarden Dollar, um die die New Yorker Börse im Jahre 1987 nachgab. 4 Dazu „La crise financière en Asie“, La Lettre du CEPII, Nr. 161, Oktober 1997. Dutzende von Finanzinstituten haben schon in Thailand schließen müssen, desgleichen sechzehn Banken in Indonesien. 5 Dazu Catherine Lebougre, „Asia Victim of its Own Success“, Conjoncture, Paris, September 1997. 6 Das demographische Wachstum betrug Anfang der neunziger Jahre 4 Prozent. Die Weltbank schätzt „den Bevölkerungszuwachs in den städtischen Zonen auf zusätzlich eine Milliarde Menschen in der nächsten Generation“. Im Jahre 1990 verfügten nur 60 Prozent der städtischen Bevölkerung, inklusive China, über Trinkwasser und nur 77 Prozent über Sanitärinstallationen. Dazu: „Infrastructure Development in East Asia and Pacific. Towards a new Public-Private Partnership“, Weltbank, Washington D.C. 7 Dazu Stephen Radelet und Jeffrey Sachs, „Asia's Bright Future, Europe's Troubled One“, Foreign Affairs, November/Dezember 1997. Die Autoren vermerken etwas selbstgefällig, daß die asiatische Währungskrise „nicht das Ende des Wachstums in Asien bedeutet, sondern ein Muster finanzieller Labilität darstellt, welches generell mit wirtschaftlichem Wachstum verknüpft ist“. Der Premierminister von Singapur, Goh Chok Tong, hat ebenfalls die Krise als eine vorübergehende Pechsträhne bezeichnet. 8 Seit den Aufständen von 1967 gegen die chinesische Volksgruppe, welche tonangebend in der malaysischen Wirtschaft ist, hat die machthabende Partei eine Politik der Umverteilung des Wohlstands zugunsten der malaysischen Bevölkerung eingeleitet, durch welche die Spannungen zwischen den rassischen Gruppierungen klein gehalten werden. Der Versuch des Präsidenten Suharto, einen „Kapitalismus auf indonesische Art“ einzurichten, war eher ein Fehlschlag. 9 Bei der G-15-Gipfelkonferenz am vergangenen 3. November in Djakarta hat Suharto ebenfalls erklärt, die Krise habe „über Nacht die Arbeit, den Einsatz und die Opfer von mehreren Jahrzehnten weggefegt.“

Le Monde diplomatique vom 12.12.1997, von PHILIP GOLUB