16.01.1998

Das Ende der mageren Jahre in Osteuropa

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Das Ende der mageren Jahre in Osteuropa

Nach dem Golden Globe für den besten ausländischen Film hat er auch noch in Hollywood den Oscar für den besten ausländischen Film bekommen: „Kolya“ von Jan Sverák begeisterte die Jury wie das Publikum. Die Geschichte von František, dem tschechischen Cellisten, und Kolya, dem kleinen Russen, deren Begegnung in die Zeit der „Samtenen Revolution“ fällt, ging um die ganze Welt. Damit knüpft das tschechische Kino an alte Erfolge an, die einst mit Namen wie Miloš Forman, Jiři Menzel und Věra Chytilová verbunden waren. Ein Wiederaufleben der siebten Kunst ist nicht nur in Prag zu bemerken: In ganz Osteuropa scheint die Filmindustrie die dunklen Zeiten hinter sich zu lassen, die mit dem brutalen Übergang zum Kapitalismus angebrochen waren.

Von PIERRE DAUM *

DER Film beginnt mit einer Beisetzung. Zwei Kinder, fast schon Jugendliche, beerdigen ihren Vater. Es sind die „Witman-Jungs“. Eine einfühlsame Adaptation des zum Jahrhundertbeginn erschienenen Romans von Géza Csáth hat der junge ungarische Regisseur János Szász mit seinem Spielfilm realisiert; mit Distanz und Feingefühl begleitet er die ersten sexuellen Empfindungen seiner beiden Protagonisten. Von einer liebesunfähigen Mutter sich selbst überlassen, geben sie sich all ihren Instinkten hin, töten die Eule auf dem Dachboden, streicheln die Brüste einer jungen Frau im nahe gelegenen Bordell. Sinnliches Verlangen und Mordlust verschmelzen in der letzten Szene, wenn die beiden ihre Mutter töten, um mit dem gestohlenen Schmuck die Prostituierte bezahlen zu können.

Der abrupte Verlust der einstigen Bezugspunkte, die Auflösung der gesetzlichen Ordnung, die absolute Freiheit beim Ausleben von Instinkten, die Notwendigkeit, die letzten Bindungen zur Vergangenheit zu lösen, um in der Zukunft reich zu werden – dieser herausragende Film ist wie eine Metapher für die mittel- und osteuropäischen Länder, aber auch für ihr Kino. Denn der plötzliche Zusammenbruch des sowjetischen Systems hat in dieser Kunst, die seit dem Zweiten Weltkrieg überaus populär war, zunächst zu einer beispiellosen Krise geführt. Die Folge war ein spektakulärer Rückgang der Produktion: Wurden bis 1990 in Rußland rund 400 Filme pro Jahr gedreht, so waren es 1996 noch etwa 20. Ebenso drastisch sanken die Besucherzahlen: Der „Durchschnittsbulgare“ ging 1988 noch elfmal im Jahr ins Kino, jetzt nur noch anderthalbmal, wie übrigens die Deutschen auch.1 Einzig Tschechien scheint der US- amerikanischen Überflutung zu widerstehen, weil es hier ein Publikum gibt, das sich für die landeseigene Produktion begeistert. In allen Ländern Mittel- und Osteuropas brach zwischen 1991 und 1994 die staatliche Filmproduktion zusammen, nach einer Phase der Umstrukturierung schossen unabhängige Produktionsfirmen wie Pilze aus dem Boden. Längst sind die meisten wieder verschwunden, nachdem sie entdecken mußten, daß dieser Sektor die erhofften Finanzdienstleistungen – insbesondere die einfache Geldwäsche – nicht erfüllen konnte.

Oscars und andere Preise

HEUTE scheint eine junge Cineastengeneration einen Neuanfang zu versuchen, obwohl sie von staatlichen Stellen, die mehr denn je vom Rotstift regiert werden, nichts zu erwarten hat. Notfalls pflegt man seine Neigungen und Vorlieben. Nicht ohne Erfolg, zumindest seit 1996: Die bis 1994 stark rückläufige Produktion hat wieder deutlich zugenommen; etliche gute Filme kamen auf die Leinwand. Auch wenn die meisten wohl nie einen internationalen Verleih finden werden2 , gelangten doch einige in die Auswahl der großen Filmfestivals, wo einzelne Werke sogar ausgezeichnet wurden. So erhielt „Kolya“ von dem jungen tschechischen Regisseur Jan Sverák – ein Film, der derzeit auch in Frankreich und Deutschland in den Kinos läuft – in Hollywood den Oscar für den besten ausländischen Film.

