Die schmutzige Zukunft der sauberen Energie
DASS Frankreich auf der Konferenz von Kioto vorbildlich niedrige Werte der Kohlendioxidemission vorweisen konnte, hat auch mit der Stromerzeugung durch Atomenergie zu tun. Doch die scheinbar „saubere“ Energie birgt große Risiken, wie die technischen Problemen zeigen, die sich beim Abbau des Reaktors Superphénix ergeben. Die Beschwichtigungen der Atomlobby, die in Frankreich besonders mächtig ist, können nicht kaschieren, daß die Regierung keine befriedigende Lösung zur Entsorgung des Atommülls zu bieten hat. Damit befindet sie – unter Ausschaltung der demokratischen Öffentlichkeit – über das Schicksal der betroffenen Bevölkerung und künftiger Generationen.
Von DAVID BOILLEY *
Vor kurzem wurden in den Departements Vienne, Gard und an der Grenze zwischen den Departements Meuse und Haute-Marne drei Anhörungsverfahren zur Errichtung eines Laboratoriums durchgeführt, das die unterirdische Lagerung von radioaktiven Abfällen in Frankreich untersuchen soll.1 Damit ist die Suche nach einem geeigneten Ort für die Lagerung hochradioaktiven Mülls mit langer Halbwertszeit – aus militärischen und zivilen Atomreaktoren und aus der Wiederaufbereitung atomarer Brennelemente – in eine entscheidende Phase eingetreten.
Die Anhörungen – für die Bürger eine der seltenen Chancen, ihre Meinung zu äußern – lösten keinerlei überregionale Diskussionen aus, denn die Medien hatten nur sehr zurückhaltend berichtet, insbesondere was die Demonstrationen von Tausenden Teilnehmern in Chaumont und Bar-le-Duc am 8. März 1997 betrifft, aber auch die Besetzung des Rathauses von Pleuville (Vienne) durch Gegner des Projekts. Dabei sprengt das Problem bei weitem den regionalen Rahmen, auf den sich die gegenwärtigen Auseinandersetzungen beschränken. Kein Land hat bisher eine Lösung für den Umgang mit dem Atommüll gefunden, der teilweise noch Millionen Jahre lang radioaktiv bleiben wird und die Atomindustrie vor gewaltige Entsorgungsprobleme stellt.
Im übrigen herrscht Unklarheit darüber, welche Art Atommüll eigentlich unterirdisch gelagert werden soll. Für manche Länder, etwa Schweden oder die Vereinigten Staaten, stellen die verbrauchten Brennelemente bereits den Endmüll dar, während in Frankreich ein Teil zur Gewinnung von Plutonium und Uran wiederaufbereitet wird: Von den 1200 Tonnen, die alljährlich in den französischen Reaktoren durch neue Brennelemente ersetzt werden, gehen 850 Tonnen nach La Hague, wo sie in der Anlage der Compagnie générale des matières nucléaires (Cogéma) wiederaufbereitet werden. Erst was hiervon übrig bleibt, ist Endmüll.
Über den beziehungsweise die beiden Standorte, die zur Errichtung eines unterirdischen Laboratoriums in Frage kommen, wird nach einem Verfahren entschieden, das nun bereits mehr als zehn Jahre dauert. Nach Demonstrationen und heftigem Widerstand vor Ort verfügte im Februar 1990 der damalige Premierminister Michel Rocard ein Moratorium in den fünf anvisierten Departements.2 Zum Vermittler wurde Christian Bataille, ein Abgeordneter aus dem Norden, ernannt. Dessen Bemühungen mündeten in das Gesetz vom 30. Dezember 1991 zur Erforschung von Entsorgungsmöglichkeiten für radioaktive Abfälle und zur Initiierung von entsprechenden Forschungsprogrammen. „Ich habe mich dafür entschieden, die gängige Vorgehensweise umzukehren. Statt die Standortauswahl allein auf wissenschaftliche und geologische Erwägungen zu stützen, habe ich freiwillige Bewerbungen angeregt, die dann alle einer geologischen Überprüfung unterzogen werden“, erläutert Bataille in seinem Bericht3 . „Wir haben rund dreißig Bewerbungen erhalten, von denen etwa zehn vom geologischen Standpunkt aus unbedenklich sind.“ Als ein gewisser Anreiz wirkten dabei sicherlich die in Aussicht gestellten 60 Millionen Franc (umgerechnet knapp 20 Millionen Mark) pro Jahr für „begleitende Maßnahmen und lokale Entwicklung“.
