Die iranische Zivilgesellschaft verlangt den politischen Aufbruch
IN Teheran stehen die Zeichen auf Veränderung. Das läßt sich sowohl daran erkennen, daß der iranische Staatspräsident Mohammad Chatami beim Gipfeltreffen der Islamischen Konferenz (OIC) am 9. Dezember zum Dialog mit den Vereinigten Staaten aufgerufen hat, wie auch an der Aussöhnung des Iran mit den arabischen Monarchien am Golf, insbesondere mit Saudi-Arabien. Überdies ist die außenpolitische Öffnung von einer Politik der Entspannung im Inneren begleitet, auch wenn sich Ajatollah Ali Chamenei, der geistliche Führer der Islamischen Republik, dieser Entwicklung entgegenstellt.
Von AZADEH KIAN-THIEBAUT *
Am 21. Oktober 1997, fünf Monate nach den Präsidentschaftswahlen, versammelten sich mehrere tausend Studenten und junge Leute zu einer Demonstration in der Universität von Teheran. Aufgerufen hatte die Islamische Studentenvereinigung, deren Vorsitzender Heschmatollah Tabarsadi nun öffentlich erklärte, mit dieser politischen Kundgebung sollten die Meinungs- und Pressefreiheit und politischer Pluralismus erlangt werden. Immer wieder betonte er, er unterstütze Staatspräsident Mohammad Chatami, damit dieser „sein Versprechen erfüllt, den Rechtsstaat institutionell abzusichern und die Zivilgesellschaft zu stärken“.
Tabarsadi war früher als militanter Fundamentalist und glühender Anhänger des Revolutionsführers bekannt. (Der Revolutionsführer ist der ranghöchste Vertreter der Staatsmacht, auch der Präsident untersteht ihm; zur Zeit hat dieses Amt der Ajatollah Ali Chamenei inne.) 1996 vollzog Tabarsadi jedoch einen radikalen Kurswechsel. Damals wurde die studentische Wochenzeitung Payam-e Daneschju (Botschaft der Studenten), deren Chefredakteur er war, unerwartet mit einem Publikationsverbot belegt, nachdem sie die Existenz eines weitgespannten Korruptionsnetzes aufgedeckt hatte, dessen Schlüsselfiguren den Traditionalisten nahestanden. Heute warnt der enttäuschte Islamist Tabarsadi in seiner Rede vor den Demonstranten vor den Gefahren, die seiner Ansicht nach dem gewählten Präsidenten drohen. Damit meint er in erster LInie die illegalen Machenschaften bestimmter Aktivistengruppen aus dem Lager des Parlamentspräsidenten Ali Akbar Nateq Nuri, der als Kandidat für das Präsidentenamt gegen Chatami angetreten war und verloren hatte: „Daß diese Gruppen so mächtig sind und nicht zur Rechenschaft gezogen werden, liegt daran, daß der Revolutionsführer sie deckt. Ihre Macht geht so weit, daß sie Maßnahmen der Regierung unterlaufen oder unwirksam machen können.“1
Der junge Studentenführer zweifelt also an der Legitimität der Macht des geistlichen Führers; er verweist auf Schwächen der Verfassung und kritisiert die verfälschende Auslegung, die von manchen betrieben wird; dann nennt er ganz offen seine eigenen Zielvorstellungen: „Wir fordern, daß der Führer in allgemeiner und direkter Wahl bestimmt wird, daß seine Amtszeit begrenzt und seine Vorrechte deutlicher festgelegt werden und daß er künftig dem Parlament gegenüber verantwortlich ist.“
Diese Position, die von der Mehrheit der Iraner geteilt wird, ist ein Zeichen für den heftigen Machtkampf, der nach der demütigenden Niederlage der Traditionalisten bei den Präsidentschaftswahlen am 23. Mai in Teheran ausgebrochen ist. Mit Tabarsadis Äußerungen vor den Demonstrationen geriet diese Grundsatzdiskussion über die Stellung des geistlichen Oberhaupts, die bislang den Religionsgelehrten (Geistliche oder Intellektuelle) vorbehalten war, nun auch an die Öffentlichkeit. Die Traditionalisten reagierten sofort: In einer öffentlichen Stellungnahme vom 10. November übte eine Reihe von Mitgliedern der Gesellschaft der Lehrenden an der geistlichen Schule in Qom Kritik an „jenen, die die Stellung und die Macht des Führers der Revolution in Frage stellen und damit die Grundlage der islamischen Herrschaft“. Seither finden immer neue Kundgebungen der Anhänger einer absoluten Machtposition des geistlichen Oberhaupts statt.
