Seelsorge auf Reisen
Der Besuch von Papst Johannes Paul II. in Kuba, vom 21. bis 25. Januar, ist ein politisches Ereignis von größter Bedeutung. Fidel Castro sieht in dem Besuch einen Sieg über die Politik der Ächtung seines kommunistischen Regimes, ferner möchte er sich mit der katholischen Welt aussöhnen und die Kirche in Kuba einbinden. Dennoch bedeutet es für ihn auch ein Risiko, einen Papst einzuladen, der zur Avantgarde des Antikommunismus und zu den Gewinnern des kalten Krieges zählte. Der Vatikan wiederum, dessen Diplomatie seit 1989 von Orientierungslosigkeit gekennzeichnet war, versucht die Papstreise zur Demonstration neuer Stärke zu nutzen. Die Medien schließlich versprechen sich vom Treffen der beiden letzten Giganten der internationalen Politik ein großes Spektakel mit Starbesetzung.
Von GIANCARLO ZIZOLA *
ENTGEGEN allen Erwartungen hatte der Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Zentral- und Osteuropa nur geringen Einfluß auf das diplomatische Wirken des Vatikans. Der Fall der Berliner Mauer, zu dem Johannes Paul II. unbestreitbar beigetragen hat, hätte den Papst dazu veranlassen können, sich vom internationalen Parkett, auf dem er sich seit Antritt seines Pontifikats im Oktober 1978 mit beispiellosem Geschick bewegt hatte, ein wenig zurückzuziehen. Doch statt des erwarteten Rückzugs hat der Heilige Stuhl seine diplomatischen Initiativen seit 1990 sogar ausgeweitet.
Diese Entwicklung mag insofern paradox erscheinen, als die römisch-katholische Kirche im Sinne der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils1 eigentlich gehalten war, nach und nach auf ihren Status als unabhängiger, souveräner Staat zu verzichten und sich auf eine eigenständige Rolle in der internationalen Politik zu konzentrieren. Der Vatikan maßt sich mit seiner Diplomatie tatsächlich nicht mehr an, als theokratisches Gebilde aufzutreten. Er akzeptiert den Pluralismus der demokratischen Gesellschaften und bedient sich bei seinen Aktivitäten nicht ausschließlich der offiziellen Kanäle seiner akkreditierten Vertreter, der Apostolischen Nuntien. Diese spielen inzwischen eine bescheidenere Rolle, obwohl sich die Zahl der Staaten, die beim Heiligen Stuhl vertreten sind, beträchtlich erhöht hat – unter Papst Leo XIII. zu Beginn des Jahrhunderts waren es 4, unter Paul VI. 87 und gegenwärtig 165. Sie beschränken sich zunehmend auf kircheninterne Aufgaben wie die Kommunikation zwischen den lokalen Kirchen und Rom, die Einhaltung der Lehre und der Disziplin sowie die Auswahl der Bischöfe. Sie kümmern sich nicht mehr allein um die Anliegen der Katholiken, sondern in erster Linie um die Rechte der Menschen allgemein.
Der Heilige Stuhl hat seine Diplomatie zwar entkonfessionalisiert, ist jedoch weit davon entfernt, auf aktives Eingreifen auf internationaler Ebene sowie in den sozialen und politischen Bereichen zu verzichten. Johannes Paul II. fühlte sich vielmehr veranlaßt, zu den Folgen der Globalisierung und der Krise der Ideologien, die sich wechselseitig bestärken, Stellung zu beziehen. Er zögerte nicht, sich ein neues Image zuzulegen und vom antitotalitären Widerstandskämpfer zum unbeugsamen Gegner jeglicher Irrungen einer Gesellschaft zu werden, die sich postmodern dünkt und ihre Bezugspunkte und ihre Werte eingebüßt hat.