Den Bock zum Gärtner machen
DIE für die Untersuchungen zuständige Staatliche Agentur zur Entsorgung radioaktiver Abfälle (Andra) hat schließlich drei Standorte benannt, zu denen eine öffentliche Anhörung durchgeführt wurde: La Chapelle-BÛton (Vienne), Marcoule (Gard) und Bure (Meuse). Erwartungsgemäß bekamen alle drei Standorte grünes Licht. Die Regierung wird die endgültige Auswahl von ein oder zwei Standorten für das Labor vornehmen, nachdem entsprechend der gesetzlichen Vorschrift die Bevölkerung zugestimmt hat. Die Bohrarbeiten müßten 1998 und die Forschungen im Jahr 2001 beginnen, 2006 könnten die ersten Resultate vorliegen. Nach Aussagen eines Vertreters der Andra wird man diesen Zeitplan allerdings nicht einhalten können.
Fünf Jahre Zeit also, um darüber zu entscheiden, ob der Standort geeignet ist, Atommüll für Millionen Jahre sicher aufzubewahren. „Einer der in die engere Wahl kommenden Laborstandorte könnte schließlich dem Parlament für die Errichtung eines Endlagers vorgeschlagen werden“, erklärt die Direction de la sûreté des installations nucléaires (Sicherheitsbehörde für atomare Einrichtungen, DSIN). Doch schon jetzt „erscheint unter Sicherheitsaspekten ein Standort als besonders geeignet: der im Osten“4 . Sind die Würfel also schon gefallen?
In jeder Phase der Energiegewinnung – von der Uranerzmine bis zum Kraftwerk – entsteht Abfall, der im allgemeinen nach Radioaktivität und Halbwertszeit klassifiziert wird. Nur für schwach radioaktive Stoffe mit kurzer Halbwertszeit (unter dreißig Jahre) wurde bereits ein Endlager gefunden: Sie werden in Soulaines-Dhuys (Aube) oberirdisch gelagert. Dieser Standort löst den im Departement Manche ab, den die Andra notgedrungen schließen mußte, weil von den 530000 Kubikmetern Atommüll, die hier eigentlich auf ewig lagern sollen, bereits Radioaktivität entweicht und die Umwelt belastet.5 Das Lager im Aube ist achtmal so groß, und die Lagerung ist auf dreihundert Jahre befristet. Bei diesem Paradestück der Andra muß erst fünf Jahre nach Inbetriebnahme eine Volksbefragung über die Ableitung radioaktiver Abwässer an die Umgebung abgehalten werden. Auch konnte bis jetzt niemand den ersten Sicherheitsbericht zu Gesicht bekommen.