Der Großajatollah Hossein Ali Montaseri, wichtigster Theoretiker der Staatsideologie des welayat-e faqih2 , der als Kronprinz von Ajatollah Chomeini galt, bis er wegen seiner Kritik an den Massenhinrichtungen von 1988 unter Hausarrest gestellt wurde, hat – ebenso wie der Ajatollah Asari Qomi – den gegenwärtigen Religionsführer öffentlich der fehlenden Kompetenz in Religionsfragen bezichtigt und grundsätzlich dessen Anspruch auf uneingeschränkte Autorität bestritten. Beide Gelehrten kommt das teuer zu stehen: Sie werden auf Kundgebungen regelmäßig heftig angegriffen und mit dem Tode bedroht. Der religiöse Führer selbst hat gefordert, sie vor ein Sondergericht der Geistlichkeit zu stellen.
Es ist bekannt, daß auf Veranlassung des religiösen Führers vor den Präsidentschaftswahlen die Mitglieder der Gesellschaft der Lehrenden an der geistlichen Schule von Qom, dreißig namhafte Gelehrte, aufgefordert wurden, sich öffentlich für einen Kandidaten auszusprechen. Einige von ihnen, die diese Einmischung der Geistlichkeit in die Politik mißbilligten, weigerten sich jedoch, an der Versammlung teilzunehmen, die zu diesem Zweck einberufen wurde. So erklärte etwa der als sehr konservativ bekannte Großajatollah Fasl Lankarani, die iranische Nation sei erwachsen und brauche keinen Vormund, der ihr die Entscheidung abnehme. Dennoch gaben schließlich vierzehn Religionsgelehrte vor der Presse bekannt, die Schule von Qom unterstütze den Kandidaten Nateq Nuri.
Unter den übrigen Gelehrten löste dieses Vorgehen einen Sturm der Entrüstung aus. Ajatollah Karimi erklärte, er lehne den Kandidaten der Traditionalisten ab, und veröffentlichte eine Liste mit den Namen der geistlichen Lehrer, die seinen Standpunkt teilten. „Wer so tut, als sei keines der dreißig Mitglieder gegen Nateq Nuri, vergißt, daß auch die Ajatollahs Fasl, Makarem, Amini, Massudi, ich selbst und einige andere dieser Gesellschaft angehören.“ Trotz der Vermittlungsversuche einiger Geistlicher hat die Gesellschaft der Lehrenden – und damit die gesamte Schule von Qom – diesen Vorfall noch immer nicht überwunden.
Seit den Präsidentschaftswahlen haben sich die Konflikte innerhalb der politischen und religiösen Führung verschärft. Während sich die Anhänger der religiösen Autokratie an den Status quo klammern, um nach ihrer Niederlage nicht den Einfluß auf die Gesellschaft zu verlieren, sind die siegreichen Reformisten der Überzeugung, daß sich das Regime einer tiefgreifenden Veränderung unterziehen muß, damit sie an der Macht bleiben – und diese Auffassung ist berechtigt: Mit überwältigender Mehrheit (70 Prozent der Stimmen, bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent) haben sich die Iraner für eine Öffnung zur Modernität ausgesprochen, indem sie einen Religionsgelehrten wählten, der im Wahlkampf auf die Zivilgesellschaft setzte und sich für den Rechtsstaat stark machte. Das bedeutet eine Absage an das Gesellschaftskonzept der Traditionalisten, die dem geistlichen Oberhaupt das Recht zugesteht, „über die Vorstellungen, Gedanken und das Verhalten der Menschen zu urteilen“.