KRITIK AM KAPITALISMUS UND VERTEIDIGUNG DER FÜR DIE ENTSORGUNG DER NUKLEAREN ABFÄLLE
Die neue Vatikandiplomatie ALTBEKANNTEN KATHOLISCHEN SOZIALMORAL
Getreu der Tradition seiner Soziallehre fühlt sich das Oberhaupt der katholischen Kirche zu einer gleichermaßen spirituellen wie politischen Mission auserkoren: Seine Botschaft soll jene Gesellschaften erleuchten, die dem zügellosen Liberalismus und dem Absolutismus der herrschenden politischen Ordnung ausgesetzt, einzig den Gesetzen des Profits und des Marktes unterworfen sind und dadurch Ideologie und Moral eingebüßt haben. Ohne die gepflegten Salons der Nuntiaturen aufzugeben, bewegt sich die Vatikandiplomatie heute in einem informelleren und komplexeren Beziehungsgeflecht.2 Tatsächlich spielen katholische Bewegungen wie „Gerechtigkeit und Frieden“ oder „Pax Christi“ eine wichtige Rolle in den internationalen Aktivitäten des Vatikans. Gleichzeitig hat dieser in den letzten Jahren immer häufiger internationale Konferenzen genutzt, um öffentliche Erklärungen abzugeben, etwa bei der Umweltkonferenz von Rio, der Bevölkerungskonferenz von Kairo oder der Frauenkonferenz von Peking. Offensichtlich geht es darum, in Fragen Stellung zu beziehen, die nach vatikanischer Meinung einer besonderen, christlich inspirierten ethischen Betrachtung bedürfen.
Johannes Paul II. hat zwar den politischen Aktionsradius der katholischen Kirche beträchtlich erweitert, scheint aber dennoch keine besondere Vorliebe für die Diplomatie zu hegen. Weitaus häufiger als seine Vorgänger verläßt er sich auf Expertentreffen in Rom oder auf Synoden3 , die die Strategie der Kirche in wesentlichen Punkten festlegen sollen. So berief er im Dezember 1991 nach dem Sturz des Kommunismus eine europäische Synode ein. Schon im Falklandkrieg 1982 hatte Johannes Paul II. die britischen und argentinischen Bischöfe konsultiert, und als 1994 die US-amerikanischen Bischöfe die Frage der atomaren Abschreckung aufwarfen, versammelte er im Vatikan die Vertreter des Episkopats der Nato-Länder, um deren Meinung einzuholen.
In zahlreichen Konflikten wurde in den letzten Jahren die Vermittlerrolle, die einst der Heilige Stuhl innehatte, von lokalen Bischöfen übernommen, etwa dem Kardinal Sin auf den Philippinen oder Monsignore Samuel Ruiz in Chiapas.4 Die Religionsgemeinschaft von Sant'Egidio, eine kanonische Laienvereinigung, vermittelt erfolgreich zwischen den Konfliktparteien in Mosambik, Burundi und Guatemala. Ihre Arbeit läßt ahnen, wie eine Form der zukünftigen Vatikandiplomatie aussehen könnte: getragen von Laien, deren diplomatisches Vorgehen im Vergleich zu Geistlichen mutiger ist und die weniger exponiert, kurzum freier sind.
Nach Ansicht des Vorsitzenden von Sant'Egidio, Professor Andrea Riccardi, besteht ein großer Teil der „Politik“ der Kirche mittlerweile aus den Reisen von Johannes Paul II.5 , der dabei als Seelsorger und nicht als Staatschef auftritt – die Funktionen, die mit der politischen Souveränität des Papstes zusammenhängen, hat er formell an seinen Staatssekretär delegiert. Darüber hinaus wurden bestimmte andere Institutionen des Vatikans wie die Kongregation für die Ostkirchen unter dem Vorsitz von Monsignore Achille Silvestrini oder der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden unter dem Vorsitz von Monsignore Roger Etchegaray mit bestimmten halbpolitischen Funktionen betraut. Die Aufgabe dieser Kardinäle ist es, im Namen des Papstes in den unterschiedlichen Bereichen einzuwirken, wo die Menschenrechte bedroht sind. Damit soll der Tätigkeit von Johannes Paul II. neben dem diplomatischen auch ein dezidiert soziales und humanitäres Image verliehen werden. Woran man sieht, wie sehr dem Papst daran gelegen ist, den traditionellen staatlichen Rahmen der Vatikandiplomatie neu zu bestimmen.