In anderen Ländern – wie Schweden, Finnland und Deutschland – werden solche Abfälle teilweise tief unter der Erdoberfläche gelagert. Diese Lösung ist jedoch für die 50 Millionen Tonnen Abfallgestein, die sich im Laufe des vierzigjährigen Uranerzabbaus in Frankreich angehäuft haben, unpraktikabel und zu teuer. In Deutschland liegen allein in den Lagerstätten bei Helmsdorf und Culmitzsch 50 beziehungsweise 86 Millionen Tonnen, weltweit sind es etwa 6 Milliarden Tonnen. Diese Abfälle sind zwar nur schwach radioaktiv, enthalten aber strahlende Elemente von sehr langer Lebensdauer, zum Beispiel 75000 Jahre im Fall von Thorium 230. Zudem entweicht beim Zerfall des Urans das giftige Gas Radon, was die Lagerung beziehungsweise Zwischenlagerung weiter erschwert. Diese Art Abfall wird meist in ehemaligen Tagebaugruben oder in abgedeckten Becken gelagert, bis eine bessere Lösung gefunden wird, die das Risiko der Freisetzung radioaktiver Stoffe durch Erosion oder Versickern vermeidet.6 In Gabun wurden die Abfälle bis 1975 von der Comuf, einer Tochtergesellschaft der Cogéma, direkt in das Bett des Ngamabungu-Flusses geleitet.7
Die schwach radioaktiven Abfälle, die bei der Demontage atomarer Einrichtungen anfallen, sind ein zusätzliches großes Problem. In Frankreich rechnet man mit 15 Millionen Tonnen, für die man eine weniger kostenintensive Lösung finden muß. Ein Teil soll „recycelt“ werden, danach läge die Radioaktivität unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte und würde mithin ganz legal zu normalem Müll. Ein entsprechender Gesetzentwurf löste aber einen so heftigen Proteststurm aus, daß ihn das französische Parlament zurückziehen mußte. Unterdessen gibt es jedoch Grenzwerte, die auf der EU-Gesetzgebung beruhen8 und nun zunehmend bei der Beseitigung von industriellem Sondermüll zur Anwendung kommen. Daher dürfte bald eine „Banalisierung“ sehr schwach radioaktiver Abfälle beginnen, ohne daß die Bevölkerung, die doch den unmittelbaren Folgen ausgesetzt ist, dazu befragt würde. Für Nuklearabfälle, die die Grenzwerte übersteigen, denkt man an überirdische Lagerzentren.
Die USA wollen denselben Weg einschlagen. Die Verbreitung von kontaminiertem Material kann jedoch unabsehbare gesundheitliche Auswirkungen haben. Aber solange nichts bewiesen ist, existieren die schädlichen Folgen für die Betreiber der Atomindustrie einfach nicht.
Bei den hochradioaktiven und langlebigen Abfällen, um die es bei den jüngsten Anhörungen vor allem ging, zeichnet sich ein internationaler Konsens für eine unterirdische Lagerung ab, auch wenn die Fortschritte bei der Suche nach geeigneten Stätten von lokalen politischen Faktoren abhängen. Als Hauptargument verweist man gewöhnlich auf den Schutz künftiger Generationen.9 Doch ist dieses Argument nicht stichhaltig, insofern man mit der unterirdischen Lagerung erst dann beginnen kann, wenn die Suche abgeschlossen ist, also lange nachdem die gegenwärtig laufenden Kraftwerke stillgelegt sein werden. Und für das Wohlergehen der ganz fernen Generationen sollte man besser auf Nummer Sicher gehen, als der Wissenschaft zu vertrauen.
Das französische Gesetz vom 30. Dezember 1991, das die Untersuchungen zur Entsorgung radioaktiver Abfälle regelt, sieht außer Forschungen zur unterirdischen Lagerung auch Studien über die Abtrennung der gefährlichsten radioaktiven Elemente mit langer Halbwertszeit vor sowie solche über ihre Wiederaufbereitung und über „Verfahren zur Konditionierung und langfristigen Zwischenlagerung dieser Abfälle an der Erdoberfläche“. Eine staatliche Evaluierungskommission (CNE) wurde eingerichtet, die alljährlich einen Bericht über den Fortschritt der Untersuchungsarbeiten veröffentlicht. Bis spätestens zum Jahre 2006 „wird die Regierung dem Parlament einen umfassenden Evaluierungsbericht über die Untersuchungen vorlegen sowie gegebenenfalls einen Gesetzentwurf über die Einrichtung eines Lagers für hochradioaktive Abfälle mit langer Halbwertszeit.“
Die vom Gesetz vorgeschlagenen Verfahren der Trennung und Wiederaufbereitung werden manchmal als Recycling der radioaktiven Abfälle dargestellt, das eine Alternative zur Endlagerung bieten könnte. Allerdings berücksichtigen die Untersuchungen „weder die in Glaskokillen verschmolzenen noch die mit Bitumen versetzten und in Fässer eingegossenen, noch die lose zwischengelagerten Abfälle der Kategorie B“, wie die CNE in ihrem ersten Bericht anmerkt. Die genannten Verfahren können also erst bei den abgebrannten Brennstoffen einer eventuellen neuen Reaktorgeneration eingesetzt werden, nicht aber bei den derzeit akkumulierten Abfällen.