Indem er die Zivilgesellschaft zur einzigen Quelle der politischen und religiösen Legitimität erklärt, macht Präsident Mohammad Chatami deutlich, daß er die Rolle der Wahlen im politischen System der 1979 errichteten Islamischen Republik stärken und der autokratischen Komponente weniger Gewicht beimessen will. Seinen Wahlsieg, den seine Anhänger als „zweite Revolution“ bezeichnen, verdankt der neue Präsident der Tatsache, daß er ebenso wie die religiösen Intellektuellen und die modern eingestellten Geistlichen3 den Islam und die Moderne zu versöhnen versucht. Deshalb war in seinem Wahlprogramm nicht nur von islamischer Sittlichkeit und von Glauben die Rede, sondern ebenso von der Durchsetzung des Pluralismus und der persönlichen und sozialen Freiheitsrechte, der Achtung der Menschenrechte, oder auch von der Einführung der Pressefreiheit.
Die Zivilgesellschaft hat durch ihre Wahlentscheidung ihre Mündigkeit bewiesen – und zwar sowohl gegenüber den Traditionalisten, die die Unterstützung des religiösen Führers genießen und bei jeder Gelegenheit Mohammad Chatami als „Liberalen“ beschimpft und dazu aufgerufen hatten, ihn nicht zu wählen, wie auch gegenüber den Regimegegnern im Ausland, die in seltener Einmütigkeit zum Wahlboykott aufgerufen hatten. Die Bevölkerung hat diese Wahl genutzt, um ihren Willen auszudrücken, sie ist sich ihrer Stärke bewußt geworden und hat eine politische Reife gezeigt, die nicht nur im Iran für viele überraschend kam.
Wenn ihr Einfluß auf Legislative und Exekutive auch geschwunden ist, bleibt den Traditionalisten doch die Justiz, deren höchster Beamter vom Religionsführer bestimmt wird. Und als eingefleischte Inquisitoren treten sie auf dieser Ebene zum Gegenangriff an. So ist dem Bürgermeister von Teheran, Qolam Hossein Karabaschi, das Verlassen des Landes verboten worden; einige seiner engen Mitarbeiter, darunter zwei Bürgermeister von Stadtbezirken in Teheran, wurden kürzlich unter dem Vorwurf der Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder verhaftet und zu Gefängnisstrafen beziehungsweise hohen Geldstrafen verurteilt.
Diese Racheakte beginnen gerade erst, wie auch der Kampf zwischen den verfeindeten Fraktionen. In verschiedenen politischen Institutionen verfügen die Traditionalisten über die Mehrheit, etwa in der Expertenversammlung, die alle acht Jahre in allgemeinen Wahlen bestimmt wird und in deren Zuständigkeit die Ernennung und Absetzung des obersten geistlichen Führers fällt. Der Mangel an Einvernehmen über die religiöse und politische Autorität von Ajatollah Ali Chamenei nährt Gerüchte, daß die nächste Versammlung, die im kommenden Jahr zusammentritt, ihn absetzen und statt dessen Ali Rafsandschani berufen wird. Das würde wiederum erklären, weshalb der frühere Staatspräsident Rafsandschani derzeit für der Erhaltung der Vorrechte des Führers eintritt – er bereitet sich auf dessen Rolle vor.
Außerdem gibt es den Wächterrat, ein zwölfköpfiges Verfassungsorgan, das aus sechs Religionsgelehrten besteht (die vom religiösen Führer ernannt werden) und aus sechs Juristen (die vom Chef der Justiz vorgeschlagen und vom Parlament bestätigt werden). Aufgabe dieses Gremiums ist es, die Übereinstimmung von Gesetzen mit dem Islam und der Verfassung zu prüfen und über die Zulassung von Kandidaten zu den Wahlen zu entscheiden. Daß die Traditionalisten im Wächterrat ihre Macht wiederholt mißbraucht haben und ihr bevorzugter Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen gescheitert ist, hat die Stellung dieser Institution allerdings geschwächt.
