16.01.1998

Schafft die Präsidentschaftswahlen ab!

zurück

Schafft die Präsidentschaftswahlen ab!

DASS die Versuche gescheitert sind, in den Ländern des südlichen Afrika ein modernes Staatswesen einzuführen, liegt nicht unwesentlich daran, daß dort der Staatspräsident in Direktwahl gewählt wird. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit war diese Art der Bestimmung des Staatschefs in die meisten schwarzafrikanischen Verfassungen aufgenommen worden, und lange Zeit wurde sie wegen der „Stabilität“ geschätzt, die sie den Institutionen zu verleihen schien. Heute muß man diese Direktwahl und ihre äußerst nachteiligen Folgen kritisch betrachten.

Von THIERRY MICHALON *

Die schwerwiegenden Probleme im heutigen Schwarzafrika beruhen im wesentlichen auf dem Scheitern des Versuchs, moderne staatliche Institutionen auf Gesellschaften zu übertragen, die noch zutiefst von ihrer ländlichen Kultur geprägt sind. Zwar gelang es den nach der Unabhängigkeit eingesetzten autoritären Machthabern zwanzig Jahre lang, eine einigermaßen heile Welt vorzugeben – in erster Linie dank der Legitimität, die sie sich Jahr für Jahr erkauften, indem sie die Privilegien in öffentlichen und halböffentlichen Einrichtungen den zahlreichen Jungakademikern zugänglich machten. Doch Ende der achtziger Jahre erzwangen die ausländischen Geldgeber im Zuge einer rein formalen Liberalisierung dieser Regime die Beendigung dieser Politik; das zog den Niedergang vieler solcher Staatssysteme und eine Zunahme der Gewalt nach sich.

Die Auflösung der „Communauté Française“1 im Jahre 1960 und die Unabhängigkeit der vormaligen Mitgliedsstaaten führten zur Ausarbeitung von Verfassungsbestimmungen, die sich in vielen Fällen das US-amerikanische System zum Vorbild nahmen: Sie übertrugen die Funktionen des Staats- und des Regierungschefs ein und derselben Person, die durch allgemeine Wahlen bestimmt wurde. Die Verfassungen hingegen, die aufgesetzt wurden, nachdem in Frankreich (durch das Gesetz vom 6. November 1962) die allgemeine Wahl des Präsidenten der Republik beschlossen worden war, bezogen sich explizit auf das nunmehr in der ehemaligen Metropole gültige Verfahren. Von da an stieß in Afrika jegliche Kritik an der Anwendung dieses Verfahrens, das autoritäre Ausuferungen so eindeutig erleichtert, auf empörte Proteste, nach dem Motto: „Was für Frankreich recht ist, soll wohl für uns nicht billig sein?“

Trotz der Legitimität, die die Öffentlichkeit in Frankreich der direkten und allgemeinen Wahl des Staatschefs weiterhin zugesteht (was sich unter anderem durch eine höhere Wahlbeteiligung als bei anderen Wahlen ausdrückt), darf man ihre negativen Auswirkungen auf das Funktionieren der Demokratie nicht vergessen. Sie stattet den Präsidenten der Republik mit einer fast monarchischen Machtfülle aus – was damals dem Wunsch des orientierungslosen französischen Volkes entsprach, heute jedoch unzeitgemäß ist. Ein solches System bestärkt die Bevölkerung in ihrem natürlichen Hang, ihr Schicksal in die Hände eines Herrschers zu legen statt ihr Vertrauen in Institutionen zu setzen. Es entpolitisiert die öffentliche Debatte zugunsten einer Auseinandersetzung zwischen Individuen. Wenn die parlamentarische Mehrheit und die Mehrheit in der Präsidentschaftswahl übereinstimmen, überträgt dieses System die reale Macht einem einzigen Mann, der den Vertretern des Volkes keine Rechenschaft schuldig ist. Es bringt eine Personalisierung der Macht mit sich und schwächt dadurch die demokratischen Institutionen.

Die französische Republik kann ohne Verfassungsänderung auf zwei verschiedene Arten funktionieren: als halbpräsidiales oder als parlamentarisches Regime, je nachdem, ob der Staatschef vom Parlament unterstützt wird oder nicht. Dies ist unlogisch und wenig verständlich. Daß in Zeiten, in denen der Präsident – wie gerade jetzt – gezwungen ist, sich diskret zurückzuhalten, die Institutionen gut funktionieren, beweist, wie unnütz diese überholte „republikanische Monarchie“ ist.