Zur Trennung bestimmter Bestandteile der verbrauchten Energieträger sind komplexe chemische Verfahren erforderlich. Die aktuelle Forschung zielt vor allem darauf ab, die Wiederaufbereitungskapazitäten der Anlage in La Hague zu verbessern. Die Wiederaufbereitung, die den Einsatz von Atomreaktoren erfordert, dient zur nachträglichen Rechtfertigung von Schnellen Brütern. Die Castaing- Kommission, die 1996 den Auftrag hatte, die Eignung des Superphénix als Verbrennungsanlage zu evaluieren, hat betont, man sei sich zwar bewußt, daß die Untersuchungen „an einem speziell auf diese Aufgaben zugeschnittenen Reaktor viel befriedigendere Bedingungen geboten hätten. (...) Ein solcher Versuchsreaktor käme aber (...) zu spät, um zu dem im Gesetz vorgesehenen Zeitpunkt, also 2006, Resultate zu liefern, welche die zu erwartenden Diskussionen erhellen könnten.“ Insofern sei „der enge Rahmen des geplanten Programms“ zur Beseitigung des Atommülls „zu bedauern“. Nach einem Bericht, den der Rechnungshof vor Lionel Jospins Entscheidung über die endgültige Stillegung des Superphénix veröffentlichte, hätte der Reaktor, der insgesamt 60 Milliarden Franc gekostet hat, von 1995 bis zum Jahr 2000 7 Milliarden Franc an Betriebskosten verschlungen... Was die anderen Forschungen angeht, so hätten sie niemals bis 2006 zu einem Resultat geführt.
Japan hat ein ähnliches Forschungsprogramm gestartet, doch ein Unfall im Schnellen Brüter von Monju, der sich im Dezember 1995, nur wenige Monate nach Inbetriebnahme, ereignete, hat diesen Reaktortyp überhaupt in Frage gestellt. Die Explosion in der Wiederaufbereitungsanlage von Tokaimura im März 1997 könnte sein endgültiges Ende bedeuten. In den USA ist es dem Komitee für Trennungstechnologien und Wiederaufbereitungssysteme (Stats) nicht gelungen, den Nutzen dieser Verfahren für die Praxis zu beweisen. Es kam zu der Schlußfolgerung, man müsse an der Nichtwiederaufbereitung als der derzeit billigsten Lösung10 festhalten.
In Frankreich schätzt die Elektrizitätsgesellschaft EDF die Kosten für das „Recycling“ von Plutonium auf 15 Milliarden Franc pro Jahr, etwa 4 Centimes pro Kilowattstunde. Dieses Verfahren belastet zudem in hohem Maße die Umwelt. Eine Forcierung der Wiederaufbereitung würde diese Kosten weiter ansteigen lassen. Für die bis heute angehäuften Abfälle bleiben also nur die unterirdische Lagerung oder die oberirdische Zwischenlagerung für einen mehr oder weniger langen Zeitraum. Dieser Alternative scheinen die Umweltschützer den Vorzug zu geben, doch werden die entsprechenden Möglichkeiten in Frankreich kaum erforscht: Hier hat „das Gesetz, anders als in bezug auf die übrigen Lösungswege, weder nennenswerte Forschungsfortschritte noch einen deutlichen Sprung in der technischen Entwicklung bewirkt“11 . In allen Ländern bevorzugt die Industrie anscheinend die „geologische Entsorgung“, obgleich man sich noch im Untersuchungsstadium befindet und daher bis heute kein einziges unterirdisches Endlager existiert.