Glaubt man dem Staatssekretär des Vatikans, Monsignore Angelo Sodano, der mit den auswärtigen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls betraut ist, so befindet sich das moderne Papsttum – in seiner Verteidigung der Freiheit der Kirche und der spirituellen und moralischen Ordnung der Völker gegen die tyrannischen Ansprüche der Zivilmächte – am Rande eines neuen „Investiturstreits“6 . Der Heilige Stuhl appelliert daher nicht nur an die Staaten, sondern beschwört vor allem eine Weltmoral. Er hofft, dieser in der Politsphäre Geltung verschaffen zu können, damit die Werte der christlichen Anthropologie in den internationalen Foren vertreten sind.
Im Gegensatz zur Einschätzung des amerikanischen Politologen Samuel P. Huntington, der von einem unvermeidbaren „Kampf der Kulturen“ ausgeht, bemüht sich der Heilige Stuhl darum, die religiöse Identität der Völker sowie die Kommunikation und Interaktion zwischen verschiedenen Kulturen einzusetzen, um mögliche Religionskonflikte zu entschärfen.
Die neue Dialogbereitschaft
DIE Absicht des Vatikans, der modernen Welt ein spirituelles und moralisches Bewußtsein einzuhauchen, kommt auch in der wachsenden Bedeutung zum Ausdruck, die er dem Dialog zwischen den großen Religionen beimißt. Daneben hat der Vatikan auf unzähligen internationalen Treffen Stellung zu so grundsätzlichen Problemen bezogen wie der Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer, der Emigration, den humanitären Aktionen, der atomaren Abrüstung, der Waffenproduktion und dem Waffenhandel, der Ökologie – und sowohl gegen einen „übersteigerten Nationalismus“ wie gegen den „ungezügelten Kapitalismus“. Die Amerika-Synode, die im November und Dezember 1997 im Vatikan stattfand, stellte den Versuch einer Positionsbestimmung bezüglich der zukünftigen wirtschaftlichen und politischen Integration Nord- und Südamerikas dar – dem Kontinent, auf dem die Hälfte der Katholiken der Welt lebt. Ziel des Treffens war es, die kritische Rolle der Kirche neu zu fassen, ohne sich länger von der Angst vor dem Kommunismus bestimmen zu lassen, die den Vatikan noch 1984 dazu bewogen hatte, die Befreiungstheologie zu verurteilen. Diesmal sollte geklärt werden, ob die Kirche die Thesen jener Theologen billigt, die den Kapitalismus und die Marktwirtschaft befürworten – was ihr den Status einer Art Rotes Kreuz geben würde –, oder ob sie sich im Gegenteil dafür entscheidet, wieder den Platz an der Seite der Armen einzunehmen. Das Ergebnis dieser Diskussionen dürfte erst Ende 1998 oder Anfang 1999 bekannt werden, wenn Johannes Paul II. nach Mexiko reisen wird.
Obwohl der Kirche – die mit ihren insgesamt 980 Millionen Gläubigen 18 Prozent der Menschheit vertritt – das Konzept der Globalisierung im wörtlichen Sinn nicht unbekannt ist7 , geht es dem Heiligen Stuhl in erster Linie um die Völker, und nicht so sehr um Regierungen: „Wenn ein Volk leidet, verhandelt der Heilige Stuhl – selbst auf die Gefahr, nicht verstanden zu werden – mit all jenen, die in der Lage sein könnten, die Leiden dieses Volkes zu lindern“, versichert Monsignore Sodano und erinnert an den Druck, den der Heilige Stuhl in Vergangenheit und Gegenwart ausgeübt hat, um die Aufhebung der gegen Kuba, den Irak, Libyen, Nicaragua und Serbien verhängten Embargos zu erwirken.