Diese relativ günstige Situation darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es innerhalb der Länder des ehemaligen Ostblocks gravierende Unterschiede gibt. Bei genauerem Hinsehen wird klar, daß man es sich mit einer pauschalen Bewertung zu einfach machen würde. Das zeigt schon ein Blick auf die Statistiken: Wie sollte man die Tschechische Republik, wo im vergangenen Jahr zwanzig Spielfilme gedreht wurden – darunter „Kolya“, der mehr als eine Million Zuschauer anzog3 –, unter einen Hut bringen mit Litauen, das einen einzigen Spielfilm hervorbrachte?4

Was die Filmproduktion angeht, so lassen sich zwei Gruppen von Ländern unterscheiden.5 Zu der einen gehören – neben der Tschechischen Republik – Polen (23 Filme in 1995, 17 in 1996), Ungarn (19 Filme in 1995, 18 in 1996) und Rumänien (18 Filme in 1994, 9 in 1995). Hier gibt es einen Kern von professionellen Filmemachern, die mit dem europäischen Standard mithalten können, Produzenten, die sich durch Seriosität und Aktivität auszeichnen, und einen Staat, der sich für die nationale Produktion finanziell stark engagiert (eine Ausnahme stellt Tschechien dar, wo allerdings die mangelnde staatliche Förderung durch das ungewöhnlich große Engagement des Fernsehens und der Barandov-Studios ausgeglichen wird). Die genannten Länder sind dank europäischer Koproduzenten in der Lage, ehrgeizige Projekte zu realisieren, die eine Chance haben, auch außerhalb der eigenen Grenzen gezeigt zu werden.

Die meisten Filme, die hier 1996 gedreht wurden, versuchen, sich mit der heutigen und der vergangenen Wirklichkeit auseinanderzusetzen – was eine gewisse Schwere zur Folge hat. Auch in Ungarn – wo die Komödie „Drei Musketiere in Afrika“ von István Bujtor, ein wahrhaft lächerliches Opus, einen riesigen Erfolg hatte – wenden sich zwei junge Regisseure mit fragendem Blick der Vergangenheit zu: In „Lange Dämmerung“ von Attila Janisch steigt eine ältere Archäologin plötzlich aus dem Auto aus, das sie nach Hause bringen soll, und setzt ihren Weg allein fort. Vom Einbruch der Nacht überrascht, wird sie von einem Busfahrer mißhandelt; sie findet sich in einem halb zerfallenen Haus wieder, erinnert sich plötzlich, daß sie einmal darin gewohnt hat, scheint zu sterben. Sehr viel weniger metaphorisch ist „Zuckerpuppen“ von Péter Timár, der auf lebendige und witzige Weise die Atmosphäre der sechziger Jahre rekonstruiert.

In Prag wird der Zuschauer mit „Kolya“ in eine Geschichte à la Kundera entführt: Ein eingefleischterJunggeselle, Cellist von Beruf, läßt sich seine oberflächliche Freiheit von einem Kind nehmen, das Hilfe braucht; das Ganze spielt vor dem Hintergrund der Samtenen Revolution. Dieser Leichtigkeit diametral entgegengesetzt ist der zutiefst ergreifende Film „Boomerang“ von Hynek Bočan, dessen Drehbuch ein ehemaliger Insasse eines Arbeitslagers geschrieben hat: Ein stalinistischer Oberst sieht sich 1958 mit Männern zusammengesperrt, die er vor Jahren verurteilt hat; fast alle wollen ihn töten, nur einer nicht. Ein Film, der den Zuschauer mit der Monströsität von Geschichte konfrontiert, der fragt, was an Humanität bleibt, wenn ein Mensch auf die unterste Stufe des Menschseins zurückgeworfen wird – und dem es gelingt, alle Klippen des Genres zu umschiffen.

In die zweite Gruppe von Ländern gehören Bulgarien (6 Filme in 1996), die Slowakei (3 Filme in 1996), die baltischen Staaten (insgesamt 10 Filme in 1995), Slowenien (4 Filme in 1995), Georgien und die Ukraine; in den übrigen Ländern gibt es faktisch keine Filmindustrie mehr. Als Ausnahme muß man jedoch Zentralasien erwähnen, wo – in der Mongolei, in Turkmenistan und in Usbekistan – weiterhin Werke von Qualität realisiert werden. In diesen Ländern hat sich die Produktion mit zahlreichen Schwierigkeiten herumzuschlagen: das Staatsbudget ist niedrig, die Kinobesitzer vermieten ihre Säle lieber an Autoverkäufer, die großen Studios verkommen, und Produzenten sind so gut wie nicht vorhanden. Zur Zeit überlebt die siebte Kunst hier nur dank europäischer Koproduzenten.