Grundsätzlich kann man zwei Arten unterirdischer Laboratorien unterscheiden: Die einen werden speziell zur Erforschung der unterirdischen Müllagerung gebaut, die anderen werden in bereits existierenden Stollen, zumeist stillgelegten Bergwerken, eingerichtet. Im ersten Fall ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß das Laboratorium später in eine Lagerstätte umgewandelt wird, wie dies in Frankreich der Fall ist. Daher wurde im schwedischen Aspö die Errichtung eines Laboratoriums von der Verpflichtung abhängig gemacht, es nach Abschluß der Untersuchungen zu schließen. Der zukünftige Standort wird anderswo errichtet, doch wie groß soll die Entfernung sein? In der Schweiz wird ein internationales Labor im technischen Stollen eines Staudamms am Grimsel-Paß eingerichtet; ein weiteres wurde soeben in einem in Bau befindlichen Autobahntunnel eröffnet.
In Frankreich gibt es schon solche kleinen Labors, etwa das in Tournemire, betrieben vom Institut de protection et de sûreté nucléaires (Institut für nukleare Sicherheit, IPSN). Der Umfang grundlegender Erkenntnisse, die in solch kleinen Labors noch ermittelt werden müssen, ist enorm. Daher wäre es verfrüht, bereits neue Laboratorien in industriellem Maßstab zu errichten, wie sie von der Andra geplant sind, vor allem, wenn man sich die Kosten vor Augen hält: zwischen 1,2 und 1,8 Milliarden Franc, Betriebskosten und begleitende Maßnahmen nicht eingerechnet.12
Im erdbebengefährdeten Japan ist ein sicherer Standort nicht leicht zu finden. Es ist zu befürchten, daß der Bau der Zwischenlagerstätte von Rokkasho-mura als Folge des Erdbebens vom Dezember 1994 bereits jetzt Risse aufweist. Presseberichten zufolge hat die benachbarte Urananreicherungsanlage mehr als sechzig Risse, die oberflächlich zugekleistert wurden. Als einfachere Lösung bietet sich für Japan damit der Müllexport ins Ausland an.
Diese Lösung praktiziert Taipeh, das gerade einen Vertrag mit Nord-Korea über die Zwischenlagerung von 60000 Fässern radioaktiver Abfälle in einem stillgelegten Kohlebergwerk unterzeichnet hat. Seit fünfzehn Jahren werden diese Fässer gegen den Willen des Tao-Volkes auf der Orchideeninsel vor der taiwanesischen Küste gelagert. Wenn es tatsächlich zu diesem Mülltransfer kommt, wird der Transport von radioaktivem Material wohl nicht mehr zu bremsen sein. Taiwan verhandelt offenbar auch mit Rußland und der Volksrepublik China über die Lagerung von hochradioaktivem Müll. China wiederum scheint die autonome Provinz Tibet als Deponie für seine Abfälle zu benutzen.
Auf der Südhalbkugel mangelt es zwar nicht an potentiellen Entsorgungsstandorten, doch untersagen die Lomé-Verträge den Export von gefährlichen Abfällen aus den 15 EU-Ländern in die AKP-Staaten (Länder des afrikanischen, karibischen und pazifischen Raums).
Das Problem muß also innerhalb der EU gelöst werden. Manche Staaten würden die radioaktiven Abfälle am liebsten als normales Handelsgut betrachten, für das keine Grenzen gelten. Vor allem kleine Länder wie die Niederlande träumen von zentralen europäischen Lagerungsstätten13 . Schweden und Frankreich lehnen solche Lösungen ab. Paragraph 3 des Gesetzes vom Dezember 1991 bestimmt, daß „die Lagerung von importiertem radioaktivem Müll in Frankreich über die technisch bedingte Dauer der Wiederaufbereitung hinaus untersagt ist, selbst wenn die Wiederaufbereitung im Lande erfolgte“. Dieses Verbot wurde bereits verletzt: In La Hague sind ausländische Abfälle gelagert, die bei der Wiederaufbereitung anfielen und längst ins Herkunftsland hätten zurückgeschickt werden können. Ganz zu schweigen von dem Atommüll, den die Cogéma aufgrund früherer Verträge importiert hat und die noch keine Rücktransportklausel enthalten.