Der Vatikan erprobt auf diese Weise seine Möglichkeiten, die im internationalen Recht etablierten Spielregeln zu durchbrechen. Er bemüht sich, eine ethische Dimension einzubringen, die die zivile Gesellschaft unterstützt, sie vor den Strategien der wirtschaftlichen und politischen Großmächte schützt und die Unfähigkeit der internationalen Organisationen ausgleicht, ebendiese Mächte zu kontrollieren.8 Kuba, dem der Papst vom 21. bis 25. Januar einen Besuch abstattet, veranschaulicht gut das Dilemma, in dem sich die katholische Kirche befindet, und die eigenständige politische und symbolische Rolle, die sie zu spielen gedenkt (siehe den Artikel von André Linard auf Seite 9). Es geht nicht um die Haltung, die der Papst gegenüber der Regierung von Staatschef Fidel Castro einnehmen wird. Denn der Heilige Stuhl hatte 1959 trotz des starken Drucks der Vereinigten Staaten seine diplomatischen Beziehungen mit der Revolutionsregierung aufrechterhalten – seinem Prinzip treu bleibend, den Völkern, unabhängig vom jeweiligen Regime, Vorrang vor den Staaten einzuräumen. Vielmehr geht es dem Vatikan darum, aus Anlaß dieses Besuches seine Vorbehalte gegenüber einer gewissen Form der Diktatur des Neoliberalismus sowie seine Verurteilung des Embargos, das auf der kubanischen Bevölkerung lastet, zu bekräftigen.
Es ist nicht das erste Mal, daß der Vatikan zugunsten Kubas interveniert. Im Oktober 1962 hatte Johannes XXIII. mitten in der Kubakrise durch seine Intervention bei John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow dazu beigetragen, einen dritten Weltkrieg mit atomarem Schlagabtausch zu verhindern. Und erst kürzlich, am 19. November 1996, empfing der Papst Fidel Castro – den er dennoch nicht vor Kritik wegen der Einschränkung der religiösen Freiheiten von Katholiken verschonte – und weigerte sich damit, jenen Kardinälen nachzugeben, die als Vorbedingung ein Schuldbekenntnis des kubanischen Staatschefs gefordert hatten. Nun reist der Papst sogar selbst nach Kuba, dem einzigen kommunistisch regierten Land mit katholischer Tradition. Mit derlei Gesten stellt sich der Vatikan hinter das neue politische Programm Havannas (das größere Freiheiten insbesondere in wirtschaftlichen Belangen verspricht), im Gegenzug erhielt er die Zusicherung, daß auf der Insel mehr religiöse Freiheiten zugestanden werden sollen.
Auf diese Weise versucht der Heilige Stuhl, sich von einem Bündnis mit den Großen der neuen Weltordnung abzugrenzen – insbesondere dann, wenn die Schwächsten dafür zu bezahlen haben. Es handelt sich hier um eine politische Umsetzung der Kapitalismuskritik, die der Papst 1991 in der Enzyklika Centesimus annus9 formuliert hatte, selbst wenn der Sozialismus darin wegen seiner Grundprinzipien, der Kapitalismus dagegen nur wegen seiner Auswüchse verurteilt worden war. Während des Golfkrieges im Januar und Februar 1991 hatte Johannes Paul II. nicht gezögert, den Kreuzzug der um die Vereinigten Staaten gescharten Alliierten gegen Saddam Hussein zu kritisieren. Als im vergangenen November Gerüchte über einen neuen Krieg in der Region auftauchten, empfahl der Papst erneut eine diplomatische Lösung und äußerte sich in der Öffentlichkeit betroffen über das Schicksal der irakischen Zivilbevölkerung, die schuldlos unter dem Embargo leidet. Auch hier hat sich die Kirche für die Rolle des „Sprechers der Sprachlosen“ entschieden und bietet einen eigenen Weg innerhalb des klassischen Systems der internationalen Politik an – als eine symbolische Macht gegenüber den realen Mächten. Dies ist einer der Gründe, weshalb die ärmsten Länder Asiens und Afrikas mit Nachdruck vom Heiligen Stuhl fordern, in ihren Regionen Apostolische Nuntiaturen einzurichten. Große Bedeutung mißt die Kirche auch der Pflege diplomatischer Beziehungen mit islamischen oder mehrheitlich islamischen Staaten bei, in denen die christlichen Gemeinschaften Minderheiten bilden oder fast verschwunden sind und sich zumeist in einer schwierigen Situation befinden.