Der Rat zur Bestimmung der vorrangigen Interessen der Regierung wurde ursprünglich geschaffen, um den Religionsführer zu beraten und Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Wächterrat und dem Parlament zu schlichten. Bislang hatte der Staatspräsident den Vorsitz in diesem Gremium innegehabt, aber Präsident Chatami muß darauf verzichten, weil er einem Verfahrenstrick der Traditionalisten zum Opfer gefallen ist: Einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen ernannte der Religionsführer persönlich Haschemi Rafsandschani für die Dauer von fünf Jahren zum Vorsitzenden des Rates. Im Gegenzug ernannte dieser Mohsen Resaji, einen Erzfeind von Präsident Chatami, zum geschäftsführenden Leiter des Rates. Der Hintergrund dieser Gegnerschaft: Chatami hatte Resaji im Oktober 1997 seines Postens als Oberkommandierender der Revolutionswächter (pasdaran) enthoben. Man kann sich vorstellen, wie sehr nun die Machtbefugnisse und der Aktionsradius dieses Rates erweitert worden sind – unter Mißachtung der Verfassung und der Autorität des gewählten Staatspräsidenten.4
Diese Fraktionskämpfe sind so bedeutend, weil von ihrem Ausgang die Zukunft der iranischen Gesellschaft abhängt: Diese Auseinandersetzungen sind nicht zu vermeiden, und niemand weiß, wie sie ausgehen werden. Der Freiraum, den Präsident Chatami nutzen konnte, ist eine Errungenschaft der Zivilgesellschaft – aber noch ist nicht geklärt, ob sie ihn auch gegen die Traditionalisten wird verteidigen können, die sich überall in die Defensive gedrängt sehen und entschlossen sind, den Kampf aufzunehmen. Ein genauerer Blick auf die Wahlergebnisse vom Mai 1997 kann bei dieser Frage weiterhelfen.
238 Bewerber, darunter acht Frauen, hatten sich zur Wahl stellen wollen, aber nur vier von ihnen ließ der Wächterrat zu. Zwei von ihnen waren reine Statisten: Mohammad Reyschahri, Gründer einer „Gesellschaft zur Verteidigung der Werte der Islamischen Revolution“ und früherer Minister für die Geheimdienste und Sicherheitsorgane, der in der Bevölkerung als der „Schlächter von Teheran“ bekannt ist, weil er die Standgerichte gegen Regimegegner durchführte, und sein früherer Stellvertreter Resa Savarei. Beide waren völlig diskreditiert, ihr Anteil an den abgegebenen Stimmen betrug 2,4 beziehungsweise 2,2 Prozent.
Die Entscheidung konnte nur zwischen den Kandidaten Ali Akbar Nateq Nuri und Mohammad Chatami fallen. Daß Chatami gesiegt hat, lag daran, daß er nicht nur die Stimmen der islamischen Linken und der modernitätsorientierten Rechten bekam, sondern darüber hinaus die der Frauen5 , der Jungwähler und der weltlichen wie religiösen Intellektuellen (unter anderem stimmten fast dreitausend Studenten der Religionshochschulen für ihn). Sie alle sahen in ihm einen Hoffnungsträger, weil er als Minister für Kultur und islamische Fragen (bis er 1992 zum Rücktritt gezwungen wurde) eine pluralistische Politik durchzuführen versucht hatte.
Die Frauen und die Jungwähler (deren Forderungen in der iranischen Politik schwerer wiegen denn je) betrachteten Nateq Nuri und seine Anhänger als eine Art „afghanische Taliban“ – und sie taten ihr mögliches, um den Sieg dieses radikalislamischen Kandidaten zu verhindern. Da das Wahlalter unter dem islamischen Regime auf sechzehn Jahre gesenkt worden ist, spielten die Jungwähler eine entscheidende Rolle – 65 Prozent der Bevölkerung sind weniger als 24 Jahre alt.
Die Entscheidung der zivilen Gesellschaft, und gerade der jungen Iraner, für den Präsidentschaftskandidaten Chatami wurde selbst in den Reihen der Sicherheitskräfte deutlich, deren ideologische Ausrichtung kein Geheimnis ist: Zahlreiche junge Revolutionswächter (pasdaran) der unteren Ränge ebenso wie basij (Freiwillige) verfaßten Petitionen und schickten Telegramme, um öffentlich kundzutun, daß sie anderer Meinung waren als ihre Führung.