Mehr Polizisten, steigende Kosten
ALLEIN das Polizeiaufgebot, das den ersten Rücktransport von aufbereitetem, in Glas eingeschmolzenem Abfall im Castorbehälter nach Deutschland begleiten mußte, kostete den Steuerzahler 55 Millionen Mark. Beim zweiten waren die Kosten bereits auf 90 Millionen Mark gestiegen, und beim letzten, im März 1997, zu dessen Eintreffen in Gorleben sich rund 10000 Demonstranten versammelt hatten, auf 150 Millionen Mark. Insgesamt sind ungefähr hundert solcher Transporte vorgesehen. Die Cogéma hofft, weitere 5 Prozent kompakteren Atommülls im Castor zurückzuschicken, die hochvolumigen Abfälle wird sie dagegen behalten müssen. Für dieses Material würden dann zwar Grenzwerte für die Radioaktivität gelten, dafür aber keine quantitativen Begrenzungen. Der britische Konkurrent BNFL bietet einen solchen Service schon offiziell an ...
Diese Art von Zweiteilung ist bereits in vollem Gange: In La Hague weisen die im Lager in der Manche zwischengelagerten technologischen Abfälle ein zehnmal größeres Volumen auf als die Materialien, die am Ende zurücktransportiert werden sollen.14 Ein Vertrag über den Austausch von hochradioaktivem und schwach radioaktivem Müll wurde angeblich auch schon zwischen Belgien und Spanien abgeschlossen.
Die Entgleisung eines Zugs mit abgebrannten Brennelementen im Departement Moselle15 hat vor kurzem wieder daran erinnert, daß alljährlich etwa hundert solcher Konvois die deutsche Grenze passieren, ein Viertel davon geht in Richtung Großbritannien. Das IPSN schätzt die Anzahl der Konvois mit abgebrannten Brennelementen, die in Frankreich unterwegs sind, pro Jahr auf rund 450. Nach der Wiederaufbereitung wird das Plutonium, dessen Gefährlichkeit bekannt ist, von La Hague zur belgischen Anlage in Dessel und zu den französischen in Marcoule und Cadarache transportiert. Ab 2000 sind jährlich mindestens 117 Konvois vorgesehen.16 Später werden dann noch die Mülltransporte zu den Endlagerstätten dazukommen.
In Frankreich spricht man zur Zeit grundsätzlich nur von unterirdischen Laboratorien und nicht von zentralen Lagerstätten. Die öffentlichen Anhörungen sollen die Meinung der Bevölkerung ermitteln und ihre Fragen beantworten. Sie werden nur zwei Monate dauern, und Bürger, die angesichts der ungünstigen Öffnungszeiten der Gemeindeämter den Fragebogen zu Hause studieren möchten, müssen dafür circa 6700 Franc (etwa 2200 Mark) zahlen.
Die Andra hingegen hat genügend Geld, um ganzseitige Werbeseiten zu schalten und lokale Aktionen zu unterstützen: An jedem Standort stellte der Präfekt jährlich 5 Millionen Franc für Projekte zur Verfügung, hier für die Restauration eines Kirchturms und dort für den Bau eines Gemeindesaales. Sobald es jedoch darum geht, das anständige Funktionieren demokratischer Prozesse zu ermöglichen, sind die Kassen leer.
In Großbritannien wurde eine fünfmonatige öffentliche Anhörung zur geplanten Eröffnung eines unterirdischen Laboratoriums in Sellafield (West Cumbria) durchgeführt, was die „Friends of the Earth“ dazu veranlaßte, eine Gegenexpertise17 zu erstellen, zu der zahlreiche namhafte unabhängige Wissenschaftler beitrugen. Nachdem ein internes Gutachten bekannt wurde, welches aufzeigte, daß die Betreiberfirma Nirex mindestens die zehn- bis hundertfache Datenmenge benötigen würde,18 bevor sie ein Labor betreiben könnte, lehnte die Regierung das Projekt ab. Die Verbände fordern ein Moratorium von zehn Jahren.