Neben den bereits bestehenden Beziehungen zu den meisten muslimischen Staaten in Asien (Pakistan, Bangladesch, Indonesien), in Afrika (Sudan, Nigeria), dem Mittelmeerraum und dem Nahen Osten (Türkei, Libanon, Ägypten, Tunesien, Algerien, Marokko, Iran, Irak) hat der Heilige Stuhl 1997 auch Beziehungen mit Libyen aufgenommen. Die Aufgabe der Vertreter des Papstes ist es in erster Linie, den Dialog zwischen Islam und Christentum zu fördern und Brücken zu schlagen zwischen den beiden kulturellen Welten, die sich lange fremd, wenn nicht sogar feindlich gegenüberstanden. Zusätzlich sollen sie auf die Verankerung der religiösen Freiheit in der Gesetzgebung dieser Staaten hinwirken, besser noch auf die Ablösung konfessioneller und fundamentalistischer durch laizistische Modelle, in denen Kirche und Staat getrennt sind. Das Schlußdokument der libanesischen Synode, die im Dezember 1995 in Rom stattfand und deren Tendenz der Papst bei seiner Reise nach Beirut im Mai 1997 deutlich machte, ist bezeichnend für das Festhalten des Heiligen Stuhls am Anspruch, ein Modell von einer pluralistischen Gesellschaft zu entwerfen, das auf den gesamten Nahen Osten und Mittelmeerraum übertragen werden könnte.
Ex oriente lux
GEGEN Ende des Pontifikats von Johannes Paul II. läßt sich der Graben zwischen dem Papst mit seinem politischen Gespür und dem ihn umgebenden Zentralapparat mit seiner pedantischen Bürokratie kaum mehr übersehen. Der Kurie ist eine eigene Strategie abhanden gekommen. Das äußerte sich beispielsweise im ungeschickten Vorpreschen bei der Anerkennung der neuen souveränen Staaten des ehemaligen Jugoslawien, wo der ansonsten bedächtig handelnde Heilige Stuhl der internationalen Gemeinschaft um Längen voraus war.
Eine Diplomatie, die sich in einem Dauerkonflikt zwischen politischer und symbolischer Ebene, zwischen Realpolitik und missionarischem Eifer befindet, muß zwangsläufig zu Frustration, Reibungsverlusten und gelegentlich auch zur Fehleinschätzung von Entwicklungen führen. Während der slawische Papst den Einbruch des „ungezügelten Kapitalismus“ verurteilt, der in den ehemaligen kommunistischen Staaten die moralischen Werte zerstöre, stößt die römische Kirche gleichzeitig in die Bresche vor, die sich durch den Zusammenbruch der Sowjetunion eröffnet hat. So konnte der Heilige Stuhl der Versuchung nicht widerstehen, die Zahl seiner diplomatischen Vertretungen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zu vergrößern, obwohl er damit die ökumenischen Beziehungen zur orthodoxen Kirche aufs Spiel setzte. In den sieben Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer hat sich der Vatikan beeilt, sechs Nuntiaturen im Osten zu errichten und die Religionsfreiheit seiner Anhänger durch bilaterale Abkommen mit den betreffenden Staaten möglichst gut abzusichern. Entgegen allen Gepflogenheiten hat Rom ohne vorherige Beratung und Information in Moskau, Sibirien und Kasachstan Bischöfe ernannt und damit dem konservativsten Flügel des orthodoxen Klerus Argumente zur Kritik am Bekehrungseifer der römisch-katholischen Kirche in Rußland geliefert.
Die gleichzeitig von einflußreichen katholischen Gruppen in der orthodoxen Welt durchgeführten Aktivitäten bestärkten die Orthodoxen in ihren Befürchtungen. Sie sahen sich regelrechten Bekehrungskampagnen gegenüber, die laut den zwischen beiden Kirchen ausgearbeiteten ökumenischen Leitlinien eigentlich verboten sind.
Den Vatikan kamen diese Operationen teuer zu stehen: Seine politische Stärke erwies sich als Bumerang und beeinträchtigte die Beziehungen zum Moskauer Patriarchat. In der russischen Kirche kamen durch den deplazierten Missionierungsfeldzug alte zaristische Denkweisen wieder zu Ehren, die noch auf das im westfälischen Frieden festgelegte Prinzip Bezug nehmen: Cuius regio, eius religio.10 Das für Juni 1997 in Wien geplante Gipfeltreffen zwischen Johannes Paul II. und dem Moskauer Patriarchen Alexis mußte daraufhin verschoben werden. Vor allem aber wurde in der Staatsduma ein Gesetz über „Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen“ beschlossen, das die Freiheiten jeder anderen als der christlich-orthodoxen Religion einschränkt; daran konnte auch die persönliche Intervention von Johannes Paul II. bei Boris Jelzin nichts ändern.