Dennoch: auch hier kann ein junger talentierter Regisseur auftauchen und für Überraschungen sorgen. Der junge Martin Šulik ist solch ein Fall. Weniger christlich-philosophisch als sein letzter Spielfilm „Der Garten“ ist sein neues Werk „Orbis Pictus“ geraten, das eine schlaksige Jugendliche zeigt, die sich durch die wunderschöne slowakische Landschaft bewegt und dabei unterschiedlichen Menschen begegnet: einem Kraftfahrer, der ein wenig schlitzohrig ist, einem melancholischen Abgeordneten, einer Gruppe verrückter Gaukler, einem Frischvermählten, dem früheren Geliebten ihrer Mutter und zuletzt einem einsamen Schäfer auf einem hohen Felsen.

Einen Sonderfall stellt die Russische Föderation dar. Nach und nach scheint hier alles zusammenzubrechen, ohne jede Hoffnung auf einen Neubeginn. Wurden 1995 noch 47 Spielfilme realisiert, so waren es im Folgejahr gerade noch 20. Die beeindruckenden Studios von einst sind nur noch baufällige Hallen und erwachen allenfalls bei nächtlichen Rave-Veranstaltungen noch einmal zum Leben. Und die veraltete Technik erhöht die Herstellungskosten beträchtlich. Rechnet man noch die exorbitanten Hotelpreise in Moskau oder Sankt Petersburg sowie eine neue Form brutaler Kriminalität hinzu, so verwundert es nicht, daß – so paradox es klingt – der bedeutendste russische Filmemacher, Nikita Michalkow, seinen jüngsten Film – „Der Barbier von Sibirien“ – in Prag abdreht, in den Barandov-Studios. Zwei Hindernisse sind es vor allem, die einen Neuanfang blockieren: Zum einen werden trotz eines Urheberrechtsgesetzes aus dem Jahre 1993 weiterhin Raubkopien von Filmen auf Video angefertigt, zum anderen investiert das Fernsehen, obwohl es floriert und expandiert, kaum Geld in die Filmproduktion. Die könnte folglich nur vom Staat gefördert werden, aber der ist selbst bankrott.

Dennoch war in diesem Jahr in Cannes ein hervorragender russischer Film zu sehen: „Der Bruder“ von Alexej Balabanow. Es ist das Porträt des neuen russischen Helden, virtuos dargestellt von Sergej Bodrow, der bereits in dem von seinem Vater gedrehten Streifen „Gefangen im Kaukasus“ als hervorragender Schauspieler in Erscheinung getreten war. Es ist der erhellende Blick auf all die fürchterlichen Dinge, die sich in Moskau abspielen. Der Protagonist, der aus der Provinz stammt, ist gerade aus dem Krieg (in Tschetschenien) zurückgekehrt, mit den Allüren eines amerikanischen Stars, einer Vorliebe für eine nicht mehr ganz modische Musik und einem bewußt rassistischen Auftreten. Aus seinem Dorf geht er nach Sankt Petersburg, wo sein Bruder ihn in seine Berufskiller-Geschäfte hineinzieht. Es herrscht Gesetzlosigkeit, denn die Vertreter des Gesetzes sind korrupt, und so dekretiert er sein eigenes Gesetz: Zur größten Freude der Öffentlichkeit tötet er die bösen Mafiosi (meistenteils Kaukasier). Die postsowjetische Spielart eines echten Westerns.

Auf dem Gebiet des Autorenkinos sind vor allem zwei Namen zu nennen: Kira Muratowa, deren Film „Drei Geschichten“ den Zuschauer mit surrealistischem Humor in die mörderische Absurdität hineinstößt, die in Rußland herrscht, und Alexander Sokurow, der mit seinem Streifen „Mutter und Sohn“ eine Art umgekehrte Pietà vorführt: Ein Sohn hält seine sterbende Mutter. Sokurow ist einer der ganz wenigen, die noch einen Hoffnungsschimmer suchen. Letzten Endes sind die russischen Regisseure ebenso orientierungslos wie ihre Mitbürger. „Früher“, so erklärt Naum Klejman, Direktor des Moskauer Kinomuseums, „lenkte der historische Materialismus unser Leben, heute ist es der hysterische. Die Menschen sind auf den freien Markt entlassen worden, ohne zu wissen, was die Freiheit des Menschen ist.“