Derartiges ist in Frankreich offenbar unmöglich, wo der Präsident der Kommission zur Anhörung über zwei Standorte (im Osten und im Departement Vienne) in der Lokalpresse eine Durchleuchtung der unbequemen Verbände gefordert hat: „Sicherlich würden öffentliche Nachforschungen über gewisse Verbände, ihre Ziele, die tatsächliche Zahl ihrer Mitglieder und ihre Finanzquellen erstaunliche Fakten ans Tageslicht bringen. Eine solche Art Umfrage, die schließlich auch die Umwelt betreffen würde, sollte ins Auge gefaßt und ausgearbeitet werden.“19
Derselbe Funktionär hat bereits im Zuge einer früheren Anhörung zur Schließung des Lagers in der Manche seine Voreingenommenheit demonstriert, als sich die Andra bemühte, den tatsächlichen Zustand des Lagers und seine Auswirkungen auf die Umwelt zu vertuschen. Nach den Enthüllungen der Association pour le contrôle de la radioactivité dans l'Ouest (Vereinigung zur Kontrolle der Radioaktivität im Westen, ACRO) – eines unabhängigen Instituts – über das hohe Sicherheitsrisiko20 bestellte die Regierung von einer neuen Kommission unabhängiger Experten einen weiteren Bericht.21 Dessen Ergebnis widersprach den Resultaten der öffentlichen Anhörung, die nun wiederholt werden muß.
Die Kommission war zu dem schwerwiegenden Schluß gekommen, daß die fragliche Mülldeponie auf ewige Zeiten existieren würde, da dort zahlreiche Elemente mit langer Halbwertszeit sowie 27000 Tonnen Blei lagern. Das stand im Gegensatz zu den Vorstellungen der Andra, der zufolge die Abfälle in dreihundert Jahren ungefährlich sein werden. Dieser Widerspruch war für die Andra so unerträglich, daß sie die ACRO verklagte.
Wie stets bei Angelegenheiten, die mit Atomenergie zu tun haben, kommt in den Untersuchungsberichten der Enquetekommissionen die Meinung der Bevölkerung so gut wie überhaupt nicht vor. Im Departement Vienne findet sich im Untersuchungsbericht nur der lakonische Satz: „Da es sich um Feststellungen der Mitglieder der Enquetekommission handelte, fanden die befragten Organisationen und Einzelpersonen dies Anlaß genug, sie zu korrigieren.“
Diese ganzen Verfahren verlaufen so, als müßten die unterirdischen Lager um jeden Preis errichtet und eine Lösung in möglichst kurzer Zeit gefunden werden. Dabei handelt es sich hier um Angelegenheiten, die für die Bürger zutiefst beunruhigend sind. Manche Staaten haben sogar den Bau von neuen Atomkraftwerken untersagt, solange die Probleme der Entsorgung des Atommülls nicht gelöst und wirklich beherrschbar ist. Die bedingungslosen Befürworter der Kernenergie setzen hingegen alles daran, möglichst bald behaupten zu können, daß sie über sichere Lösungen verfügen, da sie die vorhandenen Einrichtungen erneuern wollen. Bis dahin hofft die EDF, daß sie die Lebensdauer ihrer gegenwärtig betriebenen Kernkraftwerke auf mindestens vierzig Jahre verlängern kann.
Das Entsorgungsproblem macht die atomare Stromerzeugung im Vergleich zu anderen Energiequellen zwangsläufig immer teurer. So ist zum Beispiel das Erdgas, das in Kombikraftwerken (Kraft- Wärmekoppelung) eingesetzt wird, heute bereits viel billiger, es erfordert geringere Investitionen, und auch seine Nutzung ist wesentlich einfacher.
Für die Kernindustrie steht also viel auf dem Spiel: Auch wenn zahlreiche europäische Staaten im Begriff scheinen, auf diese Energiequelle aus Kostengründen zu verzichten, macht die Industrie sich immer noch Hoffnungen auf eine Erneuerung der vorhandenen Anlagen und auf die Entstehung neuer Atomenergiemärkte auf der ganzen Welt.
Doch unabhängig von den Energiequellen, für die sich die einzelnen Staaten entscheiden werden, bleibt das Problem des bis heute angefallenen Atommülls bestehen. Um so wichtiger ist es, daß die entsprechenden Untersuchungen unter Bedingungen demokratischer Transparenz durchgeführt werden.
dt. Andrea Marenzeller
* Physiker, Vereinigung zur Kontrolle der Radioaktivität im Westen (Acro).