In den meisten ehemals kommunistischen Ländern begnügte sich der Heilige Stuhl nicht damit, Nuntiaturen einzurichten und offizielle Beziehungen mit der jeweiligen Regierungsmacht aufzunehmen. Er setzte sich gleichzeitig für die systematische Rückerstattung der Kirchengüter ein, die von den kommunistischen Regimes konfisziert worden waren. Die Regierungen und Parlamente räumten der Kirche auch oft vorteilhafte Bedingungen für die Seelsorge in Krankenhäusern, Haftanstalten und in der Armee ein. In den Schulen wurden wieder Religionsstunden eingeführt, und die staatlichen Medien nahmen religiöse Sendungen in ihre Programme auf. Um diese Vorteile dauerhaft zu sichern, unterzeichnete der Vatikan mit manchen Staaten regelrechte Konkordate und nahm dafür in Kauf, als eine Institution zu erscheinen, der es in erster Linie um die Wiederherstellung ihrer christlichen Ordnung geht.
Diese Politik fand nicht bei allen katholischen Kirchenmännern in Osteuropa Anklang. So erinnerte der Erzbischof von Prag, Monsignore Vlk, eine Symbolfigur der katholischen Opposition gegen das ehemalige Regime, laut und deutlich daran, daß die kommunistische Ära seiner Kirche einen Prozeß der Reinigung ermöglicht und ihr geholfen habe, den Sinn für die Armut wiederzufinden. Er wies auch wiederholt darauf hin, daß die Rückerstattung des kirchlichen Immobilienbesitzes nicht seine wichtigste Sorge sei, trotz allen Drängens des Vatikans.
Angesichts solcher Konflikte ließen manche hochgestellten Kardinäle in Rom offen den Wunsch erkennen, die politische Struktur der Kirche zugunsten eines effizienteren geistlichen Wirkens aufzugeben. Die Neudefinition der Rolle und der Aufgaben des Bischofs von Rom (also des Papstes) könnte Aufgabe des Nachfolgers von Johannes Paul II. sein. Der Papst selbst hat dies gegenüber anderen christlichen Kirchen bereits 1995 in einer Enzyklika über die Einheit der Christen angeregt. Eine solche Reform, sollte sie tatsächlich in Angriff genommen werden, hätte beträchtliche Auswirkungen auf die Macht Roms und seiner Kurie, und insbesondere auf deren Möglichkeit, auf diplomatischer und internationaler Ebene einzugreifen. So könnte es früher oder später dazu kommen, daß von einer Politik des Vatikans nur mehr gesprochen werden kann, wenn es um die Religionsfreiheit geht, die nach wie vor eine der wichtigsten Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils darstellt. Gerade auf die Religionsfreiheit beruft sich der Heilige Stuhl in seinen Beziehungen zu Israel, die im Grundsatzabkommen vom 30. Dezember 1993 definiert wurden.11 Ziel dieses Abkommens war es, der katholischen Kirche einen Status zu verleihen, der es jeder Person, die dies wünscht, ermöglicht, mit allen Rechten gleichzeitig Katholik und Israeli zu sein. Am 10. November 1997 wurde mit der Unterzeichnung eines Abkommens, in dem der juristische Charakter der katholischen Einrichtungen festgelegt ist, ein wichtiger Schritt in diese Richtung getan. Der israelische Staat hat darin erstmals die Existenz einer institutionellen Ordnung auf seinem Territorium anerkannt, die ihre Legitimität aus einer anderen Quelle bezieht, nämlich dem kanonischen Recht der katholischen Kirche. Gleichzeitig hielt der Papst an seiner Forderung nach einem internationalen Status für Jerusalem fest. Darüber hinaus basiert die diplomatische Anerkennung des israelischen Staates durch den Vatikan auf einer laizistischen Grundlage, die den religiösen Charakter der Bindung des hebräischen Volkes an „seinen“ Boden nicht anerkennt.