In Afrika jedenfalls erweist sich diese Methode der Bestimmung des Staatschefs als äußerst schädlich. Zum einen stellt sie eine bedauerliche Kontinuität her zwischen dem modernen Staatskonzept und den althergebrachten ländlichen, konsensorientierten Traditionen, in deren Mittelpunkt die Person des Ältesten steht, des weisen Chefs, der das Land verteilt, als Hüter der traditionellen Gesetze fungiert und den Überschuß an Lebensmitteln der Gemeinschaft bewahrt und verteilt. Diese Kontinuität ist mit dem Begriff der „Institutionen“, der Grundlage der Staatsidee überhaupt, schlecht zu vereinbaren.

Statt dessen entsteht wie selbstverständlich eine „Demokratie der Einstimmigkeit“. Die in ländlichen Gesellschaften allgegenwärtige soziale Kontrolle dient dem Image des Chefs, dem nicht widersprochen werden darf. Dessen politische Partei nimmt die Rolle des Hofes ein, zu dem man Zutritt haben muß, wenn man bei der Verteilung berücksichtigt werden will. Die freien Präsidentschaftswahlen in Benin und Madagaskar haben kürzlich gezeigt, wie die Wähler aus freien Stücken mit Mathieu Kérékou und Didier Ratsiraka Despoten wieder an die Macht brachten, die zwar ihre Länder ruiniert haben, deren Image der Stärke den Wählern jedoch größeres Vertrauen einflößte als die institutionellen Mechanismen.2

Dieses Wahlverfahren verleitet den Wähler ebenfalls dazu, bei Präsidentschafts-, aber auch Parlamentswahlen nach Beziehungs- und Gefühlskriterien zu handeln (insbesondere nach den Solidaritätsverpflichtungen gegenüber regionalen oder ethnischen Gemeinschaften). Auf diese Weise wird es noch lange dauern, bis er begreift, daß die demokratischen Mechanismen dazu dienen, unterschiedlichen Erwartungen in bezug auf die Zukunft des Gemeinwesens Ausdruck zu verleihen, und daß es keine „Politik“ gibt ohne die freie Auseinandersetzung zwischen diesen Erwartungen. So sehen sowohl der Staatsbürger als auch der Politiker den Staat weiterhin als ein Netz von Beziehungen an und nicht als eine Summe von Funktionen, die neutral und objektiv erfüllt werden müssen.

Bei einer Präsidentschaftswahl führt das folglich dazu, daß die Mitglieder der verschiedenen ethnischen Gruppen sich um den Kandidaten ihrer Gruppe, ihren „Bruder“ scharen, in der Hoffnung, daß von den materiellen Erträgen seines Erfolgs etwas für sie abfällt. Dieses Wahlsystem bestätigt also den afrikanischen Wähler darin, den Staat als einen Apparat zur legitimen Aneignung von Gemeinschaftsgütern durch den Klan des Siegers anzusehen.

Die Direktwahl des Präsidenten verhindert außerdem die Verbreitung jener grundlegenden Auffassung, daß in einem modernen Staat die „gute Herrschaft“ nicht von einem guten Oberhaupt, sondern von guten Institutionen abhängt, also von nicht personengebundenen Mechanismen, die ihre Doppelfunktion erfüllen: die Ausarbeitung von Regeln zum Gemeinschaftsleben, die den Bedürfnissen möglichst vieler entsprechen (also das Gesetz als Ausdruck eines demokratischen Kompromisses), und die Anwendung dieser Regeln auf alle gleichermaßen, durch Verwaltungsorgane, die die Gleichheit vor dem Gesetz garantieren.

Schließlich, und das ist das Erschreckendste, führt diese Form der Wahl zu Ausbrüchen von Gewalt, die an Häufigkeit und Schärfe zunehmen. Daß die Macht im Staate vollständig in den Händen eines Mannes und seines Klans liegt – und um so ausschließlicher deren eigenem Nutzen dient, als die breite Umverteilung der sechziger und siebziger Jahre heute materiell nicht mehr möglich ist – legitimiert den Rückgriff auf Gewalt.

Der kürzliche Zerfall von Kongo-Brazzaville in einem Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden Klans wurde ausgelöst durch die wachsenden Ängste aller Seiten im Vorfeld einer Präsidentschaftswahl mit unsicherem Ausgang.3 In Kongo-Kinshasa konnte Laurent-Désiré Kabila Mobutu Sésé-Séko nur mit Waffengewalt ablösen. Seit 1979 lebt der Tschad im Takt der militärischen Eroberungsfeldzüge verschiedener Kriegsherren gegen N'Djamena. Doch wie man im Moment am Beispiel Idriss Déby sehen kann, statten die um Stabilität besorgten Großmächte diese Kriegsherren ohne Zaudern mit dem mißbrauchten Titel des Präsidenten der Republik aus. Die Selbstzerstörung Kameruns, das lange Zeit als das meistversprechende Land Zentralafrikas galt, erklärt sich in Zeiten des Mangels an öffentlichen Geldern durch den Kampf zwischen Männern und Klans um einen Teil der höfischen Privilegien, die sich der Klan des Präsidenten Paul Biya gesichert hat.