Ein kontinentales Netz der Filmemacher

WÄHREND die Situation des osteuropäischen Kinos bis 1994 wirklich kritisch war, scheint sie sich nun wieder zu bessern. In mehreren Ländern hat eine erfolgreiche Umstrukturierung das Dreieck Staat-Fernsehen-Zuschauer neu ausbalanciert. Außerdem verstärkt sich die Kooperation mit westeuropäischen Partnern, und es entsteht, nicht zuletzt dank der Initiative europäischer Institutionen, ein solides gesamteuropäisches Netz der professionellen Filmemacher. So unterstützt der Fonds „Eurimages“ des Europarats Produktionen in fünfundzwanzig Ländern; seit seiner Gründung 1989 hat er 497 Spiel- und Dokumentarfilme mit einer Summe von 268,6 Millionen Mark gefördert; sein Jahresbudget beträgt derzeit über 45 Millionen Mark. Was das Media- Programm der Europäischen Union betrifft, so fördert es die Filmproduktion in unterschiedlichen Phasen der Herstellung, und zwar in 21 Ländern; das Budget von Media I (1990-1995) betrug 394 Millionen Mark, das von Media II (1996-2000) sieht ungefähr 606 Millionen Mark vor. Schließlich verfügte das französische Centre National de la Cinématographie (CNC) seit 1990 über einen „Fonds Eco“, der osteuropäische Produktionen förderte; leider hat ihn der Kulturminister im April 1997 abgeschafft, doch einigen Ländern wird der Zugang zum „Fonds Sud“ des CNC ermöglicht.

Trotz dieser finanziellen Beihilfen fehlt es einer jungen Cineastengeneration, die in der Lage ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und zugleich die ästhetischen Formen zu erneuern, an finanziellen Mitteln, um ihr Können vorzuführen. In zahlreichen Ländern mangelt es an politischem Willen, ohne den die Gesetzesprojekte, die dem Kino auf die Beine helfen würden, sich ständig verzögern: Gesetze zum Urheberrecht, Bestimmungen über Abgaben und Steuervergünstigungen oder die Pflicht für Verleiher, einen Teil ihrer Gewinne in die Filmproduktion zurückfließen zu lassen und so weiter.6 Denkt man an die vielen mittelmäßigen Produktionen, so müßten allerdings auch die Kriterien der staatlichen Filmförderung verfeinert werden.

dt. Eveline Passet

* Journalist, Wien.

Fußnoten: 1 Die meisten der hier angeführten Zahlen stammen aus dem Statistischen Jahrbuch 97 des Europäischen Audiovisuellen Informationszentrums, Straßburg, 1996. 2 Der Zusammenbruch der Kinostrukturen in den mittel- und osteuropäischen Ländern hat die Filmfestivals nicht in Mitleidenschaft gezogen, einigen geht es sogar besser denn je. Eines ragt aus den vielen eindeutig heraus: das Festival im tschechischen Karlovy Vary, das jeweils Anfang Juli stattfindet. 3 „Report on Czech Cinematography in 1996“, Tschechisches Kulturministerium, März 1997. 4 Tschechien hat 10,3 Millionen Einwohner, Litauen nur 3,7 Millionen (Zahlen von 1996). Um einige Vergleichszahlen aus den fünf westeuropäischen Ländern zu bringen, die im Filmgeschäft maßgeblich sind: 1995 wurden in Frankreich 141 Filme gedreht, in Großbritannien 76, in Italien 75, in Deutschland 63 und in Spanien 59. In den Vereinigten Staaten sind es etwa 500 Filme, von denen nur 400 in den Verleih kommen. 5 Diese Zweiteilung zeigt letztlich klar, daß es grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen West- und Osteuropa gibt. Das arbeitet auch der Bericht des Europarats über die Finanzierung der Filmproduktion in Europa deutlich heraus, der anläßlich der Achten Konferenz der europäischen Minister für kulturelle Angelegenheiten erschienen ist, die am 28. und 29. Oktober 1996 in Budapest stattfand. 6 In Bulgarien wurde ein Gesetzentwurf über einen Filmfonds, den die Union der Filmschaffenden ausgearbeitet hatte, im August 1996 in erster Lesung vom Parlament abgelehnt. In der Slowakei wurde noch immer nicht über das Rahmengesetz zum Film abgestimmt, dessen 18. Fassung derzeit diskutiert wird. In Rußland wurde im vergangenen Jahr zwar ein Gesetz über die staatliche Filmförderung verabschiedet, doch wird es bis heute nicht in die Praxis umgesetzt. Siehe Agathe Duparc, „Mosfilm à bout de souffle ...“, La Gazette de Moscou (in französischer Sprache), 30. Mai bis 5. Juni 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.01.1998, von PIERRE DAUM