Daß der Wunsch nach einer Öffnung zur Moderne in allen Schichten der Gesellschaft zum Ausdruck kommt – in den Städten ebenso wie unter der Landbevölkerung –, liegt an den tiefgreifenden sozialen Veränderungen, die von der Islamischen Revolution bewirkt wurden. 61 Prozent der iranischen Bevölkerung leben heute in den Städten – mit allen Folgen, die sich daraus ergeben. So können nach der letzten verfügbaren Statistik (von 1991) heute 65 Prozent der Frauen lesen und schreiben, 1976 waren es nur 28 Prozent. Zugleich ist in diesem Zeitraum die Geburtenrate zurückgegangen: Eine iranische Frau bringt jetzt durchschnittlich 3,5 Kinder (statt 7,2) zur Welt.6 Durch die Modernisierungsprogramme, die der Landflucht entgegenwirken sollten, sind viele Dörfer mit Strom, Trinkwasser, Straßen und Schulen versorgt worden – so daß auch der Unterschied zwischen Stadt und Land allmählich geringer geworden ist.
Nach der massiven Alphabetisierung und Elektrifizierung auf dem Land haben sich die Bauern Radio- und Fernsehgeräte gekauft, auch die Presse ist dort inzwischen erhältlich. Gerührt berichtet eine Bibliothekarin in der Provinz, daß seit einigen Jahren auch Bauern und Schäfer zu den Besuchern der Bibliothek gehören. Es ist also nicht verwunderlich, daß auch die Dorfbewohner, als sie im Mai 1997 zu den Wahlurnen gingen, die Wahlprogramme der Kandidaten gelesen und darüber diskutiert hatten.
Direkt nach dem Wahlsieg dankte Präsident Chatami besonders den Frauen, den jungen Iranern und den Intellektuellen für ihre kräftige Unterstützung. Seine Wahlversprechen hat er seither wiederholt bekräftigt: Einrichtung rechtsstaatlicher Institutionen und eines Mehrparteiensystems, Meinungsfreiheit, Anerkennung der Rolle der Intellektuellen, Zugang der Frauen zu leitenden Stellungen in der Politik und im höheren Staatsdienst und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen. Falls sich die Traditionalisten den Reformen entgegenstellen sollten, die von der Bevölkerungsmehrheit gewünscht werden, will Chatami sich an das Volk wenden.7 Der neue Präsident nimmt also die Herausforderung seiner Gegner an und stützt sich dabei auf die Bevölkerung.
Der Erfolg des neugewählten Präsidenten hat eine wachsende Zahl unabhängiger Abgeordneter im Parlament dazu bewogen, ihn zu unterstützen – die Unabhängigen verfügen über sechzig Sitze, das entspricht 23 Prozent. Damit haben sich die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Reformkräfte verschoben. Trotz heftiger Attacken der Traditionalisten gegen einige Mitglieder der von Chatami ernannten Regierung – vor allem gegen Innenminister Abdollah Nuri (islamische Linke), den Minister für Kultur und islamische Lenkung, Ajatollah Mohadscherani, und gegen Außenminister Kamal Charasi (den früheren iranischen UN-Botschafter) – hat das islamische Parlament daher die Kabinettsliste unverändert gebilligt.
Nuri und Mohadscherani erhielten bei der Vertrauensabstimmung sogar 60 Prozent der abgegebenen Stimmen. Erstmals wurden die Beratungen im Parlament vom nationalen Fernsehen live übertragen, so daß die Iraner einige besonders leidenschaftlich geführte Debatten mitverfolgen konnten, etwa den Auftritt von Kulturminister Mohadscherani, der heftige Kritik an der repressiven Politik seines Vorgängers übte, nachdrücklich für kulturelle Vielfalt eintrat und dazu aufforderte, Künstlern und Intellektuellen mehr Achtung entgegenzubringen.