Im Niger, wo Ende 1992 eine an die Verfassung der französischen Fünften Republik angelehnte Konstitution verabschiedet worden ist, entstanden die Unruhen von Januar 1996 aus der Weigerung des drei Jahre vorher ordnungsgemäß gewählten Präsidenten Mahamane Ousmane, sich mit dem Gedanken anzufreunden, daß seine Partei die Parlamentswahlen verloren hatte.

Die Liste solcher Beispiele läßt sich beliebig verlängern. Die allgemeine Wahl des Staatspräsidenten begünstigt autokratische Regime, Willkür und die Aneignung öffentlicher Gelder durch den Klan des Siegers. Gleichzeitig bildet sie ein dauerhaftes Hemmnis bei der Herausbildung einer Legitimität parlamentarischer Einrichtungen.

Die derzeitige Stagnation beziehungsweise der tragische Rückschritt Schwarzafrikas fußt demnach zweifellos auf einer völlig falschen Auffassung vom Staatsbegriff. Ohne Rückbesinnung auf die Grundlagen des modernen Staats wird keinerlei Fortschritt möglich sein. Unter dem Rechtsstaat versteht man eine kollektive Organisationsform, die nicht auf der Willkür eines Herrschers und auf Zwang beruht, sondern auf bekannten, systematisch gegliederten und gleichbleibenden Regeln, die von Regierten wie Regierenden eingehalten werden. Die Juristen glauben, die Grundlagen des Rechtsstaats lägen in der technischen Verfeinerung derjenigen Institutionen, die die Regeln beschließen, ihre Anwendung überwachen, die von ihnen aufgeworfenen Streitigkeiten richten und die Beachtung der Hierarchie der Rechtsnormen sichern.

Der Zwang zum Konsens

OHNE die Bedeutung der institutionellen Mechanismen zu leugnen, müssen wir das „Geheimnis“ des Rechtsstaats doch anderswo suchen: in einer Analyse der Legitimität, aufgrund derer die Regeln eingehalten und angewandt werden. Diese Legitimität beruht auf zwei Grundlagen, die in Afrika völlig mißachtet werden: den demokratischen Vorgehensweisen bei der Erarbeitung der Regeln und der Achtung der republikanischen Werte bei ihrer Anwendung, mit anderen Worten: auf der Demokratie und der Republik.

Die repräsentative Demokratie läßt sich nicht auf freie Meinungsäußerung und freie Wahlen reduzieren. Sie bedeutet die friedliche Erarbeitung eines Kompromisses (und nicht eines Konsenses) zwischen den manchmal entgegengesetzten Erwartungen diverser gesellschaftlicher Schichten mit unterschiedlichen, manchmal widersprüchlichen Interessenlagen. In den Industriegesellschaften standen am Ursprung dieser Form der Demokratie ein Jahrhundert lang die gegensätzlichen Interessen derer, die sich stark fühlten (die Unternehmer) und Handlungsfreiheit forderten, und derer, die sich schwach fühlten (die Lohnabhängigen) und eine gleiche Verteilung der Güter verlangten.

Daß sich in den nichtindustrialisierten Gesellschaften, die noch nach Familienklans oder ethnischen Gruppierungen statt nach gesellschaftlichen Klassen strukturiert sind, ein solcher soziopolitischer Gegensatz noch kaum herausgebildet hat, macht die Übertragung der demokratischen Mechanismen um so schwieriger – sie werden sofort im Rahmen der Klanauseinandersetzungen eingesetzt, bei denen es um den Zugriff auf die mit der Macht verbundenen materiellen Privilegien geht. Diese Situation resultiert aus objektiven gesellschaftlichen Strukturen – dem Weiterbestehen von Gruppensolidarität und der schwachen Entwicklung der sozioökonomischen Widersprüche – und widersteht somit allen Prinzipienerklärungen und moralischen Appellen, um die die afrikanischen Eliten seit mehr als dreißig Jahren nicht verlegen sind. Ohne das Eingeständnis der Existenz von Konflikten innerhalb einer Gesellschaft kann es jedoch weder wirkliche Demokratie noch eine echte politische Debatte geben.