Der Versuch des Vatikans, seine Politik weltweit den neuen Gegebenheiten anzupassen, zwingt ihn zur Aufgabe seiner bisherigen eurozentristischen Haltung.12 Damit die virtuelle Universalität des Katholizismus Realität werden kann, bedarf es allerdings dringend weiterer Reformen. Die größte Herausforderung für den Heiligen Stuhl stellt in dieser Hinsicht Asien dar. Außer auf den Philippinen ist die Kirche in diesem neuen demographischen, ökonomischen und politischen Gravitationszentrum nur schwach vertreten. Das erklärt, warum sie dem Dialog mit den Jahrtausende alten Religionen Asiens strategischen Vorrang einräumt und sich in der Chinafrage politisch engagiert.
Kardinal Angelo Sodano bezieht dazu eine klare Position: Der Heilige Stuhl ist bereit, seine traditionelle Unbeugsamkeit gegenüber der patriotischen chinesischen Kirche – die der Regierung nahesteht und als einzige offiziell von Peking anerkannt wird – pragmatisch zu lockern, um eine Wiederherstellung des freien Austausches zwischen Rom und den chinesischen katholischen Gemeinschaften zu ermöglichen, die rund zehn Millionen Gläubige zählen. Der Vatikan beabsichtigt, die diplomatischen Beziehungen zu Peking wiederaufzunehmen und den chinesischen katholischen Gemeinschaften gleichzeitig umfassende Autonomie einzuräumen, sofern ihre Verbindung mit dem Bischof von Rom gewährleistet bleibt. Im Gegensatz zu Lateinamerika, wo zur Zeit eine deutliche Abwendung vom Katholizismus stattfindet, sind Afrika und Asien für den Vatikan vielversprechende Kontinente. Die Irrtümer der Vergangenheit haben eine hohen Tribut gefordert, und der Heilige Stuhl hat die Lehren daraus gezogen. Die Weigerung, die chinesische Variante des Christentums anzuerkennen, hat die Verankerung der katholischen Kirche in diesem Land lange Zeit behindert.13
Wird die katholische Kirche in der Lage sein, sich auf eine Kultur und ein System einzustellen, die so fern sind von der westlichen Tradition, der die Kirche seit Jahrhunderten angehört? Ihre Präsenz ist dort nur in einem völlig neuen institutionellen und politischen Rahmen vorstellbar. Der römisch-katholische Apparat wird also gezwungen sein, eine Vielfalt an Formen kirchlichen und religiösen Lebens zuzulassen sowie einen Status zu akzeptieren, der sich vom westlichen deutlich unterscheidet.
Die Frage, ob der Vatikan in der Lage sein wird, sich einer solchen Situation anzupassen, ist jedoch offen.14 Weder der Stil der Amtsführung Johannes Paul II. noch der Inhalt seiner geistigen Lehre sind dazu angetan, ihm außerhalb der römisch- katholischen Kirche westlicher Prägung einen Durchbruch zu ermöglichen. Ein Zeichen für diese starre Haltung ist das völlige Unverständnis Roms gegenüber einer neuen Generation asiatischer Theologen, die sich in die Tradition der Befreiungstheologie stellen. So hat sich der Theologe Tissa Balasurya aus Sri Lanka mit seiner originellen Interpretation der Marienfigur als „starker Frau aus dem Volk, die sich an der Seite ihres Sohnes im Kampf für Frieden und Gerechtigkeit engagiert“, den Zorn des Vatikans zugezogen.15 Zur Strafe für diese Kühnheit wurde er im Januar 1997 exkommuniziert, nach einem Prozeß, in dem sich die römischen Zensoren als ausgesprochen autoritär und unnachgiebig erwiesen.
Ob der Medienrummel um den unablässig die Welt bereisenden Papst genügen wird, um den Herausforderungen zu begegnen, die sich ihm auf seinem Pilgerweg immer zahlreicher stellen werden, scheint sehr fraglich. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend hätte eine Neubetrachtung der „kulturellen“ Botschaft der katholischen Kirche zweifellos größere Wirkung gezeigt.
dt. Birgit Althaler
* Journalist (Rom) und Schriftsteller, Autor von „Der Nachfolger“, Düsseldorf (Patmos) 1997.