Im neuen Kabinett, dem auch einige Minister angehören, die bislang in der Öffentlichkeit unbekannt sind, haben Chatamis Anhänger aus der islamischen Linken oder der modernitätsorientierten Rechten die Schlüsselministerien inne. Eine Ausnahme bildet das Ministerium für Sicherheit und Geheimdienste: es wird von Hodschatoleslam Qorbalani Dorri Nadjafabadi geführt, der offiziell zum gegnerischen Lager gehört, aber unter den Traditionalisten als Liberaler gilt. Seine gemäßigte Haltung war während des Wahlkampfs nicht zu übersehen.
Bruch mit dem politischen Islam
BISLANG gehört der Regierung keine Frau an. Der Präsident erklärte dazu, die Fachkompetenz sei als Auswahlkriterium wichtiger als das Geschlecht, jedoch schuf er neue Stellvertreterposten in den Ministerien und vergab einige davon auch an Frauen. Zum ersten Mal ist eine Frau zur Stellvertreterin des Ministerpräsidenten und zur Verantwortlichen für den Umweltschutz ernannt worden: Massumeh Ebtekar, eine 36jährige Immunologin, Dozentin an der Universität Tarbiyat-e Moddares und Mitherausgeberin der Frauenzeitschrift Farsaneh. Ihr Ressort ist zwar sicherlich nicht sehr wichtig, dennoch bedeutet diese Ernennung einen erheblichen Fortschritt.
Massumeh Ebtekar spricht fließend Französisch und Englisch und gibt sich als moderne und gemäßigte Muslimin; wie alle Frauen in ihrer Familie und unter ihren Bekannten trägt sie lieber ein Kopftuch als den Tschador. Die ersten Schuljahre erlebte sie in den USA, wo ihr Vater promovierte, später besuchte sie das amerikanische Gymnasium in Teheran. Massumeh Ebtekar hat eine aktive Rolle in der Vorbereitung der Internationalen Frauenkonferenz in Peking 1995 gespielt. All das führte natürlich zu großer Empörung bei den Traditionalisten, die sich ihrer Ernennung erbittert widersetzten. Immerhin mußte sich die erste iranische Vizepräsidentin bereit finden, den Tschador zu tragen, um ihren Widersachern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Einige Monate später wurde dann Sahra Schodschaji, eine islamische Frauenrechtlerin, zur Beraterin des Präsidenten in Frauenfragen bestimmt.
In offenem Gegensatz zu den Vorstellungen des Religionsführers hat Präsident Chatami wiederholt seine Absicht erklärt, den Iran aus der politischen Isolation herauszuführen, und ist für den Dialog zwischen den Kulturen eingetreten. Der neue Präsident setzt vor allem auf die Normalisierung der Beziehungen zu den Golfstaaten und zur Europäischen Union. Die Durchführung des Gipfels der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) in Teheran im Dezember 1997 wie auch die Öffnung gegenüber den Vereinigten Staaten sind zweifellos deutliche Zeichen für diesen politischen Kurswechsel.
Innen- wie außenpolitisch steht gleichermaßen viel auf dem Spiel. Eine Fortsetzung der Politik der Isolation von seiten der USA würde zweifellos das Lager der religiösen Autokratie stärken und der Einrichtung eines Rechtsstaats im Wege stehen. In den Kämpfen, die im Augenblick in Teheran ausgefochten werden, geht es ja auch um das Ende der Unantastbarkeit der Staatsdoktrin und den Beginn einer freien demokratischen Debatte. Daß die Zivilgesellschaft sich so eindeutig für den Präsidenten Chatami ausgesprochen hat, zeigt eine Abkehr vom politischen Islam und seinen Parteigängern an. Unbestreitbar bedeutete die Regierung von Präsident Haschemi Rafsandschani einen wichtigen Meilenstein auf diesem Weg, aber ohne den Beitrag laizistischer Intellektueller wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen. Einige von ihnen, wie die Schriftsteller Saidi Sirjani und Amir Alaji haben ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt.
Wollen die USA, vierundvierzig Jahre nach dem Sturz der demokratischen Regierung von Mohammad Mossadegh, den sie zu verantworten haben, wirklich riskieren, daß jede Hoffnung auf Demokratie im Iran untergraben wird?
dt. Edgar Peinelt
* Forscherin am Nationalen Forschungszentrum (CNRS) in Paris