Es ist daher wesentlich, in den Parlamenten entschlossen die demokratische Vertretung der sich heute herausbildenden sozioökonomischen Antagonismen zu organisieren – Bauern/ Viehzüchter/ Geschäftsleute/ Handwerker/ Beamte/ Unternehmer und so weiter – sowie ebenfalls die Vertretung der noch vorherrschenden Divergenzen unter Gruppen, die als peinlich erachtet und daher offiziell unter den Teppich gekehrt werden. Diese parlamentarische Vertretung muß zur einzigen Legitimitätsquelle der Exekutive werden. Der Staatschef darf nicht mehr durch allgemeine Wahlen bestimmt werden; er soll nach einem Verfahren ausgewählt werden, das ihm eine zweitrangige Legitimität zugesteht, in Übereinstimmung mit der geringen Bedeutung der Funktionen, die ihm die Verfassungen übertragen sollten. Daneben muß es einen Regierungschef geben, der die tatsächliche politische Macht ausübt, denn er ist vor dem Parlament verantwortlich, das die Vielfalt der Interessen vertritt.

Die afrikanischen Staaten müssen entschieden dem süßen Gift des Präsidialsystems entsagen, das man unglücklicherweise nach dem Vorbild de Gaulles interpretiert hat. Sie müssen die Logik des auf der Vertretung von Interessenkonflikten beruhenden parlamentarischen Systems wiederentdecken. Seit 1986 gibt im übrigen Frankreich selbst immer öfter ein lehrreiches Beispiel dafür – während der Zeiten der Kohabitation zwischen dem Präsidenten und der ihm entgegengesetzten Regierungsmehrheit samt Premierminister. Dies macht den archaischen Charakter der Regierungsperioden des „republikanischen Monarchen“ deutlich.

Die Demokratie ist also ein Prozeß der Erarbeitung von Rechtsregeln, ausgehend von einem Kompromiß zwischen den antagonistischen Erwartungen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen. Die Republik hingegen ist die Gesamtheit der Werte, von denen die egalitäre Anwendung der so erarbeiteten Regeln bestimmt sein muß, nach dem großen, heute noch revolutionären Prinzip der Gleichheit der Regierten vor dem Gesetz. Diese Gleichbehandlung ist der Grundpfeiler der republikanischen Werte und eine allzu oft verkannte Grundlage der Legitimität und folglich der Beachtung der Rechtsnorm. Sie kann nur durch institutionelle Vorkehrungen garantiert werden, die emotionale Bindungen zwischen Verwaltern und Verwalteten verhindern. Dies wird durch Distanz und Anonymität erreicht, die Vorbedingungen für die Herausbildung jener funktionalen Ethik, die an die Stelle der für vorindustrielle Gesellschaften charakteristischen Beziehungsethik treten soll.

Auch in dieser Hinsicht stellt sich den afrikanischen Völkern eine gewaltige Aufgabe: die Neugestaltung von Verwaltungen, die seit langem unfähig sind, eine gleichberechtigte Anwendung der Rechtsregeln zu gewährleisten. Die Geberländer haben sich zur Marginalisierung der von ihnen als nicht reformierbar angesehenen Zentralgewalten entschlossen und in Afrika eine Bewegung für eine Dezentralisierung und eine Aufwertung der gewählten lokalen Vertreter gefördert. Dies darf jedoch nicht über die Notwendigkeit hinwegtäuschen, eine dezentralisierte Verwaltung (wie die französischen Präfekturen) neu aufzubauen, sorgfältig auszubilden und zu leiten sowie mit den Mitteln auszustatten, die zu einer wirksamen Arbeit nötig sind.

In Afrika könnten Demokratie und Republik, neu entdeckt und den Besonderheiten der Gesellschaft eines jeden Landes angepaßt, die Grundlage für ein neues Staatswesen bilden. Doch eine solche Erneuerung ist nur möglich, wenn die allgemeine Wahl des Staatspräsidenten abgeschafft wird. Sie ist der Ausgangspunkt jeder autoritären Fehlentwicklung und allen Machtmißbrauchs. Sie muß ersetzt werden durch eine weniger feierliche Form der Wahl, die den Staatschef in die ihm zustehende, weitaus bescheidenere Rolle drängt – zum Vorteil der Mechanismen der repräsentativen Demokratie.

dt. Christiane Kayser

* Dozent an der Universität Guayanas und der Antillen.

Fußnoten: 1 Die „Communauté Fran,caise“ wurde von Frankreich und der Mehrheit der Territorien seines ehemaligen Kolonialreichs im Rahmen der neuen Verfassung vom 4. Oktober 1958 gebildet. Sie sollte die „Union Fran,caise“ ersetzen. 2 Siehe dazu Martine-Renée Gallois und Marc- Eric Gruénais, „Afrika holt seine Diktatoren aus der Urne“, Le Monde diplomatique, November 1997. 3 Siehe dazu Martine-Renée Gallois und Marc- Éric Gruénais, „Kongo: Macht der Waffen“, Le Monde diplomatique, November 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.01.1998, von THIERRY MICHALON